Erinnerung und Versöhnung

Von Christina Schaffrath und Juliane Krebs · 20.12.2006
Am 21. Februar 1916 begann um den kleinen französischen Ort Verdun eine der schrecklichsten Schlachten des Ersten Weltkrieges. Bis zum 15. Dezember währte das zehnmonatige sinnlose Blutvergießen von deutschen und französischen Soldaten. Seither ranken sich um diese Ereignisse vor 90 Jahren Erinnerungen und Mythen.
Eine Kapelle mitten im Wald. Sie erinnert an die Ortschaft, die sich einst hier befand – Fleury. Während der Schlacht von Verdun wurde an dieser Stelle erbittert gekämpft. Heute erinnern nicht einmal mehr Ruinen daran, dass hier früher Menschen gelebt haben. Der Krieg hat alles ausgelöscht. Doch Fleury ist nicht vergessen: rot-weiße Pfähle markieren die Stellen, wo damals Häuser gestanden haben; Schilder bezeichnen die ehemaligen Dorfstraßen. Formell existiert der Ort weiter. Er hat eine Postleitzahl und einen Bürgermeister.

Besucherin B: "Ich finde gerade diese Anlage, wo man das Dorf noch richtig begehen kann und kann wirklich so die Landschaft erwandern, mit diesen Granatlöchern, das finde ich eigentlich mit am eindrucksvollsten. Denn diese Gräberfelder, die haben natürlich ein bisschen was künstliches, was nachgestelltes und hier hat man das Gefühl, man kann die Landschaft selber erfahren, beziehungsweise erlaufen."

Die Höhen von Verdun sind heute eine begehbare Gedenkstätte. Bevor der Erste Weltkrieg das Gelände für immer veränderte, war die Gegend rechts und links der Maas von Wäldern, Feldern, kleinen Dörfern und Festungsanlagen geprägt. Diese Anlagen stammten noch aus dem 19. Jahrhundert, in dem es 1870/71 bereits zum deutsch-französischen Krieg kam. 1914 standen sich beide Parteien erneut gegenüber. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. erklärte in diesem Jahr Frankreich und Russland den Krieg. Zu Beginn wollten die deutschen Generäle im Westen Frankreich durch einen schnellen Feldzug schlagen, um dann mit aller Kraft im Osten anzugreifen. Doch der Plan scheiterte. Die Westfront erstarrte im Stellungskrieg, eine neue Strategie wurde benötigt.

Gerd Krumeich: "Was wollten die Deutschen mit der Schlacht von Verdun erreichen, das ist eine relativ kontroverse Frage, noch heute in der Geschichtswissenschaft. Wollten sie durchbrechen oder wollten sie eine fast symbolische Schlacht machen, indem sie vor allem das Ziel hatten, die Franzosen auszubluten? In der Geschichtsschreibung wird das normalerweise so dargestellt, dass Falkenhayn, der Generalstabschef, eine Ausblutungsstrategie gehabt hatte, weil es ein Schriftstück gibt von Falkenhayn, was er nach dem Krieg veröffentlicht hat und was er auf Weihnachten 1915 datiert, die berühmt berüchtigte Weihnachtsdenkschrift, und in der steht ganz einfach, dass man den Krieg voran bringen muss, die Franzosen herausfordert an ihren stärksten Stellen und er schlage vor Verdun anzugreifen, weil Frankreich da auf jeden Fall nicht mehr zurückweichen könne und dann könne man in aller Ruhe an dieser Stelle Frankreichs Armeen verbluten lassen."

Für die Wahl Verduns als Angriffspunkt sprachen unterschiedliche Gründe. Logistisch bot es sich an, weil Metz sich seit 1871 in deutscher Hand befand. Aus dieser nur 80 Kilometer entfernten Stadt konnten die Truppen leicht versorgt und in Bewegung gesetzt werden. Ein anderer Grund war ideeller Natur: Verdun gilt den Franzosen als Wiege der Nation. Und hier wollten die deutschen Truppen nicht durchbrechen, wie General Falkenhayn es in seiner Weihnachtsdenkschrift angeblich schon 1915 ankündigte?

Gerd Krumeich: "Das Dokument ist sonst nicht überliefert, nur in den Memoiren von Falkenhayn. Und die Fragestellung hat mich dann dazu geführt und auch andere Forscher zu behaupten, dass dieses Dokument eine Fälschung ist, und in dieser Form überhaupt nicht existiert hat. Es gibt genug Hinweise darauf – zeitgenössische Hinweise – dass die Deutschen vom Weißbluten sprechen, vom Ausbluten der Franzosen, ab dem Zeitpunkt, wo sie verstehen, und das ist Mitte März 1916, dass sie nicht durchkommen. Plötzlich ab März 1916 sprechen sie alle so, die führenden Militärs, vorher überhaupt nicht. Das hat mich dann doch auf die These gebracht, zu sagen, dass das eine Theorie der Frustration nur ist und dass man in Wirklichkeit sehr wohl dort durchdringen wollte, Verdun einnehmen wollte. Was dann passiert wäre, ob man Frankreich vor Verdun definitiv hätte schlagen können, ist eine andere Geschichte. Voilà."

Der Historiker Gerd Krumeich ist Professor an der Universität Düsseldorf und Mitglied des internationalen Forschungszentrums zum Ersten Weltkrieg in Péronne. Er weiß, um die Ereignisse von Verdun ranken sich noch heute viele Mythen. Diese betreffen nicht nur die militärischen Hintergründe. Auch die ideelle Bedeutung Verduns ist für Deutschland und Frankreich bis heute nicht dieselbe.

Nicht in den Bereich der Mythen gehören die Gräuel, die sich an der Front abspielten. Denn die fortschreitende Industrialisierung erlaubte einen bis dahin ungekannten Materialeinsatz. Nicht vorstellbare Mengen an Granaten, Mienenwerfern und die neue automatische Waffe, das Maschinengewehr, konnten angefertigt und an die Front gebracht werden. Am 21. Februar 1916 begann das Trommelfeuer auf die französischen Stellungen. Das zentrale Gebiet, auf dem sich die Kämpfe abspielten, umfasste dabei nur eine Größe von ca. 20 km2. Anfangs drangen die deutschen Truppen rasch vor und eroberten die Festung Douaumont.

Besucher C: "Dicke Wände, hohe Gänge, leicht gruselig ist es schon. Wenn ich da jetzt ne Weile drin wäre, erdrückend, und dann hier überall nass, nicht schön."

Besucherin D: "Wenn man sich dann vorstellt, wie die hier gehaust haben, man weiß ja nicht, wie viel es zu essen gab, und dann die Kälte, dieses ganze Grauen da draußen, das ist schon schlimm."

Zitat Remarque: "Die Nacht ist ein Brüllen und Blitzen. Wir sehen uns bei sekundenlangem Licht an und schütteln mit bleichen Gesichtern und gepressten Lippen die Köpfe. Jeder fühlt es mit, wie die schweren Geschosse die Grabenbrüstung wegreißen, wie sie die Böschung durchwühlen und die obersten Betonklötze zerfetzen. Der Morgen ist da. Jetzt mischen sich explodierende Minen in das Artilleriefeuer. Es ist das wahnsinnigste an Erschütterung, was es gibt. Wo sie nieder fliegen ist ein Massengrab.
Noch eine Nacht. Wir sind jetzt stumm vor Spannung. Die Beine wollen nicht mehr, die Hände zittern. Der Körper ist eine dünne Haut über mühsam unterdrücktem Wahnsinn. Über einem gleich hemmungslos ausbrechendem Gebrüll ohne Ende. So pressen wir die Lippen aufeinander, es wird vorüber gehen, es wird vorüber gehen. Vielleicht kommen wir durch."


Erich Maria Remarque schildert in seinem Roman "Im Westen nichts Neues" das Schicksal der Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg. Die Umstände, unter denen sie kämpften sind heute unvorstellbar. Nicht endende Todesangst, die Bedrohung durch damals noch unbekannte Waffen wie Gas und Flammenwerfer und nicht zuletzt der ohrenbetäubende Lärm der Geschosse, der Tag und Nacht andauerte, zermürbten die Kämpfer.

Auf beiden Seiten wurde hart gekämpft. Bis Juli konnten die Deutschen weiter vordringen, dann wendete sich die Lage. Doch große Gebietsgewinne gab es auf keiner Seite. Tatsächlich umkämpften die Truppen einen Frontabschnitt von nur wenigen Kilometern Breite. Zudem begannen die Alliierten, Franzosen und Briten, im Juli 1916 ihren Gegenangriff weiter nördlich an der Westfront, an der Somme, was die deutschen Truppen vor Verdun zusätzlich schwächte. Letztlich konnte keine der beiden Seiten den Durchbruch erzwingen.

Gerd Krumeich: "Die Schlacht von Verdun versickert, weil keiner mehr daran teilnimmt. Stell dir vor es ist Schlacht und du gehst nicht hin. Verdun wird wirklich aufgelöst durch die Somme. Man kann sagen: Ab November, Dezember ist da nichts mehr los."

10 Monate dauerte die Schlacht von Verdun. Schon kurz nach ihrem Ende beginnt die Instrumentalisierung der Erinnerungen. Beide Nationen gedenken der Geschehnisse unterschiedlich. Hierfür ist anfangs vor allem eine militärische Entscheidung mitverantwortlich. Sie betrifft den Einsatz der Soldaten an der Front. Der Historiker Professor Jean-Jacques Becker ist Präsident des internationalen Forschungszentrums zum Ersten Weltkrieg in Péronne und ein Kollege von Professor Krumeich. Er erklärt die französische Strategie:

Jean-Jacques Becker: "Das ist eine französische Besonderheit in der Hinsicht, dass die Befehlshaber entschieden hatten, während des Kampfes nicht immer dieselben Einheiten einzusetzen, sondern, dass es eine Art von – wie soll ich sagen – Noria gab, ein durchlaufendes Band. In dem Maß, wie die Einheiten an der Schlacht teilgenommen hatten, wurden sie durch neue ersetzt und so kam es, dass fast dreiviertel der französischen Armee nach Verdun kam. Das hat also eine Rolle gespielt für die Bedeutung von Verdun in der französischen Erinnerung."

Feldpostbrief Frankreich: "Wir sind immer noch hinter der Linie im Lager von Châlons, wo das Bataillon neu aufgestellt wird. Wir haben diese Ruhe nötig, denn die 15 Tage, die wir in Verdun verbracht haben, die haben uns mehr ermüdet und demoralisiert als sechs Monate Krieg im Schützengraben. Aber, liebe Mutter, Du wirst verstehen, dass es beinahe unmöglich ist in diesem endlosen Krieg unbeschadet davonzukommen, wenn man ständig der Gefahr ausgesetzt ist. Du weißt es besser als ich, es gibt wenige Familien, die nicht mit einem oder mehreren Trauerfällen ihren Blutzoll diesem schrecklichen Krieg gegenüber entrichtet haben. Unsere Familie kann dieser Regel ohne Ausnahme nicht entgehen! Ohne Angst warte ich einfach nur, dass ich an die Reihe komme."

Gerd Krumeich: "Bei den Deutschen war es genau umgekehrt, die Leute, die kleinen Einheiten wurden, wie man es damals sagte, zu Schlacke verbrannt und erst abgelöst, wenn eine Kompanie von einer Sollstärke von 300 Mann plötzlich nur noch 60 oder 40 Mann hatte. Zur Schlacke ausgebrannt. Dann kamen sie zurück oder gar nicht. Bei den Soldaten blieb das Gefühl hängen, dort unnötig verbrannt, verheizt worden zu sein. Und in der soldatischen Literatur nach dem ersten Weltkrieg, ist das ein Fixpunkt der Bitterkeit, der soldatischen Bitterkeit."

Zitat Remarque: "Es ist Herbst. Von den alten Leuten sind nicht mehr viele da. Ich bin der letzte von sieben Mann aus unserer Klasse hier. Wären wir 1916 heimgekommen, wir hätten aus dem Schmerz und der Stärke unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt. Wenn wir jetzt zurückkehren sind wir müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können."

Und in der Heimat ahnte kaum jemand etwas. Denn auch in ihrer Berichterstattung unterschieden sich Frankreich und Deutschland. Während in Deutschland Nachrichten von der Front fehlten und die Erinnerung an Verdun nur bei den Soldaten verblieb, grub sich die Schlacht in Frankreich tief ins kollektive Gedächtnis ein. Die französische Regierung löste durch ausführliche Meldungen eine emotionale Beteiligung der gesamten Bevölkerung aus. Die Deutschen vor Verdun zu stoppen wurde zur patriotischen Pflicht.

Jean-Jacques Becker: "Als die Schlacht erst einmal angefangen hatte, wurde in ihrem Verlauf Verdun zu einem wichtigen Symbol des französischen Widerstandes. Man muss berücksichtigen, während des Krieges gab es ebenso wichtige Schlachten. Aber in Verdun ist es so, dass auf der einen Seite nur Franzosen und auf der anderen Seite nur Deutsche standen. Das ist wirklich der große Kampf zwischen diesen beiden Völkern. Und außerdem ist Verdun für die Franzosen die französische Schlacht schlechthin. Die Schlacht an der Somme ist hauptsächlich britisch, während in Verdun bis auf wenige Ausnahmen nur Franzosen kämpften und deshalb hat innerhalb des Gedenkens an den Krieg Verdun einen besonderen Platz behalten. Außerdem, man hört es oft aber es ist auch sehr wichtig: Verdun ist eine Verteidigungsschlacht. Frankreich verteidigt sich, und es verteidigt sich siegreich. Bevor der Krieg anfing hatte Verdun sicherlich eine Bedeutung, aber es ist noch nicht das Symbol, das es in der Folge wurde."

Bis heute bleibt die Schlacht von Verdun in Frankreich positiv besetzt. Sie steht für die große Tapferkeit der französischen Soldaten, die Bereitschaft ihr Land bis zum Tod zu verteidigen und den Stolz, dass dies auch gelang. Die Schrecken und das Opfern von Menschenleben werden dabei nicht verleugnet, doch die Franzosen sehen sich als schuldfreie Beteiligte. So erklärt sich vielleicht auch der unbefangenere Umgang mit der Vergangenheit. Noch heute –für die Deutschen ungewohnt- gibt es an den Gedenkstätten Kindermalbücher über die Front, Schlüsselanhänger in Form von Granaten und andere Souvenirs zu kaufen.

Im Gegenteil zu Frankreich erfuhr in Deutschland das Gedenken an Verdun mehrere Brüche. In den zwanziger Jahren war Verdun ein Symbol für das nutzlose Opfer, das von den Frontsoldaten erbracht wurde. Kurt Tucholsky schrieb 1924:

"Hier ist eine halbe Million Menschen gestorben. Hier haben sie sich bewiesen, wer Recht hatte in einem Streit, dessen Ziel und Zweck schon nach Monaten keiner kannte."

Diese Antikriegshaltung wurde immer mehr verdrängt, als die Nationalsozialisten und ihre wachsende Anhängerschaft das sinnlose Sterben in ihrem Sinne instrumentalisierten. Der Soldat von Verdun sollte gerächt werden.

Gerd Krumeich: "Die Nazis erfinden massiv den Verratstopos. Wir Soldaten sind verraten worden, vor Verdun und anderswo, aber vor allem vor Verdun. Wenn man dann sieht in dem Aufschwung der Verdunliteratur unter dem Nationalsozialismus: Da wird das dann klar gemacht, dass Verdun eben auch die Schlappheit des Systems war, die Schlappheit der Wilhelminer, und dass aus dem Soldaten von Verdun, der alles erlitten hat, der Mensch der Zukunft werden muss, der den Krieg noch gewinnen wird. Das ist die Nazi-Theorie von Verdun. Hitler war nie populärer als 1940 als er Verdun wieder eingenommen hat."

Der Mythos Verdun hatte noch die frühe Kriegspolitik der Nationalsozialisten genährt, im weiteren Kriegsverlauf spielte er aber keine Rolle mehr. Nach dem Krieg verlor Verdun die nationalsozialistisch geprägte Symbolik. An den Ersten Weltkrieg dachte nun ohnehin kaum noch jemand, die jüngste Vergangenheit musste bewältigt werden.

Anders als in Deutschland hat in Frankreich der Zweite Weltkrieg den Ersten nie im öffentlichen Bewusstsein verdrängt. In Frankreich blieb die Erinnerung an Verdun, doch Ende der 50er Jahre standen sich die beiden Länder zumindest nicht mehr feindlich gegenüber. Aber der Weg zur deutsch-französischen Freundschaft war noch weit. 1966 fand die Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Schlacht von Verdun statt – ohne deutsche Beteiligung. Zwar unterschrieben Kanzler Konrad Adenauer und General Charles de Gaulle bereits drei Jahre zuvor den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, jedoch ein gemeinsamer Besuch der Gedenkfeier am Gebeinhaus war noch nicht möglich.

Bruno Schwarz: "Das Gebeinhaus ist wohl das markanteste Denkmal überhaupt hier im Bereich um die Schlacht von Verdun. Die Länge, wie ich sie zeige, ist ungefähr 137 m, über der Mitte des lang gestreckten Gebäudes ist dieser Turm hier, der ist 46 m hoch angebaut. Ich habe schon gehört, dass die Farben der Trikolore hier nachts ausgestrahlt werden, blau, weiß, rot, und das soll symbolisieren, dass ihr Toten, die ihr gestorben seid für das französische Vaterland, nicht alleine seid, wir sind immer bei Euch."

Der Mythos von Verdun lebt an Ort und Stelle weiter. Und die Gefallenen werden weiterhin geehrt. So weihte Präsident Jacques Chirac erst in diesem Jahr eine neue Gedenkstelle ein, die ausschließlich den muslimischen Gefallenen gewidmet ist. Im Gebeinhaus dagegen werden die Knochen aller Kriegsteilnehmer aufbewahrt.

Besucher E: "Wir stehen jetzt hier vor einem Fenster, 40 mal 30 cm groß, eines von vielen und kucken in die Untergründe des Gebeinhauses von Douaumont, und hier sieht man eine Unzahl von Knochen verschiedenster Art, Oberschenkel, Schädelknochen, kleine, größere, und das soll die Anzahl von ca. 130 000 Gefallenen sein, die hier ihre sterblichen Überreste in diesem Gebeinhaus wieder finden."

Gerd Krumeich: "Was die Opferzahlen von Verdun angehen, gehören die wirklich zum Mythos. Wir finden immer wieder in der Literatur Angaben von 300.000 Toten auf beiden Seiten. Das wäre ja nach damaligen Begriffen ein echter Holocaust gewesen, nach damaligen Begriffen. Dies ist nicht der Fall. Wir haben inzwischen relativ präzise Zahlen. Und die zeigen, dass vor Verdun von beiden Seiten ungefähr eine Viertelmillion Verluste war, aber keineswegs Gefallene. Das sind dramatische Unterschiede. Das Wort Verluste bezeichnet die Gefallenen, die Verwundeten, die Vermissten, die in Gefangenschaft geratenen. Das sind die Verluste einer Armee. Ich hab im Sanitätsbericht für das deutsche Heer gesehen, die genaue Aufstellung für die Verdun Periode von 1916. Man spricht von knapp 60.000 gefallenen Soldaten. Das sind immer noch 60.000 zu viel. Aber das bringt jetzt eine Dimension wieder zum Vorschein, die das damals hatte. Ich will das nicht zynisch behandeln. Aber an der Somme sind viel mehr Menschen gefallen und das hat lange nicht den Lärm gemacht, auch da ist Verdun ein konstruierter Mythos. Weil hier die Gefallenen so öffentlich präsentiert werden, was woanders nicht der Fall ist."

Konstruiert oder nicht, 300.000 oder 60.000 Tote – in der Erinnerung bleibt Verdun die Hölle. Eine ganz spezielle deutsch-französische Hölle. Und als solche bleibt der Ort symbolträchtig – auch für die Politik. 1984 erlangte Verdun neue Aktualität und wurde ein wichtiger Baustein zur deutsch-französischen Freundschaft. Damals besuchten Francois Mitterrand und Helmut Kohl Verdun gemeinsam. Angesichts der menschlichen Tragödie halten die beiden Staatsmänner sich bei der Hand. Minutenlang. Ein Bild, das um die Welt ging.

Jean-Jacques Becker: "Das geschieht nicht in einer Woche, dass sich die Deutschen und die Franzosen wieder versöhnen. Das hat viel mehr Zeit gebraucht. Man musste an gemeinsamen Unternehmungen teilnehmen und schließlich den gemeinsamen Markt begründen, wie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, und ähnliches, so dass sich Deutschland und Frankreich nach und nach wieder annähern konnten. Jetzt stellt im Grunde niemand mehr – oder nur sehr wenige Personen – die deutsch-französische Freundschaft in Frage. Aber man macht sich nicht mehr bewusst, dass es, um dorthin zu gelangen, viel Zeit gebraucht hat und dass erst bestimmte Generationen verschwinden mussten. Für die junge Generation heute gibt es keine Feindschaft mehr zwischen Deutschen und Franzosen."

Gerd Krumeich: "Ich glaube schon, dass es seine guten Gründe hat, dass das Bild von Kohl und Mitterrand inzwischen anfängt aus den Schulbüchern zu verschwinden und in ein paar Jahren gar nicht mehr drin sein wird. Ich halte das für ein wichtiges historisches Thema, aber kein aktuelles Thema."

Ob es gut oder schlecht ist, die Eckdaten der deutsch-französischen Freundschaft langsam aus den Schulbüchern zu verdrängen, bleibt dahingestellt. Die Freundschaft an sich stellt die jüngere Generation längst nicht mehr in Frage. Sie erlebt Deutschland und Frankreich als Teil derselben europäischen Idee. Heute besuchen ca. 120.000 Franzosen und 30.000 Deutsche jährlich die Gedenkstätte Verdun. Viele haben einen ganz persönlichen Grund, um zu kommen – auch noch nach 90 Jahren.

Besucher F: "Mich interessiert das persönlich deswegen, weil mein Großvater väterlicherseits praktisch hier eingesetzt war, ich habe das alte Dienstbuch dabei. Da ist extra so ein Zettel reingeheftet worden damals, mitgemachte Schlachten, liest man öfters Verdun, kriege ich richtig eine Gänsehaut wenn ich jetzt dran denke, dass er das da überlebt hat, sonst wäre ich ja heute nicht da. Den habe ich noch kennen gelernt, bis zu meinem 10. Lebensjahr hat der noch gelebt."

Die Schlacht von Verdun lebt von Erinnerungen. Die persönliche Betroffenheit der Besucher bleibt angesichts der menschlichen Katastrophe, die hier stattgefunden hat. Verdun hat seinen Platz als Mahnmal des Krieges in der Geschichte gefunden.
Zitat Remarque: "Und ich weiß: all das, was jetzt, solange wir im Kriege sind, geschieht, versackt in uns wie Stein, wird nach dem Kriege wieder aufwachen, und dann beginnt erst die Auseinandersetzung auf Leben und Tod. Die Tage, die Wochen, die Jahre hier werden noch einmal zurückkommen, und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns marschieren und so werden wir marschieren, unsere toten Kameraden neben uns, die Jahre hinter der Front hinter uns: - gegen wen, gegen wen?"