Einmischung der Wissenschaftler

11.04.2007
Mit dem Beginn des Kalten Krieges begann das atomare Wettrüsten zwischen den beiden Supermächten und ihren Verbündeten. 1957 wandten sich daher Atomwissenschaftler mit der "Göttinger Erklärung" an die Öffentlichkeit, um auf die Gefahren der atomaren Rüstung aufmerksam zu machen. Sie erklärten, keiner der Unterzeichner würde sich an der Herstellung oder Erprobung von Nuklearwaffen beteiligen.
"(Ja,) also, der konkrete Anlass war, dass wir inzwischen erfuhren, dass die Bundesrepublik den Wunsch hatte, selbst für die Bundesrepublik Atombomben zu haben. Und wir waren überzeugt - ich will mal meine eigene Überzeugung zunächst vor allem sagen, aber die anderen dachten ähnlich -, ich war überzeugt, dass die Verbreitung der Kernwaffen auf immer mehr Länder ein großes Unglück für die Menschheit sei. Und wir wollten verhindern, dass die Atomwaffen sich noch weiter verbreiten."

So Carl Friedrich von Weizsäcker über die Motive, die ihn und 17 andere Atomwissenschaftler veranlasst hatten, vor 50 Jahren, am 12. April 1957, in einer öffentlichen Erklärung auf die Gefahren der atomaren Rüstung aufmerksam zu machen.

Fast alle namhaften westdeutschen Atomphysiker hatten den Text unterzeichnet. Etwa Heinz Maier-Leibniz, Wolfgang Paul, Walther Gerlach und Karl Wirtz. Außerdem fanden sich die Namen der drei Nobelpreisträger Werner Heisenberg, Max Born und Max von Laue unter dem Dokument. Und auch Otto Hahn unterstützte die Erklärung. Er hatte 1938 gemeinsam mit Fritz Straßmann die Kernspaltung entdeckt. Hahn, Nobelpreisträger für Chemie von 1944 und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, ließ den Text am Vormittag des 12. April 1957 aus Göttingen telefonisch der Presse übermitteln - und so kam die Warnung der 18 Atomwissenschaftler zu ihrem Namen - "Göttinger Erklärung".

Angestoßen aber wurde das Ganze durch Carl Friedrich von Weizsäcker. Er hatte den Text verfasst, und sich darum gekümmert, dass die Unterschriften seiner Kollegen zusammen kamen.

"Wenn Sie mich fragen, ohne Carl Friedrich von Weizsäcker würde es die Erklärung nicht geben, Heisenberg war viel zu krank in der damaligen Zeit, (...) der einzig politisch denkende Kopf in dieser Runde war Carl Friedrich von Weizsäcker..."

sagt der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer von der Universität Konstanz. Im April 1957 war Weizsäcker Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen:

"Jedenfalls aber waren wir damals der Meinung, (...) dass die Atomwaffen nicht sich noch über alle möglichen anderen Länder verbreiten sollten. Und das wollten wir öffentlich vertreten. Um das aber öffentlich zu vertreten, war das Wichtigste, dass wir zunächst öffentlich klarmachen, dass wir für Deutschland, für unser eigenes Land, keine Atomwaffen haben wollen."

In der "Göttinger Erklärung" hatten die Atomwissenschaftler ihre Auffassung folgendermaßen formuliert:

"Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen."

Im Zweiten Weltkrieg hatten auch deutsche Wissenschaftler unter der Leitung von Werner Heisenberg im so genannten Uranprojekt an der Kernenergienutzung gearbeitet. Bis heute wird unter Historikern und Physikern die militärische Option kontrovers diskutiert. Standen ihnen seinerzeit die wirtschaftlichen Mittel und technischen Voraussetzungen zum Bau einer Bombe zur Verfügung? Oder gab es damals nur deshalb keine deutsche Atombombe, weil Heisenberg und seine Mitarbeiter ihre Arbeiten bewusst verzögert hatten?

Von einem Spezialkommando der Amerikaner und Briten waren die deutschen Atomwissenschaftler in den letzten Kriegstagen aufgegriffen worden. Anfang Juli 1945 wurden sie nach Großbritannien gebracht und in Farm Hall, einem Landsitz bei Cambridge, interniert. Damit konnten Briten und Amerikaner verhindern, dass die Sowjetunion der Wissenschaftler habhaft wurde.

Zur gleichen Zeit standen in den Vereinigten Staaten die britisch-amerikanischen Arbeiten an der Bombe im so genannten Manhattan-Projekt kurz vor dem Abschluss. Am 16. Juli 1945 zündeten die Amerikaner in New Mexiko erstmals eine Atombombe. Und nur drei Wochen später, am 6. August 1945 zerstörte eine amerikanische Atombombe die japanische Stadt Hiroshima.

"Ich habe, als ich gehört habe, wir waren in England 1945 festgesetzt, eine ganze Reihe von Kernpysikern, der berühmte Professor von Laue, Professor von Weizsäcker, Professor Heisenberg, Professor Gerlach und ich, und noch ein paar mehr, und da habe ich erstmal privat, von meinem englischen Vorgesetzten dort, erfahren, (...) die Amerikaner haben eine Atombombe geworfen. Und da habe ich noch gefragt, wohin? In Japan, auf eine bevölkerte Stadt. Und als ich das hörte, war ich entsetzt und erschrocken."

Mit diesen Worten erinnerte sich Otto Hahn 1955 im Norddeutschen Rundfunk an die Nachricht vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. Major Rittner, seinem, wie er ihn nannte, "englischen Vorgesetzten" in Farm Hall, sagte er, er fühle sich verantwortlich für den Tod von Hunderttausenden, weil es schließlich seine Entdeckung gewesen sei, die die Atombombe erst möglich gemacht habe.

Otto Hahn selbst informierte seine Kollegen dann vor dem Abendessen auf dem Landsitz darüber, dass die Amerikaner eine Atombombe über Hiroshima gezündet hatten. Doch die anderen Wissenschaftler reagierten skeptisch und wollten das zuerst nicht glauben. Sie vermuteten vielmehr eine alliierte Finte hinter dieser Meldung, um die Japaner zur Kapitulation zu bewegen. Erst die Nachrichten der BBC beseitigten ihre Zweifel:

"Scientists, britisch and american, had made the atomic bomb at last. The first one, was droped on an japanese city this moring. It was designed for a detonation equal to 20.000 tons of high explosives. Thats 2000 times the part of one of the (...) ten ton bombs of orthodox design. President Truman gave the news this afternoon in a statement from the White House. President Truman added, that the atomic bomb opens up a new (...)"

Schon kurze Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren aus den Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition erbitterte Gegner geworden, die in der ganzen Welt versuchten, Einfluss und neue Partner zu gewinnen: Die sowjetische Blockade Westberlins, der Koreakrieg oder die Suezkrise, all das sind damals wie heute Signaturen für den Kalten Krieg zwischen Ost und West gewesen.

An der deutsch-deutschen Grenze standen sich die amerikanisch geführten Truppen der NATO und die Verbände des Warschauer Pakts unter sowjetischem Kommando quasi Auge in Auge gegenüber. Wäre es damals zu einer kriegerischen Auseinandersetzung der beiden Großmächte USA und Sowjetunion gekommen, so hätte dieser Krieg hier, an der Nahtstelle zwischen Ost und West, stattgefunden. So lautete die Option in Moskau und Washington.

Im Mai 1955 war die Bundesrepublik Mitglied der NATO geworden, im November des selben Jahres begann der Aufbau der Bundeswehr. Allerdings durften die deutschen Soldaten nicht über Atomwaffen verfügen. So war es in den Pariser Verträgen geregelt.

Im Sommer 1956 wurde bekannt, dass die USA im Rahmen einer neuen Militärdoktrin planten, ihre Truppen mit taktischen Atomwaffen auszurüsten. Gleichzeitig war beabsichtigt, die Truppenstärke der in der Bundesrepublik stationierten Verbände zu reduzieren. - In Bonn schrillten die Alarmglocken.

Im Oktober 1956 übernahm Franz-Josef Strauß das Amt des Verteidigungsministers. Wie Bundeskanzler Adenauer zeigte sich auch Strauß entschlossen, die Kernwaffen in die militärische Planung einzubeziehen. Denn beide befürchteten, dass die Bundesrepublik ohne diese Waffen in der Gefahr stehe, eine leichte Beute der Sowjets werden zu können. Als sowjetische Truppen in Ungarn einmarschierten, war das für die Bundesregierung ein erneuter Beweis der militärischen Bedrohung des Westens durch die östliche Supermacht.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurde im Bundeskabinett mehrfach über die Folgen der amerikanischen Umrüstungspläne beraten. Im September 1956 vertrat Adenauer den Standpunkt, man werde sich "der Fortbildung der konventionellen Waffen bis zur Verwendung nuklearer Artillerie und nuklearer Handfeuerwaffen (...) nicht entziehen" können.

Im Dezember 1956 schließlich forderte der Kanzler am Kabinettstisch nicht nur, "es sei (...) dringend erforderlich, dass die Bundesrepublik selbst taktische Atomwaffen besitze", - er wünschte eine eigene Produktion dieser Waffen! Die Absichten der Amerikaner bereiteten ihm auch angesichts des stockenden Aufbaus der Bundeswehr große Sorge. Und der Kanzler fürchtete, seinen Einfluss auf die Verbündeten zu verlieren. In dem bis 1980 als "geheime Verschlusssache" eingestuften Protokoll der Kabinettssitzung vom 19. Dezember 1956 ist folgendes zu lesen:

"Der Bundeskanzler bedauert den mangelnden Einfluss der Bundesrepublik in der NATO. Auch hier gelte der Machtfaktor. Wenn die Bundesrepublik jetzt schon eine Bundeswehr von 200.000 Mann hätte, würde die Bundesregierung auch ein stärkeres Mitspracherecht haben. Es müsse also gefordert werden, den Aufbau der Bundeswehr in Einklang mit den Verpflichtungen beschleunigt durchzuführen, eine Zusammenfassung Europas voranzutreiben und nukleare Waffen in der Bundesrepublik herzustellen."

"Nun, ich weiß, es ist jetzt lange her, und meine Erinnerung ist vielleicht nicht ganz genau, aber es war ja klar, wenn man deutsche Atomwaffen machen wollte, dann musste man sie mit den deutschen Atomphysikern machen, und ich war einer der deutschen Atomphysiker und insofern erfuhr man als deutscher Atomphysiker selbstverständlich, dass die Regierung daran interessiert war, dass man diese Waffen baut."

Erinnert sich Carl Friedrich von Weizsäcker. - Im Gegensatz zu Konrad Adenauer, der sich mit entsprechenden öffentlichen Äußerungen zurückhielt, ließ Verteidigungsminister Strauß erst gar keine Zweifel an seiner Option der atomaren Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen. Doch dann unterlief dem Bundeskanzler ein folgenschweres Missgeschick, sagt der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer. Auf einer Pressekonferenz am 5. April 1957 behauptete der Kanzler,

"dass die Atomwaffen im Grunde genommen, also taktische Atomwaffen, wie das damals noch schön hieß, im Grunde genommen nichts anderes sind als die normalen Waffen von Artillerie. Quasi, als ob sie früher mit dem Taschenmesser gekämpft hätten und jetzt plötzlich mit dem Brotmesser kämen, und da waren die Wissenschaftler doch entsetzt und man hatte das Gefühl, jetzt müsste man an die Öffentlichkeit gehen."

In seinen Memoiren schildert Adenauer den Vorfall in folgender Weise. Die Frage, ob die Bundeswehr seiner Ansicht nach mit Atomwaffen ausgerüstet werden soll, hat er danach so beantwortet:

"Unterscheiden Sie doch die taktischen Atomwaffen und die großen atomaren Waffen. Die taktischen Waffen sind nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich können wir nicht darauf verzichten, dass unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung die neueste Entwicklung mitmachen."

Gegen diese Verharmlosung der Atomwaffen durch Bundeskanzler Adenauer bezogen die Wissenschaftler in der "Göttinger Erklärung" dezidiert Stellung. Einleitend schrieben sie:

"Die Unterzeichneten fühlen sich (daher) verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen."

Und dann kamen sie zur Sache:

"Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im Ganzen sehr viel größer sein. Als ‚klein‘ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten ‚strategischen‘ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben."

Der tödlichen Wirkung dieser Waffen sei die Bevölkerung schutzlos ausgeliefert! - betonten die Wissenschaftler und gaben ein erschreckendes Beispiel:

"Heute kann eine taktische Atomwaffe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebiets zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen."

Auch deshalb erklärten die 18 Atomwissenschaftler, sie seien nicht bereit, sich an der Herstellung von Atomwaffen zu beteiligen. Vor allem bei Otto Hahn saß der Schock darüber besonders tief, dass die Amerikaner 1945 tatsächlich Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geworfen hatten. Er machte sich sein Leben lang Vorwürfe darüber, dass erst durch seine Entdeckung der Kernspaltung ein Bau von Atombomben möglich geworden war. Wir können es nicht verantworten, sagte er 1955 in einem Interview,

"oder, (z..), ich persönlich nicht, dass wir uns jetzt dazu hergeben sollen, selbst Atombomben zu machen, nachdem wir früher entrüstet waren, dass die Anderen es getan haben."

Die öffentliche Resonanz auf die Göttinger Erklärung war überwältigend und überwiegend zustimmend. Eine ganze Woche lang prägten der Text und die Wissenschaftler das Erscheinungsbild der überregionalen Tagespresse. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" beispielsweise schrieb von einem "ergreifenden Dokument", weil der Abgrund, an dessen Rand die Welt stehe, mit nüchternen Worten und in seinem ganzen Schrecken aufgezeigt werde. Die "Süddeutsche Zeitung" erhob den Text gar zum "Manifest", weil er die lebensgefährliche Verharmlosung der Atomwaffen durch die westdeutsche Regierung "manifest", eben: "offenkundig" mache.

Im Rückblick erinnert sich Carl Friedrich von Weizsäcker an die Reaktionen auf die "Göttinger Erklärung" in folgender Weise.

"Wenn die damaligen Politiker auch Deutschland an Atomwaffen beteiligen wollten, dann mussten sie für Deutschland selbst schon solche Waffen bauen. Und dieser Gedanke war uns eben wichtig, und dass das dann große öffentliche Resonanz gefunden hat, darüber waren wir sehr zufrieden, aber ich weiß nicht genau, ob ich erklären kann, warum das so große Resonanz gefunden hat, aber der wahre Grund war eben doch wohl, dass die damalige Bundesregierung, also Adenauer als Kanzler und Strauß dann als Verteidigungsminister selber Bomben haben wollten."

Die ersten Stellungnahmen der Bundesregierung zur "Göttinger Erklärung" waren schroff und zurechtweisend. Der Bundeskanzler fühlte sich auch persönlich angegriffen, zumal er von einigen der Unterzeichner regelmäßig in atomwissenschaftlichen Fragen beraten wurde. Besonders verärgert zeigte er sich darüber, dass er vor der Veröffentlichung der Erklärung von niemandem um eine Aussprache gebeten worden war. Zwar habe er keine Zweifel an der wissenschaftlichen Kompetenz der Forscher, doch von Politik hätten die Herren keine Ahnung, - erklärte Adenauer einen Tag später in Köln.

Verteidigungsminister Franz Josef Strauß schlug in die gleiche Kerbe. Im Westdeutschen Rundfunk nahm er ausführlich Stellung zur Erklärung der Atomwissenschaftler:

"Der Bundesregierung und insbesondere dem Verteidigungsministerium ist die Wirkung der Atomwaffen auf Grund der vorliegenden genauen Informationen aus dem Ausland mindestens ebenso bekannt wie den Wissenschaftlern. Die in diesem Aufruf unterzeichneten Wissenschaftler verfügen aber nicht über eine ausreichende Kenntnis der politischen und militärischen Zusammenhänge. Und sie sind insbesondere nicht verantwortlich für die Sicherheit der Bundesrepublik und für den Schutz Europas gegen einen sowjetischen Überfall. Das Bündnissystem, dem wir angehören und die Ziele unserer Verteidigungspolitik sind ausschließlich darauf abgestellt, einen Krieg zu verhindern und jeden eventuellen Angreifer von vornherein von dieser Absicht abzuhalten."

Außerdem gefährde die Erklärung der Atomwissenschaftler die notwendige weltweite Abrüstung, erklärte Franz Josef Strauß weiter:

"Dieser Aufruf birgt die Gefahr in sich, wie man einmal ganz deutlich sagen muss, dass die Hoffnungen der Sowjets, den Westen zu einer einseitigen Abrüstung zu bestimmen, verstärkt werden und damit die Aussicht auf die notwendige weltweite Abrüstung vermindert wird. Ein solcher Aufruf ist ohne Fühlungnahme mit der für die Politik des Landes verantwortlichen Regierung ein leichtfertiges Experiment. In dieser Auffassung ist die Bundesregierung durch die begeisterte Zustimmung der kommunistischen Presse in der Sowjetzone zu diesem Aufruf bestätigt worden."

"Aber wir waren keine Kommunisten, ..."

wendet Carl Friedrich von Weizsäcker ein,

"... wir waren ganz ausdrücklich auf der westlichen Seite in der Politik. Aber wir glaubten, dass die Menschheit nicht überlebt, wenn sie Atomwaffen allgemein verbreitet.
Und wenn man das öffentlich sagen wollte, dann musste man doch als erstes sagen, dass man für das eigene Land auch keine wollte."

Die Sorge um das Überleben der Menschheit im Atomzeitalter war für Carl Friedrich von Weizsäcker ein zentrales Motiv für sein Engagement im Kreis der Wissenschaftler. Die Menschheit werde nur überleben können, wenn sie die Institution des Krieges überwinde:

"Nun, die Institution des Kriegs ist noch nicht überwunden worden, aber (...) der Krieg zwischen USA und Sowjetunion hat ja dann nicht stattgefunden und es ist möglich, dass er nicht stattgefunden hat, weil beide wussten, dass sie sich gegenseitig töten würden, wenn sie in einem Krieg Atomwaffen einsetzen würden."

Der Atomkrieg war in den fünfziger Jahren eine reale Gefahr. Und im Herbst 1962 stand die Welt in der Kubakrise tatsächlich am Abgrund. Nicht viel hat damals am Einsatz einer Atombombe gefehlt. Die Menschen hatten Angst. Auch die Erinnerung an den letzten Krieg war noch frisch. Angesichts des großen Zuspruchs, den die "Göttinger Erklärung" vom 12. April 1957 in der Öffentlichkeit fand, musste die Bundesregierung ihren Konfrontationskurs aufgeben und zurückrudern.

Der Kanzler reagierte blitzschnell und lud die Unterzeichner der "Göttinger Erklärung" zum Gespräch. Schon am 17. April empfing er eine Abordnung der Atomwissenschaftler: die Professoren Walther Gerlach, Otto Hahn, Max von Laue, Wolfgang Riezler und Carl Friedrich von Weizsäcker. Unterstützung holte Adenauer sich in Person von Franz Josef Strauß und der Staatssekretäre Walter Hallstein, Hans Globke und Josef Rust. Den militärischen Part übernahmen die Bundeswehrgenerale Hans Speidel und Adolf Heusinger.

Sieben Stunden saßen der Kanzler und sein Stab mit den Wissenschaftlern zusammen. Im Anschluss daran wurde der Öffentlichkeit ein gemeinsames Kommuniqué vorgelegt. Von Vorwürfen der Bundesregierung an die Wissenschaftler war darin keine Rede mehr:

"Die Bundesregierung teilt die Besorgnisse, die in der genannten Erklärung zum Ausdruck kommen. Sie stimmt mit den Motiven und Zielen der Wissenschaftler überein und empfindet volles Verständnis für die Verantwortung, die die Atomwissenschaftler für die Entwicklung in einer Welt der Spannung zwischen Ost und West in sich fühlen."

Die Wissenschaftler betonten noch einmal ihre Sorge vor der atomaren Rüstung:

"Die Atomforscher, die an der Besprechung teilgenommen haben, wünschen zum Ausdruck zu bringen, dass es nicht ihr Hauptziel war, nur die Bundesrepublik aus einem allgemeinen Verhängnis herauszuhalten, sondern sie wollten eine Initiative zur Abwehr dieses die Welt bedrohenden Verderbens ergreifen. Sie waren der Meinung, in dem Staate beginnen zu müssen, dessen Bürger sie sind.""

Und schließlich wurde in dem Kommuniqué klargestellt,

"dass die Bundesrepublik nach wie vor keine eigenen Atomwaffen produzieren wird und dass die Bundesregierung demgemäß keine Veranlassung hat, an die deutschen Atomwissenschaftler wegen einer Beteiligung an der Entwicklung nuklearer Waffen heranzutreten."

Die Presse druckte das Kommuniqué und berichtete ausführlich über das Treffen. Und damit war die Sache erledigt! An einer Fortsetzung ihres politischen Engagements waren die meisten der beteiligten Atomphysiker nicht mehr interessiert. Sie hatten ihre Bedenken vorgetragen und gingen nun wieder ihrer wissenschaftlichen Arbeit nach. Einige von ihnen standen sich schließlich auch gut mit der Bundesregierung und wollten diese auch weiterhin bei allen Fragen um die industrielle, die "friedliche" Nutzung der Kernenergie beraten.

Die Forschung zur friedlichen Nutzung der Atomenergie war den westdeutschen Physikern Mitte der fünfziger Jahre zugestanden worden, erläutert der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer:

"Sie wollten natürlich, so wie andere Nationen, Frankreich, Italien, England und natürlich auch die USA, Atomforschung betreiben. Dazu brauchte man einen Atomreaktor und den hatten sie ja auch genehmigt bekommen von den Amerikanern. Werner Heisenberg und Kollegen sind ja extra nach Washington gefahren, haben das erörtert (und) in Abstimmung mit der Regierung Adenauer."

Damit war ein lange gehegter Wunsch der westdeutschen Physiker in Erfüllung gegangen, sagte Carl Friedrich von Weizsäcker 1995 im Bayerischen Rundfunk:

"Wir wollten sehr gerne wieder friedliche Nutzung der Kernenergie machen, wir waren überzeugt, dass man damit der Menschheit oder auch dem eigenen Volk ein so großes Geschenk macht, dass das vielleicht sogar eine gewisse, ein gewisser Trost darüber ist, dass diese schrecklichen Waffen daraus entstanden sind."

"Aber dahinter stand natürlich auch, dass die insgesamt nicht den Anschluss an die Atomforschung verlieren wollten,"

ergänzt Ernst Peter Fischer.

"Wissenschaft brauchte damals immer mehr Geld, Wissenschaft wurde Großforschung, Wissenschaft brauchte Atomreaktoren, Wissenschaft brauchte auch Beschleunigungsinstrumente, Wissenschaft brauchte ganz neue technische Dimensionen, und da musste man natürlich, (...) mitarbeiten, (und jetzt ist die Frage), da wollte man mitmachen."

Und das taten die Atomwissenschaftler dann auch. Adenauers Ansehen in der Öffentlichkeit war durch den Disput um die "Göttinger Erklärung" nicht dauerhaft beschädigt worden. In der westdeutschen Bevölkerung war offensichtlich die Angst vor dem Kommunismus größer als die vor der Atombombe. Bei der Bundestagswahl im Herbst 1957 fuhr Adenauer als Spitzenkandidat seiner Partei so einen glänzenden Wahlsieg ein.

Mit 50,2 Prozent der Stimmen übertrafen CDU und CSU noch ihr Ergebnis aus der Wahl des Jahres 1953. Mit dieser absoluten Mehrheit im Rücken setzte das neue Kabinett Adenauer die Politik zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr fort. Dagegen ergriff nun auch die Opposition im Parlament die Initiative und rief im März 1958 die Kampagne "Kampf dem Atomtod" ins Leben. Obwohl sich diese Bewegung mit gewerkschaftlicher und prominenter außerparlamentarischer Unterstützung schnell im Land ausbreitete, kam sie für die Abstimmung im Bundestag am Ende des Monats zu spät. Nach sechstägiger Debatte verabschiedete die Mehrheit der Regierungskoalition einen Entschließungsantrag der Unionsparteien. Er schuf die Voraussetzungen zur Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen unter NATO-Befehl. Das ursprüngliche Begehren von Adenauer und Strauß jedoch, Atomwaffen in deutsche Hand zu bekommen, war damit aber nicht erreicht!

Allerdings fand dieser Protest gegen die atomare Bewaffnung in Westdeutschland nun weitgehend ohne die Unterzeichner der "Göttinger Erklärung" statt. Nur Max Born unterschrieb den "Aufruf des Arbeitsausschusses ‚Kampf dem Atomtod‘" vom 10. März 1958. Und Carl Friedrich von Weizsäcker wurde nie müde, in Vorträgen und Publikationen vor der Atomwaffe zu warnen.

Doch schmälert diese Passivität der 18 Atomwissenschaftler als Gruppe in der Kampagne "Kampf dem Atomtod" den Stellenwert der Göttinger Erklärung nicht,

"(Aber) ich würde insgesamt sagen, dass die Göttinger Erklärung, die Passivität danach, oder sagen wir die Stille danach, (....) die entwertet die Göttinger Erklärung nicht."

Urteilt Ernst Peter Fischer, Wissenschaftshistoriker an der Universität Konstanz:

"(Und) jetzt war an dieser Stelle sowieso nichts zu machen. Der Beschluss war, also mit der absoluten Mehrheit der CDU im Bundestag leicht durchzuführen, man hatte gewarnt, man hatte seine anständige Grundhaltung gezeigt, man hatte was man physikalisch, also technisch-physikalisch haben wollte, und alles andere wäre jetzt nur zu neuem Ärger und Verdruss geworden. Und was ich jetzt noch glaube, ist zum Beispiel: Carl Friedrich von Weizsäcker ist ja später immer wieder Berater von Regierungen geworden, und Sie werden sicher nicht Berater, wenn Sie von vornherein so mit Protesten auflaufen, sondern Sie bieten einfach im Stillen Ihre Arbeit an und das ist vielleicht auch insgesamt besser, denn vermeiden konnten Sie den Beschluss nicht mehr und jetzt gehen Sie dann hin und versuchen an den Stellen der Macht mitzuwirken, beratend, erklärend erläuternd."

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob und was sich bei einem erneuten Engagement der achtzehn Atomwissenschaftler möglicherweise anders entwickelt hätte. Ihr Schritt vom 12. April 1957 hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass die Bundesrepublik zu keiner Zeit Atomwaffen selber hergestellt oder im Ausland erworben hat. Und möglicherweise ist die "Göttinger Erklärung" auch ein Grund dafür, dass die Bundesrepublik bis heute keine Atommacht ist. Ernst Peter Fischer:

"Also wenn man die heute, diese, liest, diese Erklärung fünfzig Jahre später, dann wird dann natürlich in dieser Erklärung etwas gesagt, was quasi heute Schulstoff ist, [lacht]und da fragt man sich, so dass die auf uns etwas komisch wirkt, also dass man einem erklären muss, dass durch eine Atomwaffe eine ganze Stadt vernichtet werden kann. (...) Es ist immer ein bisschen albern sich zu wundern, wie wenig die Leute vor fünfzig Jahren wussten, in fünfzig Jahren werden sich die Leute darüber wundern, wie wenig wir wussten."

Vor fünfzig Jahren aber war diese Aufklärung der Öffentlichkeit über die Wirkung von Atomwaffen notwendig geworden, weil die Gefahren der atomaren Waffen vom damaligen Bundeskanzler Adenauer verniedlicht worden waren. In der "Göttinger Erklärung" vom 12. April 1957 hatten deshalb die führenden westdeutschen Atomwissenschaftler eindringlich auf die gewaltige und alles zerstörende Kraft der Atombomben aufmerksam gemacht.

"Das ist ein mutiger Schritt gewesen, das würde ich so insgesamt als eine (...) positive Einmischung der Wissenschaftler empfinden. Es ist ja immer später wieder gesagt worden, dass die Wissenschaftler aus ihrem berühmten Elfenbeinturm herauskommen müssen, da sind sie dann mal rausgekommen, vielleicht ist das sozusagen der Musterschritt, mit dem das gemacht worden ist."