Eine Reise ins Dunkel

04.10.2011
Ein faszinierendes Projekt auf einem Berg von Papier. Doch es kommt kein rechtes Lesevergnügen bei dieser Tour die Force durch die Abgründe der Nacht und der Dunkelheit auf. Das Arsenal der verhandelten Phänome immerhin ist gewaltig: Es reicht von Nachtmahren und Schwarzmagiern bis hin zu den Bloggern und Hackern unserer Tage.
Der Titel fasziniert sofort: eine Ästhetik der Nacht verspricht eine Geschichte unheimlicher Motive, der Nachtmahre, Schwarzmagier und Irrlichter. Aber sie verspricht auch kundigen Beistand, um zu verstehen, wie Hell und Dunkel unsere Wahrnehmung geprägt haben, warum der Tag als heiter und vernünftig gilt, während die Nacht, so verführerisch sie sein mag, das Kainsmal des Bösen trägt. Und schließlich, nicht zu vergessen ist auch die Rolle, die Edisons Glühbirne spielt, seit sie die Nächte erhellt, wie unser Blick sich seither wandelte - mit bislang unabsehbaren Folgen.

All das verhandelt Heinz-Gerhard Friese, der 1948 geborene Privatgelehrte, der außerdem als Schauspieler und Regisseur tätig ist, in seiner ambitionierten "Ästhetik der Nacht". Sie ist der weitausholende Versuch, als Vademecum durch die Abgründe der Finsternis zu geleiten, während die vermeintlich lichten Höhen der Vernunft, wo angeblich alles Gute beheimatet ist, schlecht wegkommen. Denn das Vernunftdenken lebt von den dunklen Zonen, die es exkommuniziert hat, um sich abzugrenzen. So enthält es selbst einen dunklen Kern an Mystik, Aberglauben - ästhetischen Kraftquellen, aus denen Sensibilität und Phantasie entspringen. Diese Erkenntnis durchzieht Frieses kulturwissenschaftliche Nachtgeschichte wie ein roter Faden.

Auch die Philosophie mag da Denkbeihilfe geleistet haben, der Schamanenforscher Mircea Eliade oder die benachbarte Ethnopsychoanalyse eines Georges Devereux. Wie überhaupt: Für Friese hängt der Baum der Erkenntnis voller Lesefrüchte, an denen er seine These untersucht. Es sind viele Lesefrüchte - von Hesiods Welterklärung zu den furiosen Barockpredigten eines Abraham a Sancta Clara gegen Tod und Teufel und das Schrecknis einer schwarzen Seele, von den Romantikern und ihrer Feier der Nacht bis zu Studien über Blogger und Computer-Hacker etwa, neuzeitlichen "Grottenolmen", denen der erleuchtete Bildschirm das Leben rund um die Uhr zum Tage macht.

Allein das Literaturverzeichnis umfasst vierzig Seiten - wie vieles an diesem Buch, an dem der Autor dreißig Jahre arbeitete, megaloman ist. So schwer wie es in der Hand liegt – mit seinen eintausenddreihundert Dünndruckseiten wiegt es immerhin zwei Pfund – so schwer verdaulich ist es. Besonders die Sprache der "Ästhetik der Nacht" bremst den Lesefluss. Viele Beobachtungen müssen einen " konstituierenden Prozess" erlebt haben, während seit der Antike gern eine "elementare Asymmetrie des Lebendigen" diagnostiziert wird. Gut getan hätte seiner Abhandlung dagegen etwas mehr Diderot’scher Aufklärungswitz, der über Formulierungen wie "Viagra des Internets" hinausgeht.

In seiner eigenwillig mäandernden Argumentationsstruktur ist eine große Linie kaum auszumachen. Der Verdacht drängt sich auf, dass der Autor mit seinem anspruchsvollen Projekt ganz großen Vorbildern nacheifert. Klaus Theweleit kommt einem in den Sinn und seine epochale Abhandlung "Männerphantasien" von 1978, die sich in einem verwegenen Cross-Over aus Psychoanalyse und Literatur ihre besondere (Faschismus)-Theorie zurechtbaute. Ähnliches versucht Friese im Dienste einer poststrukturalistischen Aufklärungskritik, und zwar mit einer Mixtur aus Erkenntnissen verschiedenster Disziplinen, der Hirnforschung ebenso wie der Archäologie, der Gastrokritik wie der Informationstechnologie. Doch hinter der mitreißenden Subversion des Bestsellers aus den 70ern bleibt Friese weit zurück.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Heinz-Gerhard Friese: Die Ästhetik der Nacht. Eine Kulturgeschichte
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011
1312 Seiten, 49,95 Euro