Erinnerungskultur

Ende der Nachkriegszeit - Aufbruch in den Nationalismus?

Blick auf einen Linienbus im zerstörten Berlin der Nachkriegszeit (undatiertes Archivbild von 1945).
Ein Linienbus im zerstörten Berlin der Nachkriegszeit, 1945. © picture alliance / dpa
Von Ofer Waldman · 10.03.2017
Ist die von Helmut Kohl gepriesene "Gnade der späten Geburt" zeitlich begrenzt? Der Krieg und dessen mahnende Botschaft sind bereits aus unserem Gedächtnis verschwunden, warnt Ofer Waldman.
Über siebzig Jahre lang ruhte eine britische Fliegerbombe dicht unter der Oberfläche der Augsburger Innenstadt. Die gesamte Nachkriegszeit lauerte sie unter dem Kopfsteinpflaster, während über ihr Deutschland sich vom Krieg erholte, das Wirtschaftswunder erlebte, den kalten Krieg, die 68er, Brandt und Kohl, Wende und EU. Wie eine in Stahl gegossene Erinnerung konnte sie jederzeit, versehentlich detoniert, ihre tödlichen Splitter des Jahres 1944 in das Hier und Jetzt hineinschleudern.
Am ersten Weihnachtstag 2016 wurde sie dann entschärft: 54.000 Augsburger und Augsburgerinnen wurden in Sicherheit gebracht, während die Bombe - wahrscheinlich eine der letzten ihrer Art – unschädlich gemacht und aus der Tiefe geborgen wurde.

Schwelle von Erinnerung zu Geschichte

In Bezug auf den letzten Weltkrieg befinden wir uns an der Schwelle zwischen Erinnerung und Geschichte, schrieb vor einigen Jahren der Historiker Norbert Frei. Die letzten Zeitzeugen des Krieges, Opfer wie Täter, sterben. Die letzten greifbaren Erinnerungen, die Bomben unter unserem alltäglichen Leben, werden entschärft und entfernt. Die einstige Allgegenwärtigkeit des Krieges, ihre zentrale Rolle als der historische Bezugspunkt für Politik und Gesellschaft entschwindet allmählich.
Auch die immateriellen Hinterlassenschaften des Krieges büßen ihre scharfen Konturen ein. So im Falle des Asylparagraphs im bundesdeutschen Grundgesetz. Dieser wurde ursprünglich, auf der Erfahrung politisch und rassisch Verfolgter während der NS-Zeit basierend, klar und einfach formuliert: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Doch allmählich, unter dem Druck politischer Zwänge, wurde der einst so klare Wortlaut des Paragraphen relativiert, aufgeweicht, unter diversen Schichten juristischer Formulierungen begraben. Vermag da noch jemand die einstige Mahnbotschaft des Krieges erkennen?
Dieses Phänomen ist keineswegs allein auf Deutschland beschränkt. Mit dem Verblassen der Schreckenserinnerung des Krieges kommt der nationale Egoismus europa- und weltweit wieder in Mode. Der schleichende Rückgang des europäischen Einigungsprozesses gehört ebenfalls dazu. Weder die europäischen Politiker, noch ihre Wähler, tragen in sich eine lebendige Erinnerung an KZs und zerbombte Städte. Keiner bedenkt mehr den von Krieg und Vertreibung beeinflussten Gründungsmythos der EU.

Höcke und Petry ziehen "langersehnten Schlussstrich"

Auch in Deutschland, im einstigen Epizentrum der Katastrophe, wird dieser Prozess trotz vorbildlicher Erinnerungsarbeit sichtbar. Dazu gehören Björn Höckes öffentliche Äußerungen über das so genannte "Ende des Schuldkults" und vom "Holocaust-Denkmal als eine Schande". Diese als übliche rechtsextreme Hetze abzutun, wäre so leichtsinnig wie gefährlich. Höcke meinte damit den Geist der neuen Zeit zu treffen, und die abebbende öffentliche Empörung gibt ihm so weit recht.
Dies ist die eigentliche Botschaft vom Aufstieg der AfD: Die Nachkriegszeit ist vorbei. Höcke und Petry verwandeln politisch die Schwelle zwischen Erinnerung und Geschichte in den langersehnten Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg.

Die Nachkriegszeit ist vorbei, ihre Gewissheiten und Lehren, die universell und ewiggeltend schienen, werden relativiert. Angesichts neuer moralischer Herausforderungen bleibt es abzuwarten, ob auch jene berühmte "Gnade der späten Geburt", von Helmut Kohl gepriesen, ebenfalls zeitlich begrenzt war.


Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland erwarb er ein Diplom als Orchestermusiker und spielte unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Anschließend war er an der Israelischen Oper engagiert und absolvierte daneben ein Masterstudium in Deutschlandstudien an der Hebräischen Universität Jerusalem. Derzeit promoviert er an der Hebräischen Universität Jerusalem wie auch an der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

Der Publizist und Musiker Ofer Waldmann
© Kai von Kotze
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