Es geschah zwischen Priwall und Brook

Von Mathias Baxmann · 12.11.2009
Die "Blaue Grenze" hieß die Grenze an der Ostsee offiziell in der DDR. Die gesamte Küste war Grenzgebiet. Erreichte man seinen Badeort, musste man sich umgehend polizeilich anmelden. Nach Einbruch der Dunkelheit strahlten Suchscheinwerfer das Meer ab und man wurde durch Grenzer vom Strand vertrieben. Doch so wie es an den letzten 20 Kilometern Küste vor der Westgrenze aussah, wussten nur die dortigen Bewohner, denn dieser Streifen war für Ortsfremde weiträumig abgeriegelt. Die Mecklenburger zwischen Brook und Priwall waren doppelt eingesperrt. Und doppelt muss ihre Freude nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 gewesen sein.
Das Mecklenburger Dorf Brook liegt gut einen Kilometer von der Ostsee entfernt und knapp zwanzig von der Landesgrenze nach Schleswig-Holstein. Mit dem Fahrrad braucht man für die Strecke etwa eine Stunde. Der asphaltierte Radweg hinter dem Strand folgt dem Auf und Ab der Steilküste. Zum Meer hin: Undurchdringliche Brombeerhecken, übermannsgroße Sanddornsträucher. Landeinwärts: Den Weg begleitendes, gewelltes Heideland, keine Straßen, nur entfernt ist hin und wieder ein Haus auszumachen. Bis vor zwanzig Jahren patrouillierten hier die Jeeps der DDR-Grenztruppen - das Heideland war der sogenannte Todesstreifen, und genauso verriegelt wie damals der Strand vor Brook.

Günther Klüwer: "Von der Ecke genau sind das 920 Meter und da war gleich hinter das Haus, 10 Meter, da war der eiserne Vorhang oder Zaun. Und vor dem Zaun war ein Zehnmeterstreifen, der wurde geharkt und gepflegt. Da ging jeden Tag zweimal der Posten durch und hat auf Spuren Kontrolle gemacht."

Günther Klüwer sitzt auf der Veranda seines Hauses. Über das zu den Dünen hin abfallende Land blickt er aufs Meer. Eine leichte Briese weht von der Ostsee herüber.

"Der Zaun, elektrisch geladen war der. Wir sagten immer gesiebte Luft ist das da, die kam vom Westen hier rüber."

Gesiebte Luft und gesiebter Blick: Auf das unerreichbare Meer direkt vor der Haustür.

Klüwer: "Wir mussten alle nach Boltenhagen, Wollenberger Week zum Baden, 24, 25 Kilometer so."

Ab 1962 war das so.

Klüwer: "Da haben im Frühjahr noch die jungen Leute am Strand gesessen und dann kamen die Grenzer schon und haben sie weggescheucht. Ich sag' zu unserem LPG-Vorsitzenden, du, die bauen da was - ach, Günther, was du erzählst hier, so'n Quatsch! Ich sage, fahr mal runter, was da los ist. Und ein Tag später durch den Raps, da fuhren schon die Grenzer durch und haben schon einen Zaun gebaut. Hinter unser Haus hier gleich."

So wie den Klüwers ging es allen Bewohnern der Nachbarorte entlang dieses Küstenstreifens. Man war gegen den Bau der Grenzanlagen machtlos. Sie zerschnitten die Landschaft, zum Teil auch das eigene Ackerland. Und trotzdem blieben viele hier wohnen.

Klüwer: "Ich stamme von Ostpreußen. Wir haben damals in Ostpreußen alles verloren gehabt und hier aufgebaut. Wir haben drei Söhne und sollen wir uns aussetzen, da nach dem Westen zu gehen? Haben wir gesagt, nein! Wir haben nicht gehungert, wir haben nicht gefroren. Weglaufen können wir alle nicht. Was soll's?"

Klüwers Nachbar, Hein Ewald, ist Fischer. Er durfte zu DDR Zeiten nur in der Ostsee vor Wismar fischen, gut 40 Kilometer von der Westgrenze entfernt. Die Küste vor seiner eigenen Haustür kannte er bis zum Mauerfall nicht, denn auch das Fischen war hier verboten.

Ewalds Einzylinder-Diesel-Kutter zieht von Brook aus westwärts vorbei an Sandstrand und unbebautem Ufer. Auf Dünen und Steilküste verlief der Zaun. Ewalds Kutter passiert die ehemalige Grenze der Hoheitsgewässer der DDR gen Westen. Landeinwärts liegt der Priwall. Eine Halbinsel, die über eine schmale sandige Landbrücke mit dem Festland verbunden ist. Früher gehörte die Insel zur alten Bundesrepublik, das Festland, an dem sie hing. war allerdings die DDR.

Nach knapp 20 Kilometern unberührter Küste reiht sich jetzt Ferienhaus an Ferienhaus. Ewald umrundet den Priwall, verlässt das Meer und tuckert durch die Mündung der Trave in einen Bodden, der sich gen Süden in den Dassower See ausstülpt.

Obwohl vollständig von Mecklenburg umschlossen, gehört der See seit jeher zur Hansestadt Lübeck. Damals also ein westdeutscher See inmitten der DDR. Fischer Ewald legt am süd-östlichen Ufer des Gewässers an, vertäut seinen Kutter an der Anlegestelle der Kleinstadt Dassow.

Hannelore Armeding: "Was 1945 akut war, dass viele aus dem Inland noch in den Westen wollten."
Hannelore Armeding wurde kurz nach dem Krieg in Dassow geboren.

Armeding: "Und mein Vater hat die, der kannte sich auf dem Dassower See gut aus, dann mit dem Kahn im Dunklen über See gebracht in den Westen."

Durch den schmalen Ausfluss in den Bodden und hinüber nach Travemünde.

Armeding: "Für eine Bratwurst und gegen ein Bügeleisen. Geld war ja nichts wert. Die Leute brauchten ja Material, um überleben zu können."

Was in Berlin bis zum Mauerbau noch möglich war, das Passieren aller Sektoren, war an der innerdeutschen Zonengrenze auch schon vor 1961 mit Lebensgefahr verbunden. In Dassow sperrte man das gesamte Ufer des Sees. Das Baden und Befahren war verboten.

Armeding: "Bevor die Grenze so richtig fest war, weiß ich, dass da nur ein Maschendrahtzaun war, Stacheldraht, so drei Reihen. Und dass wir da als kleine Mädchen durchgekrochen sind, eben auf die andere Seite, so Muscheln suchen oder so was, und dass Mutti dann gesagt hat, da dürft ihr nicht hin, das ist eine Grenze. Aber Grenze war für uns - da konnten wir ja noch nichts mit anfangen."

Das sollte sich ändern. Ab den sechziger Jahren konnte Hannelore Armeding den See nur noch vom Kirchturm aus sehen. Dassow war durch eine Grenzmauer vom See abgetrennt, die Stadt jetzt Sperrgebiet für alle, die nicht hier wohnten. Diese Regelung galt für sämtliche Orte, die in einem Streifen von 5 Kilometern entlang der Grenze lagen. Für die Überwachung waren nicht nur Grenzer und Polizei zuständig.

Armeding: "Wir kannten unsere Pappenheimer, die so als Grenzschutzhelfer arbeiteten, waren viele in Dassow, die heute alles abstreiten. Aber wenn da ein fremdes Gesicht zu sehen war, gingen sie hin und haben schnell angerufen. Und die waren gefährlich, weil die überhaupt nicht nachgedacht haben. Und da haben wir dann schon ein bisschen aufgepasst."

Einige passten aber nicht genug auf, ließen sich nicht den Mund verbieten und sagten ihre Meinung zum DDR-Staat. Auch die Einheimischen waren vor den Grenzschutzhelfern nicht sicher und vor allem nicht vor der Staatssicherheit.

Armeding: "Aktion Rose hieß das, das war der Deckname für diese Aktion. Ich weiß nur, dass aus meiner Klasse einer, dass der den Morgen nicht mehr zur Schule kam und dass überall in Dassow LKW standen und Möbel aufgeladen wurden."

Marianne Thoms: "Das war zwei Mal, die Aktion hier, einmal Kornblume und einmal Rose."

Marianne Thoms, eine Nachbarin aus Dassow.

Thoms: "Die Leute wurden ausgewiesen. Die wussten nicht wohin, die wussten gar nichts, und die brauchten auch nichts anfassen. Da waren Leute, die Ihnen das alles eingepackt haben und dann wurden sie aus dem Sperrgebiet ausgewiesen. Das war Ende der Fünfziger, war die eine Aktion und die andere war Anfang der sechziger Jahre."
Armeding: "Die sind irgendwo nach Pommern gekommen, in ein ziemlich dünn besiedeltes Gebiet, wo sie dann angeblich keinen Schaden mehr anrichten konnten. Es waren auch gerade aufrechte Menschen, die gesagt haben, wir sind so, wie es hier läuft, nicht einverstanden."

Thoms: "Dann hatten wir alle Ausfahrts-, Zufahrtswege nach diesen 5 Kilometern, waren überall Schlagbäume, die erst von Grenzern, später von der Volkspolizei besetzt waren. Man hatte im Ausweis einen Stempel, der dann sagte, dass wir berechtigt sind, weil wir hier wohnen und wenn wir Besuch haben wollten, mussten wir vier Wochen vorher im Kreisamt der Volkspolizei ein Passierschein beantragen. Den kriegte man aber auch nur für Verwandte ersten beziehungsweise zweiten Verwandtschaftsgrad."

Brusch: "Wenn wir zur Disco waren in Grevesmühlen, da jemand kennen gelernt haben und wollten den mitbringen, war nicht möglich. Die sind nicht rein gekommen."

Grevesmühlen war die nächste Kleinstadt jenseits des Schlagbaums und Dieter Brusch einer der Eingesperrten im küstennahen Grenzgebiet.

Brusch: "Ich hatte mal Eine kennen gelernt und ich sage, fahr mich mal nach Hause von Grevesmühlen. Und der Kontrollpunkt, 200, 300 Meter vorher sage ich, lass mich mal hier raus. Und hält sie an und in dem Moment kommen aus dem Wald zwei Polizisten raus. Stopp! Beide mitkommen! Dann wurden wir hier ins Schloss gefahren, da waren die stationiert, die Grenztruppen. Ich habe sie reingeschleust, so haben sie es ausgelegt. Die dachten, dass ich sie mitnehme zum abhauen. Der Kontrollpunkt, wir waren noch davor, aber das war eben schon verdächtig."
Doch die Zwanghaftigkeit des Grenzkontrollsystems schien nicht ganz grundlos. War es doch mit genauer Ortskenntnis und ausreichend Todesmut möglich, diese scheinbar undurchdringliche Grenze zu überwinden.

Brusch: "Drei gute Bekannte von mir, die sind in Teschow übern Zaun und sind rüber geschwommen und sind auch rüber gekommen. Da ist die Trave, das ist nicht so weit. Drei Wochen später waren sie wieder hier. Die sind nicht klargekommen da. Dann waren sie hier auf der Disco. Ich sage, wie kommt denn ihr wieder rein hier? Ihr ward da im Westen und seid abgehauen praktisch, und dann sag ich, gib mal eine Zigarette. Habe ich dann so reingefasst bei ihm - ein Stasiausweis. Ja, sagt er, das war die Bedingung, dass wir hier wieder rein dürfen."

Viele Fluchtwillige schreckten aber vor dem der Grenze vorgelagerten Sperrgebiet zurück. Sie sahen ihre Chance eher im Weg über das offene Meer. Wie die Schwestern von Hannelore Armeding:

"Vor 28 Jahren sind meine beiden Schwestern ins Zuchthaus gelandet, weil sie nicht hier bleiben konnten. Mein Schwager hat Medizin studiert in Rostock und konnte auch sein Mund nicht halten, war immer irgendwo Opposition. Und mein Vater hat denen Geld gegeben für einen Kahn, den haben sie bei einem Fischer gekauft. Und dann in einer richtigen nebligen Nacht hat meine jüngste Schwester die nach Boltenhagen gebracht und dann sind die gestartet. Und kurz vor Travemünde im Nebel, da haben sie ein Schiff gehört. Mein Schwager hat sich ausgerechnet, wir müssen schon im Westen sein. Da haben sie sich gemeldet. Und wenn meine Schwester das erzählt, können sie sich vorstellen, sagt sie, da waren's unsere Uniformen. Da hatte sich von uns ein Grenzschutzboot verfahren. Drei Jahre Zuchthaus. Und dann sind sie frei gekauft worden nach drei Jahren."

Die ehemalige Sperrzone rund um den Dassower See ist heute Naturschutzgebiet. Hinter einem breiten Schilfstreifen steigt das Land leicht an. Es scheint, als setze sich hier das Auf und Ab des Meeres in der Landschaft fort. Fährt man von Dassow aus mit dem Fahrrad die leicht hügelige Uferzone endlang Richtung Ostsee, ist man in einer halben Stunde in Pötenitz. Dies ist der nordwestlichste Ort der ehemaligen DDR. Die damalige Grenze verlief hier quer über den schmalen Landstreifen, der auf die bundesrepublikanische Halbinsel führte, den Priwall. Wo das aber genau war, wussten wegen der vorgelagerten Absperrungen selbst die Pötenitzer nicht.

Mann 1: "Karten gab es sehr wohl, aber nicht direkt mit dem Grenzgebiet drinne, also mit den eingezeichneten Wegen und Straßen, die endeten alle dann im Bereich der großen Städte, Dassow im Hinterland. Die konkreten Wege zu Grenze waren eigentlich nicht Bestandteil dieser Karten."

Einer, der aber schon damals genaueste topographische Kenntnisse hatte, war Hajo Ulrich. Er war einer der Kommandeure der Grenztruppen in diesem Abschnitt:

"Ich war kein schießwütiger Grenzer. Ich habe an und für sich dort, wo man mich hingestellt hat, von der Ostsee bis zur Elbe, habe ich meine Aufgaben erfüllt, mehr habe ich nicht gemacht."

Nach der Deutschen Einheit half Hajo Ulrich beim Rückbau der Grenze. Der ehemalige Oberstleutnant wusste, wo die Abertausenden von Minen im Todesstreifen lagen. Zumindest hatte er eine Ahnung davon, wohin sie durch Regen oder Hochwasser im Verlauf von Jahrzehnten gespült wurden.

"Wir sind jetzt also direkt am Priwall."

An der schmalen Landbrücke die auf die Halbinsel führt. Hier zerteilte der Grenzzaun den Strand. Richtung Osten verliefen die Sperranlagen 20 Kilometer parallel zur Küste.

Ulrich: "Dann kam dieser erste Zaun, drei Meter hoch."

Immer entlang der Dünen.

Ulrich: "Und dahinten lief dieser Grenz-Signal-und-Sperrzaun mit den Drähten dran. Erst mal zwei Meter hoch mit Streckmetall und dann Drähte, wenn man die dann zusammendrückte oder durchschnitt, dass sie auslösten."

Zwischen diesen beiden Zäunen war eine 500 Meter breite Schneise mit Grenztürmen, Minenfeldern und Hundelaufanlagen. Wer das als Flüchtender hinter sich gebracht hatte, den erwarteten Suchscheinwerfer, Grenzschiffe, die Erfassung durch Radar und schließlich das Zuchthaus. Dennoch versuchten ab 1961 über 5000 Menschen über die Ostsee zu flüchten. Selbst in Badehose war das ein Angriff auf die Seegrenze der DDR, wie es offiziell hieß. Gerade ein Zehntel der Flüchtenden kam im Westen an. Mindestens 200 Menschen ertranken. Die meisten vor der Küste zwischen Brook und Priwall.

Ulrich: "Die, die in den Westen wollten, sind in die Ostsee gestiegen, meistens schon weit vorher. Sicherlich gab es auch welche, die entlang des Strandes gehen wollten, aber in der Regel hatten die keine Chance."

Von westlicher Seite, vom Strand des Priwall aus machte die Grenze einen eher harmlosen Eindruck. Eine in heiterem Rot-Weiß gehaltene Kette - wie früher die Fußgängerabsperrungen am Straßenrand - schwang sich quer zum Strand ins Meer hinein und markierte somit den Beginn der DDR. In die kleinen Metallpfeiler steckten die Ferienhausbewohner des Priwall ihre Sonnenschirme und die Handtücher wurden ganz einfach zum Trocknen über die Kette gehängt. Hinter dieser Kette war ein Stück scheinbar herrenloser Strand und erst nach knapp einem Kilometer kam der erste Grenzzaun. Manche der FKK-Badegäste suchten sich sogar ein stilles Plätzchen jenseits der Kette.

Ulrich: "Die wurden dann zurückgewiesen. Der hatte ein sogenanntes Megaphon: Sie befinden sich auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik! Ich fordere sie auf, dieses zu verlassen! In der Regel sind die ja gegangen. Das war nicht das Problem. Der Posten war natürlich sehr beliebt da oben für unsere Grenzer."

Wenn sich die Menschen aus dem Niemandsland nicht per Megaphon vertreiben ließen, wurden sie allerdings von den DDR-Grenzern festgenommen.

Düwel: "Wir haben es ja auch manchmal erlebt: Von hier Jugendliche, die haben sich einen Spaß draus gemacht. Da haben wir gesagt, die sollen sich lieber vorsehen. Die haben auch mitunter sogar welche mitgenommen."

Den Düwels aus Lübeck gehört das erste Ferienhaus an der ehemaligen Grenze auf dem Priwall.

Düwel: "Und dann waren auch die Hunde da. Und die Hunde hatten eine Leine bis ins Wasser rein. - Und dann abends Scheinwerfer. - Da drüben war ein Scheinwerfer, da hätten wir hier Zeitung lesen können."

Bis November ´89 wäre das möglich gewesen. Dann gingen diese Lichter hier aus.

Klüwer: "`89, hatten wir ein paar getrunken, kam mein Sohn rein. Du, sage ich, Ulli, die Grenze ist auf! Ja, Vater, trink mal noch einen, dann weißt du, was los ist. Da ist nichts auf, keine Bange."

Mann 2: "19 Uhr, Nachrichten im Auto, Berlin wird heute Nacht aufgemacht."

Klüwer: "Na und dann noch Einen, noch Einen, noch Einen und dann das gehört. Auf einmal, wums, ja, tatsächlich."

Mann 2: "Da haben wir gesagt, ob das wohl was wird?"

Thoms: "Und meine Tochter kam dann an und sagt, die Grenze ist auf, wir möchten rüber. Ich sage, Carmen, Mensch, mir war mulmig dabei."

Mulmig war vor allem den Grenzoffizieren an der offiziellen Übergangsstelle Selmsdorf unterhalb des Dassower Sees. Auch ohne Karten des Sperrgebietes kannten die Menschen aus dem Norden diesen Übergang nach Lübeck. Auf der Straße dorthin gab es am 9. November einen Rückstau von über 50 Kilometern. Und die Grenzer warteten auf ihre Befehle von oben.

Ulrich: "Davon war ja am 9. November überhaupt nichts. Es kam gar nichts, und ich sage aus heutiger Sicht und Mann vor Ort, es ist ein Wunder, dass kein Schuss gefallen ist."

Mann 2: "Das waren ja zwei oder drei Tage Kolonnen, Stau bis Wismar."

Brusch: "Überwiegend Wismar, Rostock, Stralsund, selbst von Rügen, Schwerin auch viele, Neubrandenburg sogar waren welche dabei."

Mann 2: "Hier sind welche gewesen, die haben in Dassow schon wieder übernachtet, die sind von Wismar losgefahren. Den ganzen Tag nur bis Dassow gekommen, ging nicht weiter."

Thoms: "Mit kleinen Kindern und in der Kälte und da haben die Leute, die hier an der Straße gewohnt haben, haben dann auch Kinder versorgt, weil, die waren ja gar nicht darauf eingerichtet, dass sie so lange warten mussten."

Auch die Bewohner des Grenzgebietes wollten nicht länger warten und endlich über ihren Ostseestrand in den Westen spazieren. Noch im November `89 versammelten sie sich samt Bürgermeisterin und Grenzhauptmann in der Dorfkneipe von Pötenitz, dem Ort kurz vor dem Priwall. Jürgen Freitag aus Dassow war dabei:

"Also die Bürger von Pötenitz beziehungsweise auch Dassow, die wollten, dass das zum Priwall aufgemacht wird. Es war kurz danach wie die richtigen Grenzen schon auf waren. So und denn sind wir durchs ganze Dorf gegangen bis ans Gassentor ran. Das waren bestimmt Fünfzig oder Hundert. Kerzen hingestellt und am Tor gerammelt. Weiß ich noch wie heute, ja, ja und denn, wurde natürlich nicht aufgemacht. Habe auch gerammelt, hat Spaß gemacht, ja, ja."

Die offiziellen Übergänge wurden zwar im November `89 geöffnet, doch die Sperranlagen entlang der Grenze waren danach nicht gleich passierbar.

Ulrich: "Wir waren ja immer noch DDR."

Auch mussten erst die Elektrozäune abgebaut und die Minen geräumt werden.

Ulrich: "Diese Grenze wurde hier am Strand am 3.2.90 aufgemacht."

Mann 2: "Um zehn sollte aufgemacht werden, aber es war so ein Andrang, die konnten die nicht mehr bändigen. Da war der Druck so stark schon, die Leute haben gedrängt und dann sind sie zum Tor zumarschiert. Der ganze Strand war bei denen auch mit einem Band abgespannt. Die haben die Massen auch hinter dem Band gehalten."

Armeding: "Da musste man noch ein Stück über den Strand gehen und dann haben die Priwallaner da ein großes Fest gemacht."

Thoms: "Man hat sich mit dem Einen oder Anderen dann am Strand unterhalten, die aus Travemünde da waren oder aus Lübeck da waren und eben auch ganz nett unterhalten."

Armeding: "Und dann haben die uns wie Bettler empfangen. Da haben sie Gulaschsuppe ausgeschenkt, umsonst. Und dann, eine Frau: Na, Sie haben ja wohl lange nichts zu Essen gehabt. Ich hab' keine Erbsensuppe gegessen!"
Thoms: "Manche hatten dann auch ein paar Apfelsinen oder dergleichen mit, also ... "

Armeding: "Wir haben ja nicht gehungert hier."

Thoms: "... sie haben gedacht, sie tun uns denn was Gutes, was ja dann wohl auch so war."

Zwanzig Jahre nach Grenzöffnung hat sich an der Unberührtheit dieses Mecklenburger Küstenstreifens kaum etwas verändert. Nur die Zäune sind weg und auf dem ehemaligen Kolonneweg der DDR-Grenzer entlang der Dünen überholen sich Lübecker Radler in Vollmontur. Viele von ihnen haben sich in Orten wie Dassow, Pötenitz oder Brook ihre Häuser gebaut, wegen der niedrigen Grundstückspreise.

Thoms: "Es gibt Leute, die von daher kommen und so tun als wenn wir Menschen zweiter Klasse sind und dagegen habe ich mich eigentlich immer so ein bisschen verwehrt. Dieses Sich-Verurteilen, das finde ich nicht schön. Und ab und zu kommt's auch heute noch bei Leuten durch, die doch schon zehn, fünfzehn Jahre hier wohnen."

Armeding: "Irgendwo haben wir was zurückbehalten. Die Dassower sind alle Sperrgebiet geschädigt, die haben alle irgendwo einen kleinen Knacks. Viele wollen nicht mehr dran erinnert werden. Ich habe dann in der Schule schon mal darüber gesprochen. Die Kinder glauben uns das gar nicht mehr. Die denken, wir übertreiben. Hat mal einer gesagt in der 9. Klasse, na, so schlimm kann's ja wohl nicht gewesen sein! (…) So schlimm war es ja wohl doch nicht!"