Eine theologische Revolution

Von Wolf-Sören Treusch · 28.10.2005
Vor 40 Jahren, am 28. Oktober 1965, verabschiedete das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung "Nostra Aetate". Darin geht es um das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. In die Geschichte eingegangen ist das Papier des vatikanischen Reformkonzils wegen des Kapitels über das Judentum. Darin distanzierte sich die Kirche in aller Klarheit vom Antisemitismus. Außerdem bemühte sie sich, das Verhältnis des Christentums zum Judentum neu zu formulieren. Damit gestand das Konzil indirekt ein, daß der kirchliche Antijudaismus dem mörderischen Antisemitismus von der Antike bis in die Neuzeit den Boden bereitet hatte.
Das Jahr 1965 steht für einen epochalen Neuanfang in der Kirchengeschichte. 1900 Jahre lang war das Verhältnis von Christen und Juden von Hass und Gewalt bestimmt: Daß die Juden Jesus nicht als ihren Messias akzeptieren wollten, war für die Kirche ein Stachel im Fleisch. Ein Stachel, der zu Verfolgung und Mord führte. Der christliche Neid auf die Juden als Gottes auserwähltes Volk gehörte schließlich auch zu den Ursachen für das größte Verbrechen der Menschheit, den Holocaust.

Am 28. Oktober 1965 aber verabschiedete das Zweite Vatikanische Konzil in Rom eine Erklärung namens Nostra Aetate, die vor allem das Verhältnis zu den Juden ganz neu bestimmen sollte.

"Die Kirche [kann] [...] nicht vergessen, daß sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schößlinge eingepfropft sind. Denn die Kirche glaubt, daß Christus, unser Friede, Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und beide in sich vereinigt hat."

Eine theologische Revolution: Gott hat beide erwählt: Juden und Christen. Die katholische Kirche widerrief damit die alte Behauptung, Gott habe die Juden verworfen und die Kirche zum alleinigen und neuen Volk Gottes gemacht.

Schon 1960 hatte der Reformpapst Johannes XXIII. dem deutschen Kardinal Augustin Bea den Auftrag gegeben, eine Erklärung über die Beziehungen der Kirche zum Volk Israel zu entwerfen. Bea wollte vor allem das Vorurteil aus der Welt schaffen, die Juden seien allesamt "Gottesmörder". Bea schrieb:

"Von welcher Seite [...] man die Frage betrachtet, niemals kommt eine Kollektivschuld heraus, als ob das damalige jüdische Volk als Ganzes in irgendeiner Weise an der Tötung Jesu mitgewirkt hätte. Das einzige, was man sagen kann, ist, daß die wirklich Verantwortlichen mit Ausnahme von Pilatus Angehörige des jüdischen Volkes waren. Aber man kann nicht aus einem Verbrechen, das innerhalb eines Volkes begangen worden ist, ein Verbrechen des Volkes machen."

In fünfjähriger, mühsamer Arbeit konnte Bea die neue Sicht des Judentums in der katholischen Hierarchie durchsetzen. Papst Paul VI., der 1963 Johannes XXIII. nachfolgte, stand ihm bei: Im Januar 1964 besuchte der neue Papst Israel. Faktisch bedeutete das die Anerkennung Israels durch Rom.

Kardinal Beas wichtigste Verbündete waren nordamerikanische Bischöfe und Kardinäle, die traditionell bessere Kontakte zu den jüdischen Gemeinden in ihren Ländern unterhielten. Immer wieder legte Bea den zuständigen Kommissionen neue Entwürfe vor, um theologische Bedenken konservativer Gegner zu entkräften. Auch von politischer Seite gab es Widerstand. Führer arabischer Staaten wie der ägyptische Präsident Nasser drohten mit Repressionen gegen Katholiken für den Fall, daß der Vatikan die Erklärung verabschieden würde.

Um "Nostra Aetate" durchzusetzen, mußten Bea und seine Mitstreiter Zugeständnisse machen: So wurde die Erklärung zum Judentum integriert in ein Papier über das Verhältnis zu den anderen Religionen insgesamt. Trotz aller Bedenken setzte sich der neue Geist im Vatikan durch. In "Nostra Aetate" bekannte die Kirche selbstkritisch:

"Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben."

Hinter diese Formulierungen ist selbst Joseph Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI., nicht zurückgefallen. Im August dieses Jahres bekannte er sich in der Kölner Synagoge ausdrücklich zu "Nostra Aetate".

"Vor Gott besitzen alle Menschen die gleiche Würde, unabhängig davon, welchem Volk, welcher Kultur oder Religion sie angehören. Aus diesem Grund spricht die Erklärung 'Nostra Aetate’ auch mit großer Hochachtung von den Muslimen und den Angehörigen anderer Religionen. Aufgrund der allen gemeinsamen Menschenwürde, so heißt es dort, verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen als einen Akt, der im Widerspruch zum Willen Christi steht."