"Es gibt keine Grenze zwischen Literaturen"

Katja Petrowskaja im Gespräch mit Ulrike Timm · 08.07.2013
Dass sie ihre Geschichte auf Deutsch schreibe, bedeute eine gewisse Entfremdung, sagt Katja Petrowskaja, aus der Ukraine stammende Gewinnerin des Bachmann-Wettbewerbs. Die Geschichte ihrer Familie sei damit nicht nur ihre Geschichte. Hätte sie auf Russisch geschrieben, sei ihre Opferrolle impliziert.
Ulrike Timm: Es ist der strapaziöseste Wettbewerb der deutschsprachigen Literatur, der um den Ingeborg-Bachmann-Preis - 14 Autoren, eingeladen von sieben Juroren, lesen unveröffentlichte Texte, live übertragen in Fernsehen und Internet – und direkt im Anschluss wird das Werk analysiert, gelobt oder zerpflückt. Gewonnen , und zwar gleich im ersten Wahlgang, hat Katja Petrowskaja, 1970 geboren in Kiew, mit Ende 20 nach Berlin gezogen, bislang mit Kolumnen hervorgetreten – aber sie hat noch nie ein Buch veröffentlicht.

Und Ihre Geschichte "Vielleicht Esther", in der die Ich-Erzählerin an die Ermordung ihrer jüdischen Urgroßmutter im Kiew 1941 durch die Nationalsozialisten erinnert – diese Geschichte sorgte schon beim Vortrag für Bravorufe im Publikum, sie traf ins Hirn und ins Herz, ein großes und schweres Thema, aber gefasst mit fast tänzerischer Leichtigkeit. Katja Petrowskaja, ganz herzlichen Glückwunsch zum Ingeborg Bachmann Preis!
Katja Petrowskaja: Ja, vielen Dank, ich bin selbst sehr überrascht. Ich habe mich schon sehr gefreut, dabei zu sein, das war schon zu viel für mich, und dann plötzlich so eine Situation, ich kann es erst überhaupt nicht fassen. Die Situation an sich ist so skurril, dass man so unerwartet für sich selbst in die kleine Wahl kommt, eingeladen wird und dann noch gewinnt. Es ist einfach – Sie können vielleicht meine Gefühle nachvollziehen.

Timm: Das Wettlesen in Klagenfurt, das hat ja schon was Sportives. Man ist sehr ausgestellt, ganz bloß. Manche Autoren werden von der Jury auch ziemlich auseinander genommen, und manche Autoren möchten da gar nicht lesen. Wie ging es Ihnen, Frau Petrowskaja, als die Jurorin Hildegard Keller anrief und sagte, Sie sind meine Kandidatin?

Petrowskaja: Also, ich war sehr überrascht, ehrlich gesagt, weil wir uns nicht kannten. Und sie war so überzeugend, dass ich selbst geglaubt habe, es soll so sein. Ich gehöre eher zu den Leuten, die nicht so gerne an irgendwelchen Wettbewerben teilnehmen, aber ich bin Anfänger. Das ist ein ganz wichtiger Bestandteil von Funktionieren, das ist ein Weg zum Leser, und eigentlich, das Interessanteste hier ist nicht nur diese Vermarktung von Literatur, sondern auch dieser einfache Leser, der immer am Rande dieser Veranstaltung ist oder manchmal in der Mitte, alle diese Fans, alle diese Bachmann-Groupies und Menschen, die mit Motorrädern hierhin kommen – das ist einfach einmalig in gewisser Weise.

Timm: Sie sind 1999 nach Deutschland gekommen, in Kiew geboren. Im Deutschen noch minderjährig, sagten Sie im Vorfeld über sich selbst – wie kommt es, dass Katja Petrowskaja in ihrer Zweitsprache Deutsch schreibt und nicht auf Russisch?

Petrowskaja: Das frage ich mich auch. Also das ist ein gewisser Zufall, ich habe mich einfach in diesen Raum verliebt. Mein Mann ist Deutscher und meine Familiengeschichte ist polnisch, ukrainisch, russisch-sowjetische Geschichte. Ich wollte eigentlich ein Buch über meine Familie so in den letzten 200 Jahren erzählen. Was ich erzählt habe, war immer wieder Krieg. Also das war immer wieder Krieg. Ich wollte das nicht, aber es kam immer wieder. Ich habe immer wieder gestolpert.

Und irgendwann habe ich auch Funktionen der Sprache verstanden. Also wenn ich meine Geschichte auf Russisch schreibe, es ist klar, wo man eine Geschichte platziert, das ist irgendwelche Geschichte wieder aus diesem Raum, wieder zum Thema, sozusagen meine Opferrolle ist in russischer Sprache impliziert. Wenn ich aber dasselbe auf Deutsch schreibe, ist es nicht ganz klar, wer ich bin, und es ist eine gewisse Entfremdung. Also Deutsch, das ist eine gewisse Entfremdung für mich, es bedeutet automatisch, dass die Geschichte meiner Familie ist nicht nur meine Geschichte.

Timm: Sie sind, Frau Petrowskaja, nach Olga Martynowa die zweite Bachmann-Preisträgerin, die nach Deutschland gekommen ist. Vielleicht bekommen wir eine Eröffnung des deutschen Sprachraumes nach Osten, frohlockte der Jury-Vorsitzende Burghard Spinnen. Was denken Sie selbst darüber? Bringen die speziellen Erfahrungen und der kulturelle Hintergrund osteuropäischer Einwanderer einen ganz speziell gefärbten Ton mit in die Literatur? Auch Ihre Kolumne heißt ja "West-östliche Diva".

Petrowskaja: Ja, "West-östliche Diva", ja, es ist nicht ganz bescheiden. Eigentlich wir haben Goethe gedacht, an den "West-östlichen Diwan" und da war nicht genug Platz für "n". Diese Grenze zwischen Literaturen ist ausgedacht. Es gibt keine Grenze zwischen Literaturen, es gibt Grenzen zwischen Sprachen. Es bedeutet, diese Öffnung, also Osterweiterung der West-Literaturen ist in gewisser Weise ein bisschen ausgedacht. Für Pasternak hatte vielleicht Heinrich von Kleist eine größere Rolle als Leo Tolstoi – es ist nicht wichtig, dass wir Migranten sind. Ich glaube, es ist was Anderes.

Ich glaube, es ist ein ganz interessanter Prozess heutzutage, dass die deutsche Sprache so begehrt ist. Also in gewisser Weise wir geben unsere Sehnsucht nach deutschem Raum, deutscher Sprache zurück. Und nur in diesem Akt kann man erkennen, was für eine Art – ja, Liebe es ist zu wenig – Willen es auch gibt, das zu erobern. Und es geht nicht um Räumlichkeiten, es geht um eine Sprache. Ich glaube, in den nächsten Jahren werden wir tatsächlich eine unglaubliche Situation erleben, wenn immer mehr Menschen, die mit einer Sprache geboren sind, auf Deutsch schreiben werden.

Es kommt eine riesige polnische Welle, da bin ich sicher. Aber vielleicht mit Olga Martynowa ist das ein bisschen anders, weil wir tatsächlich sehr, sehr spät Deutsch gelernt haben. Das ist eine Situation, was eigentlich amerikanische Literatur schon längst kennt, und es ist sehr interessant, dass es jetzt mit deutscher Sprache passiert. Es wird sich noch sehr, sehr viel Interessantes zeigen und – ja.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton im Gespräch mit der diesjährigen Bachmann-Wettbewerb-Preisträgerin, mit Katja Petrowskaja. Sprechen wir über Ihren Text, Frau Petrowskaja – "Vielleicht Esther". Eine Babuschka macht sich 1941 in Kiew auf den Weg. Sie soll deportiert werden. Sie kann nicht mehr gut laufen. "Sie ging zu ihnen, aber wie lange dauerte dieses ‚Ging‘. Hier folge jeder seinem eigenen Atem", so heißt es im Text wörtlich.

Sie geht langsam wie eine Schildkröte, ist aber genau dadurch unaufhaltsam und weder zu überholen noch einzuholen, und Sie als Autorin nutzen die Zeit für poetische Reflexionen, kreisen immer wieder darum, was ist Erinnerung, was ist Imagination? Was weiß ich, was muss ich erfinden? Ein Juror meinte, Sie wollen nicht erzählen, dass die Frau erschossen wird, Sie retten die Urgroßmutter die ganze Geschichte lang. War das das schönste Kompliment?

Petrowskaja: Ja, ich habe, ehrlich gesagt, geheult. Also in gewisser Weise darf man diese Worte gar nicht sagen. Und wenn es so ankommt, dann habe ich etwas geschafft, was ich selbst nicht erwartet habe. Sie wird trotzdem getötet. Ich wollte nur nochmals wiederholen, es gab keine Deportationen, also Juden wurden am Ort erschossen. Es bedeutet, sie mussten sich versammeln, sie sind zu Fuß zu einem gewissen Ort am Rande gegangen, und das ist schon verrückt, weil es tatsächlich auch in Kiew Teil der Stadtlandschaft ist, also dieser Ort, diese Schlucht, wo sie getötet wurden. Und früher war es am Rande der Stadt, und jetzt kommt man dahin mit der U-Bahn und da ist ein Park und da sind alle Juden dieser Stadt, die zu dieser Zeit geblieben sind, getötet worden. Was macht man damit? Wie fährt man U-Bahn? Mein Vater sagte, diese Urgroßmutter von mir, also seine Babuschka, hat es aber nicht geschafft. Also sie ist in Babiyar getötet, aber sie hat nicht geschafft, dahin zu kommen.

Timm: Und "Vielleicht Esther" – Sie kannten nicht einmal den Namen, war das der Ausgangspunkt für dieses Schweben zwischen Erinnern und Erfinden – "Vielleicht Esther"?

Petrowskaja: Das ist jetzt eine ganz schwierige Frage. Ist es wichtig, dass diese Geschichte wahr ist? Ist es wichtig, dass sie ausgedacht ist? Ich fand das sehr interessant, dass Herr Jandl bemerkt hat, also gesagt hat, darf man überhaupt so eine Geschichte erfinden, ja? Es ist vieles in dieser Geschichte wahr. Und ich glaube, das einzige wirklich, wirklich Fiktive in dieser Geschichte ist gerade die deutsche Sprache. Weil es überhaupt kein Muss gibt, diese Geschichte auf Deutsch zu schreiben. Und gerade dieser Schritt in diese Sprache, das ist der größte fiktive Schritt.

Timm: Man denkt ja auch an Jorge Semprun. Der sagte mal, die Überlebenden der Shoa würden abtreten und also müssten die nachfolgenden Generationen die Geschichte erfinden. Tragen Sie diesen Gedanken in sich? Fühlen Sie sich diesem Gedanken verpflichtet?

Petrowskaja: Also ich fühle schon, dass ich irgendwelche Pflicht habe, aber ich nehme solche Worte einfach nicht in den Mund. Ein Text wächst, wie er wächst, oder es gibt – ja, ich kann es wirklich nicht so hoch formulieren, das Ganze.

Timm: Das Thema, das Sie sich gesteckt haben, das kann einen ja auch niederschlagen. Sie haben geschrieben, das wurde viel gelobt, mit einer ganz traumwandlerischen Leichtigkeit, die Schildkröte spielt eine schöne Rolle, ein Fikus rettet ihren Vater, denn wer der nicht mit vom Wagen genommen worden wäre, wäre für den Vater kein Platz gewesen auf der Flucht. Die griechische Mythologie spielt eine große Rolle. Und wir lernen ein russisches Sprichwort kennen: "Wenn man Angst hat, rutscht die Seele in die Fersen." Das ist bestimmt schwer, Frau Petrowskaja, aber können Sie uns ein wenig beschreiben, wie sich dieser Ton, wie sich die Vielschichtigkeit dieses Textes so nach und nach herausgemendelt hat?

Petrowskaja: Ja, ich saß auf der Greifswalder Straße in Berlin und alle Lastwagen der Stadt kamen durch meinen Kopf, und ich habe geschrieben. Mehr weiß ich nicht. Schwer zu sagen. Ich habe immer wieder auf diesen Krieg gestolpert, ich habe wirklich gedacht, bis zum zehnten Glied.

Ich weiß, dass man einige Sachen nicht mehr so direkt anschauen kann wie vor 20 Jahren. Man möchte überhaupt nicht dahin gucken. Man möchte nicht mehr das berühren. Das ist so eigentlich ein verbotenes Gebiet, wir dürfen gar nicht rein. Wir dürfen das nicht wissen, wir dürfen uns nicht damit beschäftigen, weil, wenn wir uns damit beschäftigen, sind wir auch alle einfach infiziert, weil man das wirklich nicht akzeptieren kann.

Und was ich sagen wollte, ich kann wirklich falsch verstanden werden, weil es so aussieht, es kommt so diese Frau aus diesem Raum und haut allen Deutschen auf den Kopf und sagt wieder, ja, wo alle stehen. Aber gerade diese deutsche Sprache befreit mich von dieser Situation, ich habe kein Recht. Es geht darum, dass dieser Krieg unsere gemeinsame Antike ist. Wir steigen nicht raus, wir können nicht aussteigen. Wir können über andere Dinge nachdenken, wir gehen dahin, dahin – irgendwann stolpern wir, möchten wir nicht, oder nicht, ob es konkret dieses Thema ist oder Spuren in der Stadt oder, dass du deine Kinder so oder so erziehst. Es hat unglaubliche Spuren hinterlassen im Verhalten, in der Kommunikation der Menschen.

Und diese Idee mit Schildkröte und Achilles hat auch was damit zu tun, dass man vielleicht diesen Tod überhaupt nicht überholen kann, also, man kann das nicht überwinden in dieser Kurve?

Timm: "Vielleicht Esther" – das wird Ihr erster Roman, er soll im nächsten Frühjahr erscheinen, bei Suhrkamp. Wächst jetzt der Stress, beim Weiterschreiben durch den Gewinn des Bachmann-Wettbewerbes, weil Sie jetzt berühmter geworden sind?

Petrowskaja: Ja, das weiß ich noch nicht, ganz ehrlich. Ich vermute, ja, weil wenn man in einer solchen Situation steht, muss man immer beweisen, dass man genauso kann wie man das gemacht hat, und das ist genau das Problem, dass man nicht mehr schlechter werden darf.

Timm: Katja Petrowskaja, von ganzem Herzen alles Gute! Und ich bin sehr gespannt auf dieses Buch, dass Sie um "Vielleicht Esther" erschaffen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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