"Eine heile Welt rekonstruieren"

György Dalos im Gespräch mit Katrin Heise · 25.08.2010
Der jüdische Autor Mihail Sebastian schrieb 1942 das Theaterstück "Der Stern ohne Namen" über eine Liebe in einem rumänischen Provinznest. György Dalos lobt das Werk für seine zeitlose Melancholie.
Katrin Heise: Und heute ist es ein Theaterstück, "Der Stern ohne Namen" heißt es. Der rumänische Schriftsteller Mihail Sebastian hat es 1942 geschrieben. Nur drei Jahre später verstarb er in Bukarest. "Der Stern ohne Namen" ist ein Liebesdrama, kann man vielleicht sagen – eine Frau aus der Stadt landet ungewollt in einem Provinznest und lernt dort einen Lehrer und Astronomen kennen. Dieser ist auf der Suche nach einem neuen Stern eigentlich, aber wahrscheinlich auch nach einer Orientierung in seinem Leben.

Und dieses Werk gehört unbedingt in den "Europäischen Kanon", das findet György Dalos, aus Ungarn stammender Schriftsteller, mit zahlreichen Veröffentlichungen, außerdem Historiker. Er leitete das Haus Ungarn in Berlin, er ist Mitherausgeber der Wochenzeitung "Freitag" und in diesem Jahr geehrt worden mit dem Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung, für sein Buch, nämlich "Der Vorhang geht auf, das Ende der Diktaturen in Europa". Ich freue mich, Herr Dalos, dass Sie unser Gast sind hier im "Radiofeuilleton", schönen guten Tag!

György Dalos: Ich freue mich.

Heise: Vielleicht erzählen Sie uns anfangs noch ein bisschen mehr aus "Der Stern ohne Namen". Was passiert da?

Dalos: Ich würde sagen, dass das eine melancholische Komödie von Tschechow’schem Stil ist. Es handelt sich eigentlich ganz einfach darum: Es gibt diese Kleinstadt zwischen Bukarest und Sinaja mit ungefähr 8000 Einwohnern, und jeden Abend zweimal fährt der große Express von Bukarest nach Sinaja oder zurück. Und das ist ein so großes Ereignis, dass die ganze Stadt am Bahnhof erscheint, unter anderem die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums ...

Heise: Die endlich mal was erleben wollen.

Dalos: Die dieses Moment erleben wollen, obwohl dieser Zug dort nie hält. Nun, doch kommt es dazu, dass in einer Nacht hält der Zug, und es wird dort eine junge und hübsche Dame zum Aussteigen gezwungen, weil sie weder Geld noch Fahrkarten hat. Diese junge Dame, die in dem Stück als "die Unbekannte" benannt wird, sie heißt eigentlich Mona, und sie ist die Ehefrau eines rumänischen Millionärs. Sie streiten miteinander während eines Spiels im Casino, wo sie Stammgäste sind, und die beleidigte junge Frau verlässt in ihrer Wut den Mann und setzt sich in diesen Zug, aus dem sie dann in dieser Kleinstadt aussteigen muss.

Heise: Und da so ziemlich alles durcheinanderbringt, vor allem den jungen Lehrer eben durcheinanderbringt. Was fasziniert Sie an diesem Theaterstück "Der Stern ohne Namen" so sehr, dass Sie den im "Europäischen Kanon" sehen möchten?

Dalos: Also, erstens ist das doch einer der ältesten Topoi der europäischen Dramatik: der Zufall. Das Leben ist eigentlich langweilig, solange nicht irgendein Zufall dazwischenkommt, und dieser Zufall zeigt dann, dass das Leben echt kompliziert sein kann und dass große Gefühle, Freude, Liebe, Schmerz plötzlich aufeinandertreffen. Wäre dieser Zufall nicht gekommen, dann hätten wir vielleicht auch von den Helden nie etwas erfahren, aber da stießen plötzlich zwei Schicksale aufeinander, die einander scheinbar völlig fremd sind.

Also diese vornehme und sehr gepflegte Dame kommt in diese Stadt, wo ihr für eine Nacht der dortige Mathematikprofessor Miruio Asyl anbietet, und dieser Miruio ist zufällig oder nicht zufällig ein geheimer Astronom, und er hat einen Stern am Himmel entdeckt und bestellt soeben ein unglaublich teures Buch, um diesen Stern zu identifizieren.

Heise: Wie er zu diesem Stern gekommen ist, das erfahren wir in dem Theaterstück in einem Ausschnitt, den wir Ihnen jetzt vorspielen:

"Es gibt Abende, da erscheint mir der ganze Himmel wie eine Wüste, mit kalten, toten Sternen in einem sinnlosen Universum, in dem nur wir uns in unserer großen Einsamkeit auf diesem Provinzplaneten plagen wie in einem Dorf, wo es kein fließendes Wasser gibt und kein elektrisches Licht, und wo die Schnellzüge nicht stehen bleiben. Aber dann gibt es Abende, an denen der ganze Himmel voll Leben ist. Man hört dann auch vom entferntesten Stern, wenn man aufmerksam horcht. Das Rauschen von Wäldern und Ozeanen, fantastischen Wäldern und Ozeanen. Abende, an denen der Himmel voll Zeichen und Rufen ist – wie wenn sich Wesen, die sich nie gesehen haben, von einem Planeten zum anderen, von einem Stern zum anderen suchen, fühlen, rufen."

"Und sich finden?"

"Niemals."

"Warum?"

"Weil noch niemand von einem Stern auf den anderen gekommen ist. Weil ein Stern niemals seine Bahn verlässt."

"Schade. Das ist traurig!"

"Es ist ein bisschen traurig, aber es ist schön. Man weiß wenigstens, dass man nicht allein ist unter dieser riesigen Kuppel. Dass irgendwo in einer anderen Welt, auf einem anderen Sternbild, auf dem Großen Bären oder auf dem Polarstern, auf der Wega …"

"Oder auf Ihrem Stern ohne Namen?"

Heise: Ein kurzer Ausschnitt war das aus dem Theaterstück "Der Stern ohne Namen" von Mihail Sebastian. Herr Dalos, steht der Blick in die Sterne so ein bisschen für die Sinnsuche des Professors beziehungsweise Sinnsuche des Menschen allgemein in dem Theaterstück?

Dalos: Also der Professor ist eigentlich so eine typische Kleinstadtexistenz, ein Talent, das eigentlich nie entdeckt wird, weil er weit entfernt von den Metropolen, von den Zentren der Welt lebt, und diese junge Dame, die hat natürlich auch keine Ahnung davon, was diese Sterne sind, sie hat noch nie den Himmel studiert.

Und in dieser verhängnisvollen Nacht zeigt der Professor am Himmel auch diese Sterne und die beiden verlieben sich ineinander. Das ist natürlich sehr fein angespielt und sehr fein geschrieben, aber der namenlose Stern im Leben dieses Professors ist nicht nur derjenige, den er soeben am Himmel entdeckt hat, sondern gewissermaßen ist auch diese Frau ein namenloser Stern in ihrem Leben.

Heise: Auch für ihn ein namenloser Stern, beziehungsweise sie gibt dann dem Stern sogar eventuell den Namen, er überlegt, ob er den Stern dann Mona nennt. Sie hören Deutschlandradio Kultur, in unserer Serie "Europäischer Kanon" legt uns der Schriftsteller György Dalos das Theaterstück "Der Stern ohne Namen" des Rumänen Mihail Sebastian nahe.

Dieses Stück ist 1942 geschrieben. Sebastian war Jude, hat sich in mehreren Werken, also vor allem auch in seinen Tagebüchern, mit der Situation der Juden zu dieser Zeit, in den 30er-, 40er-Jahren auseinandergesetzt, in diesem Werk überhaupt nicht oder ich habe es jedenfalls nicht gefunden.

Dalos: Merkwürdig ist an diesem Stück auch das Jahr, in dem es geschrieben wurde. Da konnte Sebastian, der ein bekannter rumänischer Autor war, schon seit Jahren wegen Rassengesetzen nicht publizieren. Er publizierte unter fremdem Namen, vor allem Übersetzungen anderer Stücke, und dieses Stück hat man schon gespielt unter einem Pseudonym, und es war ein offenes Geheimnis in Theaterkreisen. Also er konnte ein bisschen verdienen, aber er musste sich verstecken. Und wir wissen erst aus seinen Tagebüchern, die erst in den 90er-Jahren veröffentlicht worden sind, wie sein Leben zwischen 35 und 45 etwa in Rumänien war.

Heise: Wenn Sie das wissen oder wenn Sie das bedenken, wie sein Leben war, eben immer enger werdend, immer weniger war ihm möglich, immer gefährlicher oder gefährdeter, warum hat er dann ein solches Stück geschrieben, also wo das so gar keine Rolle spielt, wo man auch oft lachen muss über dieser ulkigen Charaktere, über diese Kleinstadtcharaktere, haben Sie sich das manchmal gefragt?

Dalos: Aufgrund der Tagebücher und auch nach dem Roman lässt sich eine merkwürdige Persönlichkeit rekonstruieren. Dieser Mann, Sebastian, war sehr gespalten zwischen seinem Judentum und seiner unglaublichen Anhänglichkeit an die rumänische Tradition, an die rumänische Kultur. Sämtliche seiner Freunde dieser Generation, der er angehörte, und die ihn auch sehr schätzten, die sind Antisemiten geworden, die sind nazifreundlich geworden, und das Merkwürdige ist, dass sie, und das ist Rumänien, diese Freundschaft mit ihm nie abgebrochen haben, und er konnte es auch nicht.

Also zwischen Freundschaft und seinem eigenen Schicksal zerrieben, wollte er, ich glaube mit diesem Stück eine heile Welt rekonstruieren, aber in einer melancholischen, ironischen Art, weil er glaubte, dass mit dem Ersten Weltkrieg eigentlich das, was Rumänien erträglich machte, zu Ende war.

Heise: Gleichzeitig ist in diesem Stück ja, also diese Hierarchiegläubigkeit, die da in Person von diesem Bahnhofsvorsteher, der die Bauern oder seinen Mitarbeiter da wirklich auf gemeinste Art und Weise schikaniert und nach oben aber immer buckelt, stellt er damit auch so ein bisschen die Gesellschaft Rumäniens dar?

Dalos: Die Hierarchie, natürlich, das ist sehr wichtig, weil für diesen Astronomen, da gibt es einen Schlüsselsatz, dass die Sterne ihre Bahn nie verlassen können. Und das bedeutet, dass wenn jemand einer sozialen Schicht oder Gruppe gehört, kann er diese Gruppe nicht verlassen, und bei dem Juden Sebastian ist das noch eindeutiger, dass er sein Judentum nicht verlassen kann, und gleichzeitig möchte er Rumäne sein. Und dieser schmerzhafte, nostalgische Wunsch doch danach auch, die eigene Bahn verlassen zu dürfen, das ist das, was vielleicht etwas aus dem psychologischen Hintergrund des Autors zeigt.

Heise: Was hat Ihnen ganz persönlich dieses Theaterstück bedeutet, und wann haben Sie es eigentlich entdeckt?

Dalos: Ich habe das als Jugendlicher entdeckt, Anfang der 60er-Jahre wurde das Stück in einem Budapester Theater 300 mal gespielt, das war ein Rekord, und ich habe das aber nicht im Theater, sondern über Radio gehört. Wir waren arm, wir konnten nicht so viel Theaterkarten kaufen, wie es notwendig wäre, und mich hat es fasziniert, weil das so an die ungarischen, melancholischen Geschichten erinnerte. Ich wusste nicht, wer der Autor war, ich hatte keine Ahnung von Sebastian, und ich hatte den Eindruck, dass dieses Stück nicht älter wird mit der Zeit.

Heise: Weil es uns auch heute noch etwas sagt?

Dalos: Das ist jetzt so. Also wenn man die rumänischen Spielpläne sieht, es gibt kein Jahr, ohne dass irgendein rumänisches Theater das …. Ich glaube, dass diese Determiniertheit der sozialen Bedingungen, nämlich, dass die Sterne ihre Bahn nicht verlassen können oder auch dürfen, das ist auch für die heutige osteuropäische Gesellschaft gewissermaßen typisch.

Heise: Sagt der Schriftsteller György Dalos über den rumänischen Autor Mihail Sebastian und sein Theaterstück "Der Stern ohne Namen". Es gehört seiner Meinung nach in den "Europäischen Kanon". Herr Dalos, ich danke Ihnen ganz herzlich, dass Sie hier waren, uns Autor und Stück vorgestellt und nähergebracht haben. Vielen Dank dafür.

Dalos: Sehr gerne!