Entwarnung an der Erziehungsfront

25.06.2012
Fünf Jahre lang hat sich der Soziologe Martin Dornes in soziale Beziehungen vertieft. In seinem hoch spannenden Buch "Die Modernisierung der Seele" präsentiert er seine Recherche und gibt schon im Vorwort Entwarnung: Kindern und Erwachsenen gehe es nicht nur gut, sondern besser als je zuvor in der Geschichte.
Bekannt für seine große Liebe zur Empirie legt Martin Dornes sein Buch als Festmahl belastbarer Daten an und durchleuchtet in acht Kapiteln das gesamte Spektrum der Aufregungsfelder: Werden Kinder heute tatsächlich vom Fernseher sozialisiert? Leiden sie unter einer Bindungsschwäche der Familie? Können sie mit Recht als Tyrannen bezeichnet werden, bar jeder Selbstkontrolle? Werden Jugendliche von allein erziehenden Eltern in die Rolle verloren gegangener Partner gedrängt? Wächst eine sexuell entfesselte "Generation Porno" heran? Sind Erwachsene von einer Zunahme psychischer Krankheiten, von Narzissmus und Körperstörungen gebeutelt?

Der Schwarzmalerei kann Martin Dornes eine imposante Zahl entwarnender Studien entgegenhalten. Danach sind Kinder und Jugendliche in Familie, Schule und Freizeit heute mehrheitlich mit ihrer Situation zufrieden. Die Beziehung zu ihren Eltern beurteilen sie überwiegend positiv, dasselbe tun die Eltern. An Kooperationsfähigkeit mangelt es den meisten Kindern in keiner Weise. Der diskursiv und partnerschaftlich gewordene Erziehungsstil hat sie weder tyrannisch noch egozentrisch gemacht, sondern glücklicher, selbstverantwortlicher, einfühlsamer und sogar intelligenter.

Warum aber sind Katastrophenszenarien so weit verbreitet? Nicht die Probleme seien gewachsen, erklärt Martin Dornes, sondern die Problemsensibilität. Dazu kämen gestiegene Ansprüche an die Erziehung, die Überalterung und damit der steigende Konservativismus der Lehrergeneration sowie Medien, die spektakuläre Einzelfälle von Jugendgewalt und Kindesmissbrauch zum allgemeinen Bedrohungsszenario aufbauschen. Sicherlich gebe es Problemfamilien, vor allem in marginalisierten Schichten. Eltern-Kind-Konflikte wurzelten hier aber eben nicht in zu viel Laissez-faire, sondern der alten Dressur-Pädagogik. Für die meisten anderen Kinder und Erwachsenen bestehe die Herausforderung heute eher darin, den Umgang mit der Freiheit und Pluralität unserer Gesellschaft immer wieder neu zu erkunden und auszuhandeln. Dies sei nicht immer einfach, gelinge der überwiegenden Mehrheit der Menschen jedoch beeindruckend gut.

Mit spürbarer Leidenschaft und einem sympathisch-trockenen Humor präsentiert der Autor seine Analyse und überschreitet nur in den theoretischen Erörterungen bisweilen die Grenze zum Fachbuch. Der Aufbruch der 1968er-Generation, zu der Martin Dornes gehört, liegt fast fünfzig Jahre zurück. "Die Modernisierung der Seele" stellt sich dem Backlash entgegen und zieht ein überzeugend positives Fazit der Neuordnung und Demokratisierung unserer sozialen Beziehungen - gründlich und gelassen, uneitel und selbstbewusst.

Rezensentin: Susanne Billig

Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele
Kind - Familie - Gesellschaft
S. Fischer Verlag
527 Seiten, 12,99 Euro