Familiengeschichte

Die Flucht der Armenier auf einem Teppich

Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem osmanischen Reich sitzt im Jahr 1915 in Syrien auf dem Boden.
Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich im Jahr 1915 in Syrien © picture-alliance / dpa / Library of congress
Von Philipp Gessler · 28.09.2016
Der Völkermord an den Armeniern hat die Familie von Silvina Der-Meguerditchian zerstört. Die meisten Familienmitglieder kamen ums Leben. Auf einem "Fluchtteppich", der in der Berliner Akademie der Künste zu sehen sein wird, hat sie die Geschichte ihrer Großeltern festgehalten.
Eine bürgerliche Ecke in Berlin-Charlottenburg, ein schöner, gepflegter Altbau an einem breiten Bürgersteig mit alten Bäumen an einer verkehrsberuhigten Kreuzung. Das Leid der Welt – Flucht, Vertreibung und Tod – sind ganz weit weg. Scheinbar.
"Hallo!"
"Hier ist Philipp Gessler von Deutschlandradio."
"Ja, zwei Stockwerke nach oben bitte."
Die Künstlerin Silvina Der-Meguerditchian steht in der Tür, eine freundliche Frau Ende 40. Mit einem ansteckenden Lachen begrüßt sie den Reporter. Die Frisur ihrer Haare erinnert ein wenig an Frida Kahlo. Man betritt eine Wohnung mit hohen Decken. In einem Erkerzimmer stehen zwei Schreibtische mit großen Computern.
"Das ist das Büro. Und hier ist mein Atelier."
Auf einem großen Tisch liegt ihr "Fluchtteppich", der im Rahmen des Symposiums "Gedächtnis und Gerechtigkeit" der Akademie der Künste in Berlin zu sehen sein wird. Etwa einen Meter breit und anderthalb Meter hoch. Er besteht aus 28 Feldern, die vergrößerte Ausschnitte von Ausweisdokumenten zeigen.
"Das sind die ganzen Flüchtlingsausweise und Dokumente meiner Großeltern, als sie das Osmanische Reich verlassen mussten… Ich habe damals die Geschichte meiner Familie als zum Teil sehr schmerzhaft und mit Unwissen verbunden, auch mit Fragmenten, mit Fetzen von Information. Als ich diese Dokumente gefunden habe, hatte ich das Urbedürfnis, diese Elemente zusammen zu verbinden, in einem Versuch, diese kaputten Lebensgeschichten wieder heil zu machen."

Ihre Großmutter ist auf dem "Fluchtteppich" zu sehen

Der Völkermord des untergehenden Osmanischen Reiches an den Armeniern liegt 100 Jahre zurück – er hat die Familie von Silvina Der-Meguerditchian zerstört. Die meisten Familienmitglieder kamen ums Leben. Eine Großmutter überlebte als junges Mädchen die Deportationszüge. Sie ist auf dem "Fluchtteppich" zu sehen – auf dem Foto ihres Ausweises.
"Sie sieht besonders traurig aus. Da ist sie um die 40, 45. Ich überlege: Ich bin 48 Jahre alt. Sie sieht aus wie eine 70-jährige Frau – in dem Alter, ja."
Überlebende Familienmitglieder flohen nach Aleppo, ins syrische Aleppo:
"Dieses Foto ist von meinem Großvater mütterlicherseits. Das ist von 1924. Das ist mein Großvater und einige von seinen Cousins, die Musik machen: armenische Flüchtlinge in Aleppo. Und 100 Jahre später ist dieser Ort auch zerfallen. Und viele Menschen sind auf der Flucht. Ein Ort, der Zuflucht geboten hat für über eine Million Menschen. Ich denke, da ist die Relevanz."

Ihr Großvater Avedis leitete später in Argentinien, wohin die Familie nach einem Zwischenstopp in Paris auswanderte, die Gruppe Tatul Altunjan. Es war ein Ensemble von armenischen Musikern im Exil. Avedis war ein Meister des Kanun, einer Art orientalischer Zitter.
Silvina Der-Meguerditchian spielte auf einem Computer eine Ballade vor, die ihr Großvater damals aufgenommen hat. Es ist ein melancholisches "Lied des Kämpfers" – und knackt gehörig.

Von Argentinien nach Deutschland

Silvina Der-Meguerditchian hat im Alter von 20 Jahren Argentinien verlassen.
"Als Enkelkind von Migranten bin ich selber Migrantin geworden, indem ich nach Deutschland gekommen bin. Da hat sich immer diese Frage gestellt: Woher ich komme, wer ich bin, wo gehöre ich hin?"
"Fluchtteppich" – Silvina Der-Meguerditchian versucht, Schicksale künstlerisch zu verarbeiten, die eines gemeinsam haben: Heimatverlust, himmelschreiendes Unrecht.
"Es wurde versucht, diese Nation auszulöschen - mit auch die Identität meiner Familie…"
100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern sind sie noch gegenwärtig in diesem Atelier, in einer Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg: Silvina Der-Meguerditchians Großvater Avedis mit seiner wunderbaren Musik – und all den Erinnerungen, die er mit sich herum schleppte. Ihm zu Ehren heißt der 17-jährige Sohn der Künstlerin ebenfalls Avedis. Und er spielt den Kanun.
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