Experte über das Holocaust-Gedenken

Ist Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen möglich?

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Andreas Nachama, Direktor der Topographie des Terrors in Berlin. © picture alliance/dpa/Britta Pedersen
Andreas Nachama im Gespräch mit Dieter Kassel · 25.04.2017
Die Zeitzeugen des Holocaust sind wichtige Vermittler dieser Zeit für die junge Generation. Doch sie werden immer weniger. Andreas Nachama, geschäftsführender Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, sieht die Geschichtswissenschaften in der Pflicht, sich dieser Herausforderung zu stellen.
Dieter Kassel: Gestern war der nationale Holocaust-Gedenktag in Israel. Der zentrale Gedenktag in Deutschland ist ja der 27. Januar – schon eine Weile vorbei –, aber bald ist auch der 8. Mai, dann wird dann an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. Kurzum: In diesen Wochen und Monaten denken wir wieder viel an die Zeit vor 1945, und im Moment tun wir das immer wieder auch zusammen mit Zeitzeugen, die sich persönlich an diese Jahre erinnern können. Das unter anderem wird natürlich nicht mehr sehr lange möglich sein, das ist logisch, und deshalb stellt man sich im Moment ja immer wieder auch die Frage, wie werden wir uns an den Zweiten Weltkrieg, an den Holocaust erinnern in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Genauso wie jetzt oder wird sich, sollte sich vielleicht sogar etwas verändern? Wir wollen darüber mit einem Mann reden, der zuständig für eine Gedenkstätte, an der sich an schlechten Tagen Hunderte, meist aber Tausende täglich erinnern an die Zeit vor 1945. Wir wollen reden nämlich mit Andreas Nachama, dem Direktor der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin. Schönen guten Morgen, Herr Nachama!
Andreas Nachama: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wie wird sich in Ihren Augen das Gedenken, das Erinnern an diese Zeit in Zukunft verändern?
Nachama: Na ja, es hat sich ja immer schon verändert, und das ist, denke ich, ein ganz normaler Prozess. Die Fragen sind in jeder Generation andere, und im Augenblick beobachten wir ja, wie die jungen Leute, die da zu uns kommen, ganz scharf der Frage nachgehen, wie war das möglich, was hat dazu geführt, dass auf einmal Millionen Menschen in Europa ihr Leben lassen mussten. Und da kommt man relativ schnell zu Antworten, die auch in zehn Jahren vielleicht noch richtig sind, weil man nämlich sagt, ja, da war ein System, das sich vollkommen verselbstständigt hat, das nicht durch unabhängige Gerichte kontrolliert werden konnte.
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Das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors.© picture alliance / dpa
Polizeiliche Gewalt im Reich, außerhalb des Reichs konnte sozusagen angewendet werden, ohne dass da jemand befürchten musste, dass er kontrolliert wird. Und das sind genau die Antworten, die die Leute haben wollen. Dann sehen sie, was in unserem Staat anders läuft. Bei uns, wenn es in Stuttgart 21 einen Polizeieinsatz gibt, der unangemessen ist, dann ziehen unabhängige Gerichte diejenigen, die dafür verantwortlich sind, zur Rechenschaft. Und das sind, glaube ich, die Fragen, die auch in Zukunft Menschen umtreiben wird. Und dann haben wir auch eine Chance, andere und neue Generationen zu erreichen.

"Wir müssen neue Wege gehen"

Kassel: Ich glaube, auch die Fragen werden dieselben oder zumindest ähnlich bleiben, aber wie sieht es mit der Form der Antworten aus, was wird sich dadurch verändern, dass es lebende Zeitzeugen ja schon sehr bald nicht mehr geben wird?
Nachama: Na ja, ich will mal an dem Beispiel der Topographie schon sagen, da gab's ja nie Zeitzeugen. Wo gab’s denn mal Täter, die sich hingestellt hätten und gesagt hätten, wie sie das gemacht haben? Die gab's ja nicht, sondern man hat immer versucht, sozusagen analytisch vorzugehen, zu überlegen, wie haben die das gemacht, was haben sie an Quellen und an Spuren hinterlassen, und darüber wurde dann und wird dann diskutiert, und ich glaube, so wird das an anderen Stellen dann eben auch sein.
Ja, es gibt in den KZ-Gedenkstätten oder so – ich war gerade am Sonntag in Sachsenhausen, wenn man da in so einer ehemaligen Unterkunftsbaracke steht und sieht, wie Menschen eingepfercht übernachten mussten, das haut einem sozusagen die Beine weg. Und diese zeitlichen Spuren und diese baulichen Spuren, die bleiben ja. Aber sozusagen diejenigen, die das selber erklären konnten, da hab ich gestanden oder da hab ich gelegen oder da hab ich gelitten, die sind dann nicht mehr da, sondern das muss sozusagen die Geschichte schaffen, das müssen die Quellen und Dokumente, die wir haben, das müssen die dann leisten. Und wenn es uns gelingt, dann ist gut, und wenn es uns nicht gelingt, dann müssen wir wieder neue Wege gehen.

Zum Glück wurde Europa nicht zu "Germania"

Kassel: Aber verändert sich nicht auch etwas dadurch, dass diese Zeitzeugen ja nicht nur in der historischen Forschung verschwinden, sie verschwinden ja auch in den Familien. Nun – Sie haben es ja gerade selber noch mal gesagt – gab es in den Familien selten jemanden, der gesagt hat, ich war Nazi und erzähl mal davon, aber trotzdem, dadurch, dass diese Generation ja noch vorhanden war – als früher Väter, Mütter, später dann Großeltern –, war doch das Verhältnis zu diesem Teil der Geschichte ein anderes, als es in Zukunft sein wird.
Nachama: Ja, das kann sein, aber ich glaube schon, wenn die Leute vor einem Haus stehen, wo sie die Einschussspuren von 1945 oder 44 sehen, wenn sie die Fotos sehen, wie eine deutsche Stadt aussah, wie zerbombt und zerstört, und wenn man dann sieht, dass man heute vom Atlantik bis zum Ural mehr oder minder ohne Zollkontrolle fahren kann in einem Europa, das eben kein Germania geworden ist, sondern das ein Europa der Regionen und der Vaterländer ist, dann begreifen die Leute schon, was da passiert ist. Und ich glaube auch, das wird die nächste Generation zu schätzen wissen, bei aller Europamüdigkeit, die es im Augenblick gibt. Dieses Narrativ bleibt ja, und alle Narrative, die sozusagen uns zeigen, was in einer Gesellschaft passiert, die sich sozusagen nicht unabhängige Kontrolle auferlegt, all das bleibt, und ich glaube schon, dass das das Narrativ sein wird, was die Erinnerungsorte, aber auch sozusagen da hinkommenden jungen Leute – die wachsen ja sozusagen von Generation zu Generation nach – mit ihren dann vielleicht auch etwas anderen Fragen bestimmen wird.
Kassel: Andreas Nachama, der Direktor der Stiftung Topographie des Terrors über das Erinnern und Gedenken heute und in Zukunft. Herr Nachama, ich würde jetzt fast den Vorschlag machen, lassen Sie uns in 60 Jahren noch mal drüber reden, aber das wäre vielleicht sowohl aus Ihrer als auch aus meiner Sicht ein bisschen übertrieben optimistisch. Ich danke Ihnen auf jeden Fall für heute!
Nachama: Tschüss!
Kassel: Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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