"Es gibt keine freie Justiz in Russland“

Moderation: Marie Sagenschneider · 17.05.2005
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat das Verfahren gegen den russischen Ölunternehmer Michail Chodorkowski kritisiert. Der Prozess habe von Anfang an unter deutlichen rechtsstaatlichen Mängeln gelitten, sagte Leutheusser-Schnarrenberger, die den Prozess im Auftrag des Europarats beobachtet.
Sagenschneider: Er ist Russlands berühmtester Häftling, und er war mal der reichste, bevor sein Vermögen beschlagnahmt und sein Unternehmen zerschlagen wurde. Seit fast 17 Monaten wartet Michail Chodorkowski, der einzige Chef des Ölkonzerns Yukos, auf sein Urteil. Heute oder morgen wird er es wohl endgültig erfahren, denn gestern haben seine Richter ihn bereits in einigen Anklagepunkten schuldig gesprochen, dann aber die Urteilsverkündung unterbrochen. Der Anwalt Chodorkowskis rechnet mit einem Schuldspruch, der für seinen Mandanten bis zu zehn Jahre Haft bedeuten könnte. Betrug, Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe und Geldwäsche wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor. Viele allerdings sehen in diesem Prozess eher einen Racheakt des Kreml, denn Chodorkowski hatte vor den Parlamentswahlen im Jahr 2003 die Oppositionsparteien finanziell unterstützt, sich offen gegen die Politik von Vladimir Putin gestellt und selbst wohl damit geliebäugelt, in die Politik zu gehen. Wie ist dieses Verfahren zu werten? Darüber wollen wir nun mit der FDP-Politikerin und früheren Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sprechen. Sie ist auch Russlandberichterstatterin des Europarats. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben im Auftrag des Europarats den Prozess gegen Chodorkowski beobachtet. Wie werten Sie denn dieses Verfahren?

Leutheusser-Schnarrenberger: Das Verfahren hat von Anfang an unter deutlichen rechtsstaatlichen Mängel gelitten. Die Verteidigung hat nur unter ganz erheblichen Beeinträchtigungen arbeiten können. Anwaltskanzleien sind durchsucht worden, auch Anwälte selbst in Haft gesetzt worden, und Yukos-Mitarbeiter, die einfach nicht gegen ihren Chef aussagen wollten, sind seit Monaten in Haft, auch eine junge Frau mit kleinen Kindern. Also das Verfahren ist einmal wirklich mit schwierigsten rechtsstaatlichen Verstößen durchgeführt worden, und ich habe auch in vielen Gesprächen gemerkt, dass einfach das Justizsystem in der Russischen Föderation nicht frei ist von politischem Einfluss. Es gibt leider keine unabhängige Justiz.

Sagenschneider: Deutet für Sie, nachdem Chodorkowski in den ersten Anklagepunkten schuldig gesprochen worden ist, alles auf ein hohes Strafmaß hin?

Leutheusser-Schnarrenberger: Es deutet alles darauf hin, dass, wie die Staatsanwaltschaft beantragt hat, Chodorkowski zehn Jahre Arbeitslager bekommen kann, denn das, was gestern mit der Urteilsverkündung begonnen hat, war doch nichts anderes als quasi die Ratifizierung der Anklageschrift, und dann, denke ich, läuft es darauf hinaus, dass er wirklich die Höchststrafe für diese Anklage bekommt, und das wären zehn Jahre Gefängnis.

Sagenschneider: Sie haben vorhin gesagt, dass dieser Prozess auch politisch beeinflusst ist. Nun hat aber jeder Staat das Recht, seinen Bürger wegen Betrug und Steuerhinterziehung zur Verantwortung zu ziehen. Ist es von außen überhaupt möglich, hier zu unterscheiden zwischen einerseits legitimer strafrechtlicher Verfolgung und andrerseits politisch motivierten Verfahren?

Leutheusser-Schnarrenberger: Natürlich ist jeder Staat berechtigt und auch verpflichtet, seine Gesetze und Strafbestimmungen auch gegen Steuerhinterziehung durchzusetzen, und das auch mit den rechtsstaatlichen Mitteln zu tun, wie sie der Europarat vorschreibt, denn die Russische Föderation ist ja Mitglied des Europarates. Also das ist auch nie vom Europarat kritisiert worden. Aber was wir kritisiert haben, ist einmal, dass nur gegen Chodorkowski vorgegangen worden ist und dieselben Vorwürfe eigentlich allen Oligarchen gemacht werden könnten, denn es geht um die wilden Privatisierungen noch zu Jelzins Zeiten, die jetzt angeblich noch aufgearbeitet würden. Dann ist natürlich überhaupt nicht vertretbar, dass Steuerbestimmungen rückwirkend geändert wurden und so dann auch diese immensen Steuernachforderungen begründet wurden. Das geht gar nicht, denn als Chodorkowskis Yukos-Konzern sich entsprechend den Steuerbestimmungen in Russland verhalten hat, war eben vieles erlaubt und legitim, weil viele Gouverneure wollten, dass diese großen Firmen in ihren Bereichen investieren, und dafür haben sie unsägliche Steuernachlässe auch gewährt. Das ist also auch etwas, was man kritisieren muss. Dann hatte letztendlich die Verteidigung keine Chance in diesem Verfahren, und diese Pression auch gegenüber der Familie und dem ganzen Umfeld, denke ich, zeigt, dass es kein normaler Strafprozess gewesen ist, der da durchgeführt wurde.

Sagenschneider: Würden Sie denn sagen, dies ist ein Einzelfall, um sozusagen einen politischen Widersacher auszuschalten, oder hat generell die rechtstaatliche Entwicklung in Russland Rückschritte gemacht, seitdem Putin an der Macht ist?

Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, es ist beides. Einmal sehen wir im Europarat, aber auch viele andere Beobachter, mit großer Sorge, dass die rechtsstaatliche Entwicklung wirklich rückläufig ist. Es sind auch Gesetze geändert, die gerade wieder Richter abhängiger machen durch die Verfahren, wie sie ernannt und auch entlassen werden können. Da hat der Kreml, da hat letztendlich dann Putin dann eben doch das ausschlaggebende Wort. Man sieht das immer wieder an Richtern, die, weil sie nicht so gespurt haben in Verfahren, wie man das wollte, entlassen wurden. Also diese Entwicklung insgesamt ist wirklich besorgniserregend. Es wird nicht umsonst von der so genannten "Telefonjustiz" gesprochen, also ein Telefon von außen, von staatlichen Autoritäten, bestimmt letztendlich das Urteil. Aber zweitens spielt auch die Person Chodorkowski eine Rolle, denn er hat sich ja für die Opposition eingesetzt in der Russischen Föderation, hat eine eigene Stiftung gegründet, hat Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen unterstützt, und alles das ist schon auf äußersten Missfallen gestoßen der Kremladministration insgesamt. Die Steuernachforderung und Steuerfahndung ist jetzt doch wirklich zu einem praktizierten Instrument der Strafverfolgung geworden. Das sieht man, wenn man die Steuernachforderungen, die sich auf 27, 28 Milliarden Dollar belaufen, dem Wert des Unternehmens Yukos von früher mit 17 Milliarden gegenüberstellt. Das kann ja nicht hinhauen.

Sagenschneider: Angesichts der Entwicklung, die Sie gerade skizziert haben, verhält sich da Europa, die Europäische Union angemessen, oder sollte die Kritik deutlicher ausfallen?

Leutheusser-Schnarrenberger: Ich bin der Auffassung, dass die Kritik doch deutlicher, natürlich sehr an der Sache orientiert, erfolgen sollte. Es ist wirklich auch schädlich, gerade für die, die sich in der Zivilgesellschaft für mehr Rechtsstaatlichkeit bemühen, wenn Regierungschefs wie auch der deutsche Bundeskanzler Putin quasi einen lupenreinen Demokraten nennen und sagen, es gibt keinerlei Anhaltspunkte an rechtsstaatlichen Fehlern in diesem Verfahren. Das ist doch so ein Blankoscheck, der Putin stärkt, ihn eigentlich auch darin bekräftigt, dass das, was er in diesem Land macht, in dieser Form von außen letztendlich nicht kritisiert wird, sondern einfach ad acta gelegt wird, und das ist für alle die, die wollen, dass sich Russlands doch schrittweise hin zu einer Demokratie entwickelt, wirklich ein Rückschlag. Von daher wären schon mal deutliche, kritische Worte zu unserem Partner Russland angebracht, denn beides geht nur, gute wirtschaftliche Beziehungen, ja, aber auch, damit gerade die Rechtsstaatslage besser wird, und nicht auf Kosten der Rechtsstaatslage.

Sagenschneider: Vielen Dank für das Gespräch.