Eine Stadt voller Widersprüche

Von Bettina Kaps · 11.09.2013
In Saint-Denis prallen das alte und neue Frankreich aufeinander: Im 19. Jahrhundert entstand dort eines der größten Industriezentren Europas. Heute ragen im Norden von Paris moderne Bürotürme mit schillernden Glasfassaden in den Himmel.
Paris, Metro Linie 13. Wer auf den Champs-Elysee einsteigt, findet meistens noch einen Sitzplatz. Aber spätestens am Gare Saint-Lazare sind alle Wagen brechend voll. Die Linie nach Saint-Denis ist völlig überlastet. Immer neue Fahrgäste drängen hinein, viele haben exotische Gesichter. An der Station "Basilika von Saint-Denis" steigen fast alle aus.

Wenige Schritte von der Metro entfernt erhebt sich die bekannte Kathedrale der Stadt: drei Holzportale mit verzierten Rundbögen, schmale Bogenfenster, in der Mitte eine Rosette und rechts ein einziger Turm. Die Basilika ist dem heiligen Dionysius gewidmet.

Der Namenspatron der Stadt war ein christlicher Missionar. Im Jahr 250 wurde er auf Montmartre enthauptet. Der Legende zufolge nahm Dionysius seinen Kopf in die Hände und lief bis zu der Stelle, wo er begraben werden wollte, dem heutigen Saint Denis. Dort steht jetzt die Kathedrale.

Der Gottesdienst ist zu Ende. Der weiße Pfarrer und vier schwarze Messdiener ziehen aus der Kirche aus, gefolgt von den Gläubigen. Auch sie sind mehrheitlich schwarz.

Wenig später öffnet das Kassenhäuschen der Kirche. Für einen Eintrittspreis von 7,50 Euro können Besucher den hinteren Teil des Kirchenschiffs besichtigen: 170.000 Touristen pro Jahr besuchen die frühgotische Kathedrale, in der fast alle Könige von Frankreich bestattet sind. Bewohner von Saint-Denis finden dagegen eher selten her, sagt Adjera Lakehal.

"Für die meisten Einwohner ist die Basilika zuerst einmal eine Kirche, in der Messen zelebriert werden, und nicht so sehr ein Baudenkmal. Die Verantwortlichen für den Denkmalschutz bemühen sich, das zu ändern. Sie kontaktieren Schulen und Vereine und tun alles Mögliche, um den Besuch zu erleichtern."

Deshalb kommt auch Adjera Lakehal mit ihrer Gruppe hierher. Die 52-Jährige kümmert sich um die Eingliederung von eingewanderten Frauen. Etwa zehn ihrer Schülerinnen hören einer Fremdenführerin zu.

Die Frauen stammen aus Angola und Kongo, Sri Lanka, Vietnam, Marokko, der Türkei ... Die meisten leben schon seit über einem Jahrzehnt in Saint-Denis. So auch Nouria, eine Tunesierin, die ein helles Kopftuch trägt.

"Schlüssel zur Kultur und Gesellschaft"
"Ich bin jetzt zum ersten Mal in der Basilika, dabei wohne ich ganz in der Nähe. Aber ich wusste nicht, ob ich diese Kirche betreten darf oder nicht. Sie ist sehr schön."

Adjera Lakehal hat die Frauen gründlich vorbereitet. Für sie ist dieser Besuch weit mehr als eine Freizeitaktivität.

"Wir wollen den Einwanderinnen nicht nur Französisch beibringen, sondern ihnen auch die Schlüssel zur Kultur und Gesellschaft ihrer neuen Heimat mitgeben. Deshalb ist es so wichtig, dass sie ihre Umgebung kennen. Diese Frauen sind für uns zu allererst Einwohnerinnen von Saint-Denis. Sie müssen ihr Kulturerbe kennen und verstehen."

In der Krypta können sie nicht nur das Grab des Heiligen Denis besichtigen, sondern auch die Kapelle der Bourbonen. In einer Grabstele steht eine Kristallurne mit einem dunklen, vertrockneten Klumpen - es ist das Herz von Ludwig dem 17. Ein paar Schritte weiter sind sechs schwarze Marmorplatten in den Steinboden eingelassen, darunter liegen Könige beerdigt. Dort verharrt ein Paar, Anfang 20. Es hat einen Strauß weißer Lilien dabei, legt die Blumen auf dem Grab von Ludwig dem 16. ab.

"Wir gedenken der Hinrichtung von Louis Seize am 21. Januar 1793. Für mich war er ein guter König, der es nicht verdient hat, von den Revolutionären geköpft zu werden. Mit Ludwig dem 16. ist eine mehr als tausendjährige Geschichte zu Ende gegangen, in der die Könige Frankreich zu einem geeinten und großen Staat gemacht haben."

König und Kirche ... Außerhalb der Kathedrale ist die alte Ordnung längst passé. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Saint-Denis zu einem der größten Industriebecken in Europa. Die Fabriken zogen Arbeiter aus dem In- und Ausland an.

"Heute ziehen viele Familien nach Saint-Denis"
1922 eroberten die Kommunisten das Rathaus der Stadt - dort regieren sie auch heute noch. Der derzeitige Bürgermeister heißt Didier Paillard. Er ist überzeugt: Die KPF ist eine Partei, die zu der Bevölkerungsstruktur von Saint-Denis passt.

"Vermutlich unterscheiden wir Kommunisten uns dadurch von anderen Politikern, dass wir enge Beziehungen zu Arbeitern und den einfachen Bevölkerungsschichten pflegen. Einige Städte florieren dadurch, dass sie die Ärmsten ausgrenzen.

Wir machen hier genau das Gegenteil. Aber inzwischen locken wir auch die Mittelschicht an. Heute ziehen viele Familien nach Saint-Denis, die Paris verlassen müssen, weil es für sie zu teuer geworden ist."

Saint-Denis zählt 110.000 Einwohner und 132 Nationalitäten. Das Völkergemisch macht es nicht nur zu einer bunten, sondern auch zu einer jungen Stadt, sagt der Bürgermeister, darauf ist er stolz.

Paillard zählt auf: Über 2000 Kinder werden jährlich in Saint-Denis geboren. Ein Viertel der Bevölkerung ist jünger als 14 Jahre. Der Jugend gehört sein Augenmerk.

"Für einfache Menschen besteht der einzige Reichtum in ihren Kindern. Wir Politiker sind herausgefordert, für diese junge Generation und mit ihr zusammen die Zukunft dieser Stadt zu gestalten. Deshalb bauen wir eine Grundschule pro Jahr, seit fünf Jahren schon, und das wird mindestens bis 2015 so weiter gehen."

Um den Familien zu helfen, errichtet die Stadt Kinderkrippen und Freizeitzentren, wo die Schüler vor und nach dem Unterricht betreut werden. Außerdem sorgt sie dafür, dass selbst die ärmsten Familien von diesen Einrichtungen profitieren können.

"Unsere Stadt ist durch die geografische Lage begünstigt"
Der billigste Tarif in der Schulkantine beträgt 15 Cent pro Mahlzeit. Die Stadt kann es sich leisten, weil das Geschäftsviertel La Plaine erhebliche Steuern einbringt, sagt Paillard.

"Unsere Stadt ist durch die geografische Lage begünstigt. Über drei Jahrzehnte hinweg lang mussten wir mit ansehen, wie 30.000 Arbeitsplätze vernichtet wurden. Heute schaffen wir neue Arbeitsplätze.

Wir erleben einen ungeheuren Aufschwung. Das bringt uns Einnahmen. Jeden Morgen strömen zigtausende Menschen zum Arbeiten in unsere Stadt, weit mehr, als Einwohner sie verlassen, um auswärts zu arbeiten."

Viele Angestellte kommen mit der Schnellbahn und steigen am Stade de France aus. Wie ein UFO liegt das Stadion im Stadtviertel La Plaine, so heißt das ehemalige Industriegebiet von Saint-Denis.

Wo einst Fabrikanlagen zu trostlosen Industriebrachen verkamen, ragen heute moderne Bürogebäude in den Himmel: Banken, Versicherungen, Mobilfunkanbieter, Startup-Firmen ... In den vergangenen Jahren sind hier 45.000 neue Arbeitsplätze entstanden.

Ein wichtiger Arbeitgeber vor Ort ist der Online-Shopping-Club "Vente privée". Firmenchef Jacques-Antoine Granjon sieht nicht gerade aus, wie man sich den Chef von 1800 Angestellten vorstellt. Der 50-Jährige erinnert eher an einen gut gealterten Rocker. Lange braune Löwenmähne, Lederjacke, Jeans, spitze Schuhe aus Krokoleder. Im V-Ausschnitt seines Pullovers baumelt ein türkisfarbenes Kreuz auf der behaarten Brust.

Vielleicht liegt es ja an seiner unkonventionellen Art, dass sich Granjon für Saint-Denis begeistern konnte, als das alte Industriegelände noch ein Ort großer Hoffnungslosigkeit war. Granjon erinnert sich.

"1988 haben wir die ersten Lagerräume in La Pleine Saint Denis gepachtet. Damals war das Stade de France noch nicht gebaut und in einer Schneise direkt vor der Firma ging die Autobahn vorbei, inzwischen ist sie überdacht. Wir gehören zu den Ersten, die sich hier angesiedelt haben."

"Hier gibt es ein wunderbares Potenzial"
Granjon hat seine Firma zu einem der erfolgreichsten Internetunternehmen in Europa gemacht hat. Vergangenes Jahr betrug der Umsatz 1,3 Milliarden Euro. In Saint-Denis habe die Firma genau das richtige Umfeld, um zu wachsen, sagt der Manager.

"Ich habe mich hier von Anfang an wohl gefühlt, außerdem ist der Ort für uns sehr praktisch: Er grenzt an Paris und ist sehr gut angebunden. La Plaine entwickelt sich zu einem Zentrum für digitale Industrie, Kino, Ton. Hier gibt es ein wunderbares Potenzial."

Trotzdem ist In Saint-Denis die Arbeitslosenquote mit 22 Prozent nach wie vor doppelt so hoch ist wie im Landesdurchschnitt. Vom Aufschwung im neuen Büroviertel La Plaine profitieren die Bewohner der Stadt bislang kaum. Sie haben nicht das richtige Profil.

Das Ausbildungsniveau in Saint-Denis ist deutlich niedriger als im übrigen Frankreich. Ein Handicap ist zudem die mangelnde Sicherheit des Viertels: Immer wieder gibt es Schlagzeilen, weil Angestellte überfallen wurden: Ihre Smartphones und Laptops sind begehrt.

Der Multimillionär streicht die langen Haare über die Schulter zurück. All diese Probleme würden sich mit der Zeit schon regeln, meint er gelassen. Für ihn ist jedenfalls klar:

"Wir haben hier viele Grundstücke, sodass wir auch in Zukunft noch bauen können. Ich mag diese Gegend sehr. Ich will auf keinen Fall, dass Vente-privee sie eines Tages verlässt."

Günstige Immobilienpreise und das große Völkergemisch ziehen nicht nur Firmen an. Auch zahlreiche muslimische Einrichtungen haben sich in Saint-Denis angesiedelt, weshalb der Islamkundler Gilles Kepel die Stadt als "Mekka des französischen Islam" bezeichnet.

Der Wissenschaftler meint das keinesfalls abfällig. Denn Vereine wie der Secours Islamique - so heißt das muslimische Pendant zur katholischen Caritas - sind längst in der Zivilgesellschaft angekommen.

Es ist Freitagabend, 20 Uhr. Habiba steht in der Küche des Hilfsvereins und bringt Wasser zum Kochen.

Das müsste ausreichen für Kaffee, Tee und Suppe, sagt die 39-Jährige, während sie literweise heißes Wasser in einen Thermosbehälter gießt. Die gelernte Buchhalterin ist klein und zierlich. Obwohl die Nacht kalt werden soll, trägt sie unter der Daunenjacke nur einen knappen Minirock, schwarze Strumpfhose und Schaftstiefel.

"Wir verstehen uns nicht als Suppenküche""
"Bevor es losgeht, müssen wir noch ein paar Dinge ins Auto packen. Wir haben ein Set mit Nahrungsmitteln, ein Set gegen die Kälte mit Mütze, Schal, Handschuhen, Socken, und ein Hygieneset. Aber eins muss klar sein: Wir verstehen uns nicht als Suppenküche. Uns geht es um die menschliche Bindung. Wir leisten Sozialarbeit."

Dreimal pro Woche gehen die Freiwilligen des Secours Islamique abends auf Erkundungstour und halten Ausschau nach Obdachlosen. Einige reagierten anfangs ablehnend, sagt Naouelle, die als Sekretärin in einem Pariser Krankenhaus arbeitet.

"Viele brachten den Secours Islamique unwillkürlich mit Religion in Verbindung. Sie dachten, wir würden nur Muslimen helfen, was natürlich nicht stimmt. Außerdem kommt das Wort "islamisch" zurzeit nicht gut an.

Ich selbst war früher bei der Caritas angestellt. Aber ich fühle mich halt stärker vom Secours Islamique angezogen. Die Helfer hier haben alle einen ähnlichen kulturellen Hintergrund. Da funktioniert es noch besser."

Inzwischen sind die letzten Freiwilligen eingetroffen. Rasch laden sie die Hilfsartikel in ein Lieferauto mit dem Emblem des secours islamique: eine Moschee mit zwei spitzen Minaretten. Dann geht es los. Nordine fährt die Mannschaft ins Rathausviertel. An einer Hauswand lehnen drei junge Männer, einer trinkt Bier. Naouelle begrüßt sie wie alte Bekannte.

"Dich habe ich ja lange nicht mehr gesehen. Wie heißt du noch? Stimmt, Ousmane. Wie steht es um deine Aufenthaltspapiere?"

Der Mann aus Mali erzählt, dass er schon seit 14 Jahren in Frankreich lebt, aber noch immer keine Aufenthaltserlaubnis hat. Naouelle rät ihm, die Sozialarbeiterin des Secours Islamique aufzusuchen.

Es ist lange nach Mitternacht, als sie den Wagen wieder am Sitz der Organisation abliefern. In den Räumen brennt Licht: Ein rundlicher Mann mit Stirnglatze und akkurat geschnittenem Kinnbart erwartet die Helfer. Djilali Benaboura leitet die sozialen Missionen des Secours Islamiques in Frankreich, er hat gute Nachrichten:
"Heute Abend war ich auf einem Empfang des Bürgermeisters von Saint-Denis. Dort habe ich wichtige Leute getroffen. Hört zu: Wir werden bald eine Tagesstätte für Obdachlose aufmachen. Vielleicht können wir sie sogar am Wochenende öffnen. Samstag, Sonntag, da könnten dann auch die mit anpacken, die in der Woche."

Die Helfer sind begeistert. In Saint-Denis hat der Secours islamique so viele Freiwillige, dass er den traditionellen Hilfsorganisationen einen Teil der sozialen Arbeit abnimmt.
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