Erster Weltkrieg und DDR

Kurz und kritisch

Von Florian Felix Weyh · 29.12.2013
Aus Briefen und Tagebucheinträgen entsteht bei Dorothee Wieling ein bedrückendes Familienporträt, bei Maximilian Schönherr eine CD über die Stasi, die unter die Haut geht.
Cover: Dorothee Wierling "Eine Familie im Krieg"
Lesart-Cover: Dorothee Wierling "Eine Familie im Krieg"© Wallstein
"Wie ich mir würdig vorkomme als Leutnantsmutter!! Alle Welt, selbst ganz Fremde, gratulierten mir." Die das im Januar 1916 schreibt, ist eine bekannte Frauenrechtlerin, SPD-Aktivistin und Angehörige der intellektuellen Boheme des Kaiserreichs: Lily Braun. Zusammen mit ihrem Mann Heinrich trat sie immer für eine bessere Welt ein – bis zum August 1914.
Dann macht der Weltkrieg aus der Fortschrittskämpferin eine nationale Propagandarednerin. Dass sich der 17jährige, hochbegabte Sohn Otto im Rausch des "Augusterlebnisses" als Kriegsfreiwilliger meldet, erfüllt die Mutter mit tiefem Stolz. Aus Briefen und Tagebucheinträgen einer untypischen Patchworkfamilie – die Geliebte des Mannes ergänzt das Trio – gewinnt Dorothee Wierling Material zu einer spannenden Mentalitätsstudie.
"Die Arbeit mit sogenannten Egodokumenten ist eine besonders intensive, intime Form der Quellenlektüre", warnt die Hamburger Historikerin zu Beginn und kommentiert deswegen die überlieferten Dokumente ausführlich. Am Ende sind Mutter und Sohn tot, die pathetischen Briefe des im Kriege Verheizten werden in den 20er-Jahren zum Bestseller. Warum, kann man dieser Geschichtsschreibung mit emotionalem Tiefgang entnehmen: Weil die Sinngebungsmechanismen des den Alltags durchdringenden wilhelminischen Militarismus so fatal gut funktionierten.

„Eine Familie im Krieg“ Leben, Sterben und Schreiben 1914 – 1918 von Dorothee Wierling
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
416 Seiten, 24,90 Euro

"'Die Verbrechen, die die Angeklagten gemeinsam begangen haben, sind Verbrechen nach dem Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Sie haben Boykotthetze betrieben.' - 'Das ist kein Hörspiel, sondern DDR-Realität des Jahres 1955. Der Staatsanwalt in einem Geheimprozess hält sein Plädoyer': - 'Ich beantrage nach diesem Gesetz wegen erwiesener Verbrechen gegen die Angeklagte Barczatis, Elli Helene, geboren am 7.1.1912, die Todesstrafe. Den Angeklagten ist das Vermögen einzuziehen.'
CD-Cover: Maximilian Schönherr "Fallbeil für ein Gänseblümchen“
LESART CD-Cover: Maximilian Schönherr: "Fallbeil für ein Gänseblümchen“© Christoph Merian Verlag
'Aus dem erschütternden, von der Stasi aufgezeichneten Tondokument, hat der Journalist Maximilian Schönherr ein Feature gemacht, das unter die Haut geht. Der schwammige Anklagepunkt 'Boykotthetze' – juristische Generalklausel des Regimes – legitimierte im Kalten Krieg jedes Urteil gegen Spione wie Karl Laurenz und Elli Barczatis – auch das Todesurteil.
Während der Staatsanwalt in Klang und Wortwahl allen Klischees der Unrechtsjustiz entspricht, verblüfft die fast angenehme Stimme des Gerichtspräsidenten Walter Ziegler, eines führenden Blutrichters der DDR, dessen überzogene Urteile mit der Zeit selbst der politischen Führung unheimlich wurden. Genutzt hat es den Opfern freilich nichts.'"

"Fallbeil für ein Gänseblümchen"
Eine CD von Maximilian Schönherr
Christoph Merian Verlag, Basel 2012
53 Minuten, 13,90 Euro