Europa als Unterrichtsprinzip

Moderation: Jürgen König · 23.03.2007
Nach Einschätzung von Eckart Stratenschulte wird das Thema Europa innerhalb des Schulunterrichts nur unzureichend behandelt. Europa werde oft nur als Gegenstand im Politik- und Geschichtsunterricht thematisiert, bemängelte der Leiter der Europäischen Akademie in Berlin. Damit Europa "Teil der intellektuellen Lebenswelt von Schülern" werde, müssten in "allen Fächern europäische Bezüge hergestellt werden".
Jürgen König: Am Sonntag vor 50 Jahren wurden sie unterschrieben: Der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und der Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft, beides wesentliche Bestandteile der späteren Europäischen Gemeinschaft. Von der Vereinigung Europas hatte schon Immanuel Kant geträumt. Die Mühen waren zwar größer als erwartet, aber allen Unkenrufen zum Trotz hat sich Europa immer weiter entwickelt. Wie viel inspirierende Kraft es hat, es noch hat, muss man vielleicht sagen, und vor welchen Herausforderungen das Europa der 27 steht, das wollen wir besprechen mit Professor Eckart Stratenschulte, Leiter der Europäischen Akademie in Berlin, also ein Europäer schön von Berufswegen – auch vom Herzen her?

Eckart Stratenschulte: Ja, ganz eindeutig. Die Europäische Union ist die Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts, und sie kann auch die Erfolgsgeschichte des 21. Jahrhunderts werden. Und da mitzumachen, das macht schon Sinn, es macht auch Spaß.

König: Die Ziele, die vor 50 Jahren in den Römischen Verträgen formuliert wurden, also etwa die Sicherung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts, die Beseitigung europäischer Schranken, die Abschaffung der Zölle, ein gemeinsames Vorgehen bei der Kernenergie, größere Stabilität, Wahrung von Frieden und Freiheit, die Ziele wurden alle erreicht, oder?

Stratenschulte: Ja, die Ziele wurden erreicht. Das macht auch die gegenwärtige Situation aus, von der viele sagen, sie sei eine Krise. Die Ziele sind erreicht, das heißt, man sollte zum einen zurückschauen, und da kann man durchaus stolz sein. Da haben wir wesentlich mehr erreicht, als die Gründerväter – Mütter gab es da noch keine – sich erträumt haben. Aber jetzt müssen wir natürlich auch den Blick voraus richten, was steht vor uns, was können wir erreichen, wofür ist diese Europäische Union gut.

König: Ich möchte hier auch den Blick nach vorne wenden. Ich möchte aber noch kurz eingehen auf diese, sagen wir mal, leicht lethargische Haltung der Deutschen Europa gegenüber. In der aktuellen "Zeit" schreibt der Schriftsteller Navid Kermani etwas, wie ich finde, sehr Schönes: "Früher galt Europa unter Intellektuellen als existentielle Notwendigkeit. Und heute? Sucht man heute unter deutschen Intellektuellen nach Verfechtern der europäischen Idee, fällt einem … äh ... Habermas ein und Habermas und Habermas. Die Deutschen hingegen sind so selbstverständlich Europäer geworden, dass sie es gar nicht mehr merken. Je länger Westeueropa in Frieden leben, desto mehr verschwindet das Bewusstsein, wie großartig, wie erfolgreich das Projekt der Einigung eigentlich ist." Recht hat er, der Navid Kermani. Was glauben Sie, warum haben wir so wenig Bewusstsein für das Großartige dieses Projekts Europa?

Stratenschulte: Nun, was natürlich richtig ist, ist, dass Ziele, die erreicht sind, sehr schnell zur Selbstverständlichkeit werden. Stellen Sie sich mal einen Berliner Wahlkampf vor, und ein Regierender Bürgermeister macht Werbung damit, wir hätten überall fließend Wasser. Dann würden natürlich die Leute ihn deshalb nicht massenhaft wählen, sondern würden sagen, ja, das ist doch selbstverständlich, obwohl natürlich das Faktum als solches sehr wichtig ist. Das betrifft auch die Ziele, die die Europäische Gemeinschaft sich gesetzt hat, übrigens schon 1952 mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Die sind so weit erreicht, dass sie sogar in Vergessenheit geraten sind. Welchem 17- oder 18-Jährigen wollen Sie heute die Notwendigkeit der Europäischen Union damit erklären, dass es keinen Krieg mit Frankreich gibt? Das ist glücklicherweise selbstverständlich, und wenn etwas selbstverständlich ist, dann lässt natürlich auch das Engagement dafür nach. Ich glaube, das ist eine ganz normale menschliche Haltung.

König: Apropos 17-, 18-Jährige, Sie sind Präsident der Europäischen Akademie Berlin, die hat gerade eine Studie herausgegeben hinsichtlich der Frage, was in den Rahmenlehrplänen für die Schulen in allen 16 deutschen Bundesländern in Sachen EU so vorgesehen ist. Und das Ergebnis war niederschmetternd: Das Thema EU stößt weder bei den Schülern noch bei den Lehrern auf große Gegenliebe. Wie kann das sein?

Stratenschulte: Nun, das hat damit zu tun, dass ein Beschluss, den die Kultusminister schon vor langer Zeit gefasst haben, nämlich 1978, und ihn dann noch mal überarbeitet haben 1990, nicht wirklich in die Realität umgesetzt ist. Den Kultusministern ging es nämlich darum, nicht nur Europa als Unterrichtsgegenstand zu haben, also dass es irgendwo im Politik- oder im Geschichtsunterricht mal vorkommt, sondern auch als Unterrichtsprinzip, dass also in allen Fächern europäische Bezüge hergestellt werden, also auch im Englischunterricht, im Deutschunterricht, im Musikunterricht, überall, wo es sich ergibt. Und das, das war auch die Hauptstoßrichtung unserer Untersuchung, die wir im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführt haben, ist sehr unzureichend der Fall, und dann bleibt immer Europa als Gegenstand. Dieses Europa ist kompliziert. Dieses Europa verändert sich sehr schnell. Deswegen gehen auch die Lehrer nicht gerne dran, und das führt dann dazu, dass es so ein bisschen abgehandelt wird, aber nicht Teil der intellektuellen Lebenswelt von Schülern und damit auch denjenigen wird, die die Schule dann verlassen haben.

König: Sie sagen das jetzt so sehr entspannt, aber es ist doch unglaublich, dass Europa unseren Alltag in einem solchen Maße prägt und an den Schulen findet das Thema kaum statt, außer lustlos.

Stratenschulte: Ja, das ist sehr schade, und das sollten wir auch ändern und überlegen, wir können wir tatsächlich Europa im Unterricht als Unterrichtsprinzip verankern. Dazu gibt es auch in der Studie einige Überlegungen.

König: Hätten Sie eine Idee, wollte ich gerade fragen?

Stratenschulte: Ja, und kurz gesagt: Wir müssen die Lehrer entsprechend unterstützen. Wir müssen sie selber motivieren. Wir müssen sie – zweiter Schritt – informieren. Kein Lehrer erteilt gerne Unterricht in einem Fach, in dem er sich selbst nicht sicher fühlt. Und dritter Schritt: Wir brauchen Unterrichtsmaterialien, die die Lehrer dann verwenden können und die sie auch modularisiert einsetzen können, also wo sie nicht jetzt dann 20 Stunden am Stück machen müssen, sondern wo sie auch sagen können, hier nehme ich mir fünf Einheiten raus.

König: Kommen wir zu den Herausforderungen: Vor welchen Herausforderungen steht Europa?

Stratenschulte: Nun, Europa steht vor der Herausforderung, sich neu zu vereinbaren, wohin es sich entwickeln will und mit wem. Das Problem bei der Geschichte ist: Die Antwort auf die eine Frage hat Konsequenzen für die andere, und deshalb muss man eine dritte Frage entscheiden, nämlich welche Frage entscheidet man zuerst. Also das heißt, nach meinem Dafürhalten ist Europa nicht in der Krise, sondern es ist an einer Weggabelung. Das ist die Herausforderung für die Entwicklung der Europäischen Union. Dabei muss man natürlich auch überlegen, wozu ist diese EU gut, und dann muss man sich die tatsächlichen Herausforderungen anschauen, vor denen wir stehen. Das ist die Frage des Klimawandels, das ist die Frage der Globalisierung, das ist die Frage, wie wir auf demografische Entwicklung reagieren und unsere sozialen Sicherungssysteme einigermaßen intakt halten, und das ist die Frage des Schutzes vor Angriffen, Übergriffen, Terrorismus. Und da stellt man sehr schnell fest: Keine dieser Fragen können wir national noch länger lösen, das heißt, das Instrument Europäische Union wird weiterhin gebraucht, und wenn wir sie nicht hätten, müssten wir sie neu erfinden. Dann freuen wir uns lieber, dass wir sie schon haben, und entwickeln sie weiter.

König: Wie würden Sie denn die Frage beantworten? Was ist wichtiger, wohin wir wollen oder mit wem wir uns auf den Weg machen wollen?

Stratenschulte: Ich denke, wir brauchen zuerst jetzt eine Zieldefinition, eine Vereinbarung, wohin wir wollen. Wir müssen auch diese EU, die sehr schnell gewachsen ist, konsolidieren. Das hat sich noch nicht eingespielt mit den 27. Erst dann sind wir in der Lage, weitere Länder in die EU aufzunehmen. Das heißt ja nicht, dass mit diesen Ländern bislang nichts geschieht. Natürlich muss es eine Politik der engen Verzahnung geben, das hat dann so den Titel Europäische Nachbarschaftspolitik. Aber zuerst müssen wir jetzt festigen, und dann können wir expandieren. Ich glaube, das wäre der richtige Weg, und ich hoffe, dass die Berliner Erklärung da auch erste Wegweisungen gibt.

König: Das heißt aber auch für die Türkei, dass sie sich auf einen so schnellen Beitritt erstmal nicht vorbereiten oder freuen sollte?

Stratenschulte: Ja, ein schneller Beitritt steht ja für die Türkei sowieso nicht zur Diskussion. Da ist ja immer die Rede von 15, 20 Jahren. Ich glaube, in dieser Zeit wird sich auch noch sehr viel klären, auch in der Türkei, ob man tatsächlich den Beitritt zur Europäischen Union will oder ob man ihn eigentlich nur will, um das Land zu modernisieren. Also da sind die letzten Messen noch nicht gesungen, aber es ist in der Frage Türkei so und so völlig klar, dass in den nächsten Jahren da nichts geschieht.

König: Wo endet Europa für Sie?

Stratenschulte: Also wo der Kontinent endet, darüber könnten wir ganze Wochenenddiskussionen führen, das bringt uns aber nicht weiter. Spannender ist daher die Frage, wo endet die Europäische Union? Und ich denke, die Europäische Union endet dort, wo die Überschreitung der Grenze die Bindewirkung der Integration verlieren würde, denn davon hätten wir nichts. Wissen Sie, um Groucho Marx zu zitieren, der mal gesagt hat, ich würde nie einem Club beitreten, der Leute wie mich aufnimmt. Von so einem Club haben wir nichts.

König: Das Zitat wird immer sehr gern genommen, aber es ist immer wieder sehr schön.

Stratenschulte: Ja, das ist ja der einzige Marx, den man noch unbefangen zitieren kann. Die Bindewirkung, der Wille, zusammenzuleben, das Schicksal gemeinsam zu meistern, der muss da sein, und jede Grenze, über die hinaus das nicht mehr gewährleistet ist, muss die Außengrenze der Europäischen Union sein.

König: Bundeskanzlerin Merkel bemüht sich mit Kräften, die Europäische Verfassung wieder mit Geist und politischer Kraft zu beleben. Glauben Sie, dass ihr das gelingen wird?

Stratenschulte: Ich glaube schon, dass es möglich sein wird, ein, sagen wir mal, verfassungsähnliches Dokument auf den Weg zu bringen, denn auch die anderen Partner merken natürlich, dass ohne die Veränderung der Verfassung es nicht möglich sein wird, die Europäische Union weiterzuentwickeln. Und dabei, habe ich den Eindruck, findet auch bei einer Reihe von Ländern im Augenblick ein Lernprozess statt, der nämlich zeigt, je schlechter die Europäische Union funktioniert, desto mehr machen die großen Staaten alleine. Und wenn man das nicht will, dann muss man dafür sorgen, dass die Integrationsstrukturen so sind, dass sie auch Ergebnisse produzieren. Ich habe schon die Hoffnung, dass es gelingt, einen Weg aus diesem Dilemma zu weisen und zu einer Regelung zu kommen, die nicht unbedingt Eins zu Eins dieser Verfassungsentwurf ist, der im Augenblick auf dem Tisch liegt.

König: Vielen Dank für das Gespräch.