Engagement

Warum "sühnen" nach so langer Zeit?

Faksimile des Tagebuchs der Anne Frank, herausgegeben vom Anne-Frank-Museum in Amsterdam
Faksimile des Tagebuchs der Anne Frank, herausgegeben vom Anne-Frank-Museum in Amsterdam © picture-alliance/ dpa
Von Axel Schröder · 10.06.2014
Rund 240 junge Frauen und Männer reisen pro Jahr in Länder, die besonders unter den Gräueln der Nationalsozialisten gelitten haben. Dort engagieren sie sich in Projekten von Aktion Sühnezeichen. Doch warum tun sie das?
Im Anne-Frank-Haus ist die deutsche Geschichte ganz nah. Mitten im Stadtzentrum von Amsterdam liegt das schmale, hochaufragende Haus, in dem sich die damals 13-jährige Anne mit ihren Eltern und den Geschwistern zwei Jahre lang, bis zum Frühjahr 1945, versteckt hält. Heute leistet hier die 20-jährige Eva Krane ihr Freiwilliges Soziales Jahr ab. Eine schwarze Spange im langen blonden Haar, steht sie auf den historischen Holzdielen im Hinterhaus, die Vergangenheit ist greifbar:
"Ich habe es gern, wenn das Museum sehr leer ist. Oder wenn es noch nicht geöffnet ist und ich alleine hier durchgehe und man oben in den Zimmern sitzt oder steht, wo sie sich versteckt haben - das ist schon ein ganz merkwürdiges Gefühl und sehr beeindruckend. Man fühlt es in dem Moment und denkt: Hier hat sie wirklich ihr Tagebuch geschrieben, hier haben sich acht Menschen, die unschuldig waren, versteckt. Für so lange Zeit und haben versucht, das Beste draus zu machen. Haben so lange gekämpft und geschafft und dann doch nicht geschafft."
Mit ruhigen Schritten geht die junge Frau nach einer Besuchergruppe durch die Öffnung in der Holzwand. Während der deutschen Besatzung schieben die Franks zur Tarnung einen Schrank davor. Im Vorderhaus gehen die Angestellten ihrer Arbeit nach und ahnen nichts vom Versteck.
Im nächsten Raum hängen kleine Fernseher an der Wand: Anne Franks Vater ist zu sehen. Erzählt vom Fund des Tagebuchs.
Eva setzt ihren Rundgang fort, steigt die alten steilen Holztreppen hoch, bleibt im nächsten Raum kurz stehen, hält inne. Und sie beantwortet die Frage, die sich alle Freiwilligen von Aktion Sühnezeichen schon einmal gestellt haben, auf ihre eigene Art:
"Ich habe zu der Zeit nicht gelebt. Also kann es nicht meine persönliche Schuld sein. Es ist - glaube ich schon - eine Kollektivschuld von Deutschland. Man kriegt es mit, wenn man in Deutschland aufgewachsen ist. Durch Geschichtsunterricht, durch das, was ich von meinen Eltern und Großeltern gehört habe. Ich fühle mich nicht schuldig. Aber ich fühle mich verantwortlich für das, was war.
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Ortswechsel: 15 S-Bahn-Minuten vom Zentrum der niederländischen Hauptstadt liegt das Viertel Amsterdam-Zuidoost.
Heimat für Immigranten und Sozialhilfeempfänger. Für alle, die sich ein Leben im Zentrum nicht leisten können. Hier liegt - im ersten Stock eines schmucklosen Neubaus - das Jeannette-Noel-Haus. Für viele Flüchtlinge die letzte Zuflucht vor einer drohenden Abschiebung.
Im ersten Stock öffnet Carolin Walter die Tür. Wie Eva Krane macht auch sie ihr Freiwilliges Soziales Jahr, auch ihre Stelle hat Aktion Sühnezeichen Friedensdienste vermittelt. Carolin trägt die langen, blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden. In Jeans und Sweatshirt, erklärt sie die Wohnverhältnisse:
"Wir sind hier in fünf zusammenhängenden Wohnungen. Es ist praktisch wie eine WG organisiert. Hier ist die gemeinsame Küche, wir haben zwei gemeinsame Duschen, Und jeder trägt so ein bisschen seinen Teil dazu bei, dass es sauber bleibt. Und dann können wir mal weiter gehen: das ist unsere Hauskatze, Serafima. Die hat eigentlich mal einem Bewohner gehört, aber die ist jetzt zur Hauskatze mutiert."
In der Küche decken die Mitglieder der Wohngemeinschaft den Abendbrottisch, mittendrin wuseln kleine Kinder und Hauskatze Serafima. 17 Flüchtlinge leben im Noel-Haus. Ihre Asylanträge wurden abgelehnt, aber für alle besteht Hoffnung, dass das Blatt sich wendet, dass die laufenden Gerichtsverfahren die Entscheidungen der Behörden kippen.
Ein kleines Mädchen zupft an Carolin Walters Sweatshirt: Das Abendbrot steht bereit und die Kleine darf die Glocke läuten, die die Gemeinschaft zum Essen ruft. Carolin trägt sie auf dem Arm in die Küche, zur schweren Messingglocke an der Wand.
Die Einsatzorte, an denen Aktion Sühnezeichen Friedensdienste arbeitet, liegen in Belgien, Polen, Weißrussland - zwölf Länder sind im Programm. Wo sich die Freiwilligen am Ende einsetzen - ob in einem jüdischen Altersheim oder in einem Projekt für Flüchtlinge - so wie Carolin -, das entscheiden die Initiativen vor Ort, die die Hilfe der Freiwilligen brauchen.
Nach dem Essen geht Carolin ins Wohnzimmer. Auf dem breiten Sofa, Hauskatze Serafima auf den Schoss, erzählt sie, warum sie sich gerade hier engagiert:
"Ganz ursprünglich ist die Idee entstanden aus meiner Liebe oder meinem Interesse an fremden Kulturen und fremden Ländern. Zusammen damit, dass es mir wichtig ist, was gegen Rassismus und für Toleranz zu tun. Und dann hab' ich im Internet gegoogelt und bin dann auf ASF gestoßen."
Regelmäßig beschreibt Carolin in einem eigenen Internet-Tagebuch ihre Erlebnisse im Noel-Haus. Und diskutiert mit anderen Freiwilligen immer wieder über ein Thema: das der Schuld der Deutschen an den NS-Verbrechen, am Wegsehen ihrer Großväter und - mütter. Empfindet sie heute noch diese Schuld?
"Nicht direkt, nicht persönlich, als Mensch gegenüber anderen Menschen. Sondern im Zusammenhang mit dem geschichtlichen Hintergrund. Weil eben jeder, auch ich, Produkt von der deutschen Geschichte bin. So ist es nun mal und dagegen kann man sich nicht wehren. Ich halte es nicht für eine Pflicht, aber dennoch für eine gute Sache.
Ein kleines Mädchen schaut um die Ecke, grinst breit in Carolins Richtung. Es ist Schlafenszeit für die Kinder. Die deutsche Helferin hebt sanft die Hauskatze vom Schoss, nimmt die Kleine an die Hand, wird woanders gebraucht.