Eine überwissenschaftliche Einsicht

Rezensiert von Konstantin Sakkas · 17.10.2010
In Eric Voegelins Essay "Realitätsfinsternis" geht es um die "zweite Wirklichkeit", eine falsche Realität, die von verdrehten Weltbildern erzeugt wird. Sein Briefwechsel mit Leo Strauss wurde nun erstmals im deutsch-englischen Original veröffentlicht.
Als Eric Voegelin 1958 aus dem amerikanischen Exil in die junge Bundesrepublik zurückkehrt, empfängt man ihn zunächst mit offenen Armen. Er übernimmt den Lehrstuhl Max Webers und führt das eben gegründete Institut für Politische Wissenschaften an der Universität München zu Ruhm. Politikwissenschaft ist für Voegelin zugleich Geistesgeschichte und Geschichtsphilosophie. Die Lektüre von Platon und Aristoteles gehört für den beliebten Professor selbstverständlich zum Studium, ebenso mythische und religiöse Texte; denn auch in der Politik geht es, so Voegelin, um die "existentielle Spannung [des Menschen] zum Grund, [sein] Partizipieren […] am Göttlichen".

Eine ganze Generation von Publizisten und Hochschullehrern, die Münchens goldene Sechziger Jahre als Studenten erlebten, wurde von Voegelins Politikwissenschaft geprägt; unter den heute 60- bis 70-Jährigen hat er eine große Fangemeinde.

Aus den Vorlesungsverzeichnissen ist Eric Voegelin heute verschwunden. Das hat Gründe. 68 war die Stunde der Revolte, aber auch die der großen Vereinfachung. Gerade am Beispiel Voegelin zeigt sich: Was für die Gesellschaft in Vielem ein Segen, war für die Intellektualität in Deutschland ein Fluch, das wirkt bis heute. Die Theoretiker der Studentenrevolte, den Kopf voll unverdauten Marxismus’, konnten mit Begriffen wie Transzendenz, Mythos und Religion nichts anfangen; Voegelins Idee einer geistesgeschichtlich orientierten Staatslehre überstieg ihren Horizont und wurde aus dem wissenschaftlichen Diskurs verbannt.

So ging Voegelin, der 1968 emeritiert wurde, gleichsam zum zweiten Mal ins Exil, lehrte an der Stanford University und arbeitete dort an der Vollendung seiner Werke, vor allem an den beiden großen Zyklen "Die Geschichte der politischen Ideen" und "Ordnung und Geschichte".

Was an Voegelin bis heute irritiert und fasziniert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der er die Bücher Mose, die Epen Homers und die Platonischen Mythen als Basis von politischer Theorie ernst nimmt. Sie sind für ihn keine Hirngespinste naiver oder machtgieriger Menschen in grauer Vorzeit, sondern Dokumente einer ernsten, oft todernsten Auseinandersetzung des Menschen mit dem Jenseits, das ins Diesseits hineinragt:

"Das 'Wort’ Gottes ist nicht ein Vokabel […], sondern ein Sinngehalt, der artikuliert werden kann, in einer […] Interpretation, die sich legitimiert aus der Präsenz des Geistes in der geschichtlichen Gemeinschaft."

Nach Voegelin gibt es also wirklich einen göttlichen Geist, der sich in der Weltgeschichte offenbart. Warum? Weil das Wesen des Menschen "Offenheit zur Transzendenz" ist: Nicht der Mensch denkt sich Gott und überirdische Mächte; nein, weil sie existieren, versucht er, sie in Begriffe zu fassen, um ihnen näher zu kommen.

Deshalb gehören für Voegelin unbedingt "das außerzeitliche Sein Gottes […] und das Wissen des Menschen um dieses Sein durch 'Offenbarung'" zur seriösen historischen Analyse. Abhängig davon, welche Vorstellung von der überweltlichen Weltordnung gerade herrscht, zeigt sich die Politik einer Epoche. In Voegelins Worten:

"Die Ordnung der Geschichte enthüllt sich in der Geschichte der Ordnung."

Dem modernen, von 68 ins Extrem getriebenen Ideologieverdacht, der in allem nur gesellschaftliche Struktur oder ideologische Verblendung sehen will, setzt Voegelin die Überzeugung entgegen, dass in allem ein wahrer Kern steckt; dass es wirklich eine höhere Welt gibt, nach der der Mensch strebt und die sein Denken authentisch abbildet:

"Der Mensch erfährt sich als ein Wesen, das über seine menschliche Unvollkommenheit hinaus nach der Vollkommenheit des göttlichen Grundes strebt, der ihn anziehend bewegt."

Dieser Gedanke reizte zum Widerspruch, wie der Briefwechsel Voegelins mit Leo Strauss zeigt, der nun erstmals im deutsch-englischen Original erscheint.

"Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Gottes Ruf selber und der menschlichen Formulierung dieses Rufs – was uns historisch entgegentritt, ist nur das letztere."

schreibt Strauss. Doch bei aller Skepsis wusste er doch mit Voegelins spekulativem Geschichtsbild etwas anzufangen – anders als die vulgäre Voegelin-Kritik; anders auch als jene, die aus derselben Fantasielosigkeit einst den Ideologien des 20. Jahrhunderts in die Arme gelaufen waren.

Voegelin, der sich der nationalsozialistischen Ideologie widersetzte, hat seine persönlichen Erfahrungen aus jener Zeit beim sogenannten Anschluss Österreichs 1938 in seinen "Autobiographischen Reflexionen" anschaulich überliefert. Das philosophische Gegenstück hierzu ist der jetzt erst auf Deutsch erschienene Essay "Realitätsfinsternis".

Darin geht es um die sogenannte "zweite Wirklichkeit": eine falsche Realität, die von verdrehten Weltbildern erzeugt wird; Weltbildern, denen die transzendente Dimension fehlt, in denen der Mensch in seiner nackten Gegenständlichkeit verabsolutiert und keine höhere Ordnung mehr anerkannt wird.

So der Fall beim Darwinismus, beim Kommunismus und insbesondere beim Faschismus. Dies sind, so Voegelin, keine Denkgebäude mehr im strengen Sinne, sondern nur mehr Deformationen des Denkens; sie führen in den Nihilismus:

"Das leere Feld des Nichts resultiert aus der Verdunkelung der Realität. […] Kein Entwurf eines Gott-Menschen kann das Nichts überwinden, denn das Nichts wurde von dem sich selbst deformierenden Menschen genau dazu entworfen, um in dem Entwurf des Gott-Menschen zu schwelgen. Der Mensch kann die Realität Gottes ausblenden […]; aber er kann das imaginierte Nichts nicht dadurch überwinden, dass er es mit einem imaginierten Etwas füllt."

Genau das tut der Nihilismus: Er schafft solch ein "Etwas", es heiße Übermensch oder Rasse. Dass Voegelin den Zusammenhang von Aufklärung und Nihilismus entdeckt, macht ihn freilich nicht zum reaktionären Irrationalisten. Er warnt nur davor, jene Ursprünge des menschlichen Seins zu vergessen, die jenseits von Körperlichkeit und Geschichtlichkeit liegen und die sich der Hirnforschung und der Sozialgeschichte entziehen. Was passiert, wenn wir sie vergessen, lehrt die Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Die höhere Welt, Geist, Gott sind keine Erfindungen aus Dummheit oder Propaganda; dass sie so verstanden werden, ist höchstens Zeugnis ihrer Abwesenheit. Allerdings muss man den Mut haben, ernsthaft über sie nachzudenken, sich an sie zu erinnern. Diese "Anamnesis" ist die wesentliche Aufgabe des Menschen. Eine solch überwissenschaftliche Einsicht wissenschaftlich formuliert zu haben, ist das Verdienst Eric Voegelins, das man in seiner ganzen Größe noch erkennen wird.

Eric Voegelin: Realitätsfinsternis
Matthes & Seitz, Berlin 2010

und

Glaube und Wissen. Der Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964
Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2010
Cover "Realitätsfinsternis" von Eric Voegelin
Cover "Realitätsfinsternis" von Eric Voegelin© Matthes & Seitz
Cover "Glaube und Wissen" von Eric Voegelin und Leo Strauss
Cover "Glaube und Wissen" von Eric Voegelin und Leo Strauss© Wilhelm Fink Verlag