Erster Weltkrieg

Nährboden für Verschwörungstheorien

Das österreichische Thronfolgerpaar wenige Augenblicke vor dem tödlichen Attentat im offenen Wagen. Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie wurden während eines Besuchs in Sarajevo erschossen.
Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie wenige Augenblicke vor dem tödlichen Attentat im offenen Wagen. © dpa-Bildarchiv
Jörn Leonhard im Gespräch mit Katrin Heise · 28.04.2014
Der ZDF-Film "Das Attentat" über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs suggeriere, dass Deutschland und Österreich das Attentat eingefädelt hätten, findet der Historiker Jörn Leonhard. Historisch sei das falsch.
Katrin Heise: Am 28. Juni 1914 fallen der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo einem Attentat zum Opfer. Der Druck, dem Untersuchungsrichter Leo Pfeffer aus Wien und Berlin ausgesetzt wird, ist gewaltig, denn Deutschland und Österreich wollen Krieg. Doch Pfeffer entdeckt immer mehr Ungereimtheiten. – So kündigt das ZDF den Film von Regisseur Andreas Prochaska heute Abend an.
Ein Film will natürlich keine Geschichtsstunde sein, aber trotzdem ist es interessant, mit einem Historiker im Vorhinein darüber zu reden. Deshalb bin ich jetzt verbunden mit dem in Freiburg lebenden Neuzeit-Historiker Jörn Leonhard. Schönen guten Morgen!
Jörn Leonhard: Schönen guten Morgen.
Heise: Herr Leonhard, Sie werden die Ungereimtheiten, auf die der damalige Ermittler Pfeffer – das ist ja eine historische Figur – gestoßen ist, die der Film dann sehr breit erörtert, vielleicht ein bisschen erklären und einordnen können. Der Film endet damit, dass dem Zuschauer mitgeteilt wird, sämtliche des Attentats Angeklagte hätten eine Beziehung zum offiziellen Serbien abgestritten. Der serbische Regierungschef Pasic habe gar das Attentat verhindern wollen. Wie schätzen Sie das ein?
Geheimdienst hat die Attentäter gefördert
Leonhard: Es ist richtig, dass der serbische Ministerpräsident, der im Sommer 1914 im Wahlkampf steht, den Gouverneur, den österreichisch-ungarischen Finanzminister Bilinski, kurz vor dem 28. Juni gewarnt hat vor einem möglichen Attentat. Das ist aber nicht so interessant wie die heute definitiv erwiesenen Verbindungen zwischen dem serbischen Geheimdienst und den Attentätern. Der serbische Geheimdienst in der Figur von dem so genannten Apis, dieser Geheimdienst hat die Attentäter gefördert. Der serbische Geheimdienst hat sie faktisch auch bewaffnet, hat den Grenzübertritt möglich gemacht, und da kann keine Rede davon sein, dass die Attentäter nur die Handlanger für die – so wird es ja im Film dargestellt – militärischen Falken in Wien und Berlin dargestellt haben. Da wird im Grunde genommen mit dem Film an einer Verschwörungstheorie gebastelt, die ich für sehr problematisch halte, und da ist die Schuld …
Heise: Und diese Verschwörungstheorie heißt, das Attentat ist quasi von den Deutschen beziehungsweise Österreichern eingefädelt?
Leonhard: Das ist der Punkt. Im Grunde genommen legt der Film nahe, die österreichische und die deutsche Regierung oder jedenfalls kriegsinteressierte Kreise in Berlin und Wien haben den fertigen Kriegsplan in der Hand beziehungsweise in der Schublade, und sie warten nur auf die Gelegenheit, um das möglich zu machen. Damit verbindet sich die Vorstellung, Franz Ferdinand sei sozusagen eine Friedenstaube gewesen und habe diesem Krieg im Wege gestanden, und dann greift sozusagen ein Rädchen der Verschwörungstheorie in das andere, …
Heise: Wobei doch einige dieser Sachen, die Sie jetzt gerade genannt haben, tatsächlich auch so waren. Franz Ferdinand galt doch als ein Gegner des Krieges.
Leonhard: Aber er ist, wenn man ihn genauer ansieht, vielleicht sehr viel weniger wichtig in den großen Fragen vor 1914, als man ihm das jetzt zuschreibt, und er ist eine sehr viel ambivalentere Figur. Er gibt sozusagen Hinweise für eine Reform der österreichisch-ungarischen Monarchie, er ist gegen einen Präventivkrieg, aber er setzt sich auch dafür ein, dass Conrad von Hötzendorf – das ist der Generalstabschef in Wien nach 1911/12 – wiederberufen wird. Das ist sozusagen nicht Schwarz und Weiß und der Film legt diese Schwarz-Weiß-Charakterisierung nahe, damit das Verschwörungsnarrativ funktioniert.
Heise: Welche Rolle spielten denn damals eigentlich tatsächlich die Interessen der Deutschen? Beispielsweise ein Thema wird genannt im Film: Der Bau der Bahnstrecke Berlin-Bagdad sollte durch Serbien durchgehen. Daran waren die Serben aber nicht interessiert. Deswegen wollte man Serbien, so legt der Film nahe, unter Kontrolle bringen.
Mit den historischen Tatsachen relativ wenig zu tun
Leonhard: Ja, das ist, vorsichtig gesagt, sehr weit geholt. Die Bagdad-Bahn verläuft ursprünglich zwischen Istanbul und den heiligen Stätten Mekka und Medina, und selbst die Strecke ist 1914 noch weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein. Die Bagdad-Bahn auf dieser Strecke spielt für den deutschen Einfluss im osmanischen Reich eine Rolle, aber in dem Gebiet, das wir uns jetzt angucken, der Balkan, das südöstliche Europa, da hat es 1912 und 13 verheerende Balkan-Kriege gegeben. Kein Politiker, kein Finanzier hätte sich 1914 vorstellen können, dass man dort in näherer Zukunft ein positives Investment tätigt.
Das ist, finde ich, weit hergezogen und es legt nahe, es gibt nicht nur die militärischen Falken, sondern es gibt auch noch die, die sich an dem ganzen bereichern wollen. Das passt in das Verschwörungsnarrativ, hat aber mit den historischen Tatsachen relativ wenig zu tun. Es hat gerade zwischen Wien und Belgrad vor 1914 in der Frage der sogenannten östlichen Eisenbahn eher Verständigungstendenzen gegeben und nicht so sehr Antagonismus.
Heise: Das Attentat von Sarajewo im Juni 1914 - Thema eines ZDF-Films und jetzt hier im "Radiofeuilleton" mit dem Historiker Jörn Leonhard. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler beklagt in seinem jetzt gerade aktuellen Buch zum vor 100 Jahren ausgerufenen Ersten Weltkrieg die jahrelange Kriegsschuld-Debatte, die eine Ursachendebatte verstellt habe. Auch Sie in Ihrem aktuellen Werk arbeiten die vielfältigen Ursachen heraus. So ein Film ist natürlich ein Angebot für die breite Masse und will auch noch ganz andere Dinge bedienen. Aber ist er Ihrer Meinung nach absolut nicht differenziert genug?
Leonhard: Er legt sozusagen eine Fiktion zugrunde, die, glaube ich, auch sehr suggestiv funktioniert. Da ist der jüdische Beamte, der auch den Antisemitismus erlebt und der gegen die große Fahne der Wahrheit hält und die Hintergründe aufdeckt. Das ist ein interessanter Plot. Aber ich finde es problematisch, dass man zur Hauptsendezeit im Grunde genommen jetzt einen Film zeigt, der nahelegt, die Deutschen und die Österreicher haben einen Kriegsplan gehabt und warten nur darauf, ihn in die Tat umzusetzen.
Man muss sich immer vorstellen, nach dem Attentat gibt es vier Wochen, in denen im Grunde genommen kaum etwas passiert. Wenn es diese Kriegstreiber in dieser Form gegeben hätte, die sofort das Attentat nutzen wollten, um in einen Krieg einzusteigen, dann kann man das nicht erklären. Es gibt sehr viel mehr Widersprüchlichkeit und was der Film völlig außen vor lässt und was wir heute sehr intensiv diskutieren, ist die Verantwortung in St. Petersburg, in Paris, auch in London. Insofern legt der Film dann doch ein sehr aus den 50er- und 60er-Jahren stammendes Narrativ nahe, dass es nämlich die Kriegspartei von kohärent handelnden Akteuren in Berlin und Wien gewesen sei, die den Ersten Weltkrieg herbeigeführt hat.
Davon kann, wenn man sich die Akteure und die Quellen genau ansieht, keine Rede sein. Da gibt es wahnsinnig viele Widersprüche, da gibt es komplexe Sachverhalte, da gibt es sehr viele auch physische und psychische Zusammenbrüche von Menschen, die innerhalb kürzester Zeit viele Informationen verarbeiten müssen. Aber ich glaube, gerade diese Komplexität, diese Unübersichtlichkeit ist der Nährboden für solche Verschwörungstheorien. Das haben wir bei anderen Attentaten in der Geschichte, denken Sie an den Kennedy-Mord, denken Sie an 9/11, immer wieder erlebt.
Lernen aus der Geschichte?
Heise: Bleiben wir mal in der Jetztzeit, weil Sie da jetzt so weit vorgegangen sind, und gucken mal, ob man Lehren von vor 100 Jahren ziehen kann. Wir befinden uns gerade in einer Situation, die insgesamt natürlich nicht mit 1914 vergleichbar ist. Es bestehen ganz andere Bündnisse. Aber ein regionaler Konflikt beispielsweise spitzt sich momentan ja sehr, sehr gefährlich zu. Ich meine natürlich die Ukraine. Gibt es Lehren aus den damaligen Ereignissen, die auf heute passen?
Leonhard: Ich bin mit dieser Metapher "Lernen aus der Geschichte" sehr, sehr vorsichtig. Aber es gibt das, was ich Analogie mittlerer Reichweite nenne, also keine Lehren, mit denen man jetzt Krisen entschärfen kann. Aber etwas, was wir aus der Juni-Krise 1914, glaube ich, lernen können, ist die unglaubliche Komplexität von vielen Informationen, die in kurzer Zeit zusammenkommen, und ein ungeheuerliches Ereignis. Das ist dieses Attentat vom 28. Juni. Und dann entsteht in einer Öffentlichkeit natürlich das Bedürfnis nach einer Erklärung für das, was dort geschieht, und Erklärungen sollen in der Regel entweder oder anbieten und eben nicht die schwierige Situation dazwischen mit den Dingen, die man vielleicht auch nicht auflösen kann im Augenblick.
Wir sehen, glaube ich, sehr deutlich im Augenblick auch in der Ukraine, wie unglaublich schwierig es ist, Tatsachen zu erweisen. Was passiert da eigentlich wirklich vor Ort, welchen Akteuren, welchen Zeugen kann man eigentlich glauben? Das ist eine Situation, die wir durchaus auch im Sommer 1914 finden. Es ist auch noch mal eine ganz andere Frage, wie diese Dinge in der politischen Logik ausgenutzt werden, wie sie medial verkauft werden und was dann Historiker in jahrelanger Arbeit tun. Da sind auch verschiedene Geschwindigkeiten, wie Wahrheiten produziert werden und wie sie entstehen.
Deshalb, glaube ich, lehrt uns der Blick auf den Sommer 1914, sehr vorsichtig zu sein mit der vermeintlichen eindeutigen Identifizierung von Schuldigen und Unschuldigen. Das sind in der Regel sehr viel komplexere Prozesse.
Heise: Sagt der Historiker Jörn Leonhard. Vielen Dank, Herr Leonhard!
Leonhard: Bitte schön!
Heise: Sein aktuelles Werk zum Ersten Weltkrieg, "Die Büchse der Pandora: Geschichte des Ersten Weltkrieges", ist gerade im C. H. Beck Verlag erschienen und heute Abend um 20:15 Uhr läuft der Film von Andreas Prochaska, "Das Attentat", im ZDF.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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