Eine biblische Katastrophengeschichte

Rezensiert von Maria Riederer · 18.01.2006
Die Geschichte von der Arche Noah kennt fast jedes Kind. Doch wie sich die Ur-Katastrophe der Menschheit genau zugetragen hat, darüber schweigt die Bibel. Nun erzählt Geraldine McCaughrean in ihrem Kinder- und Jugendbuch "Nicht das Ende der Welt" aus der Perspektive von Noahs Tochter Timna die Geschichte dieses Desasters.
"Einzelne Regentropfen wirbelten kleine Staubwolken auf, so als ob unsichtbare Füße durch den Schmutz liefen. Tff. Tff. Unmerklich verdunkelte sich die graue Erde, durch die Feuchtigkeit, als wäre ein Wolkenschatten auf die Ebene gefallen. Die Gesichter wandten sich nach oben, um den wohltuenden Regen in Empfang zu nehmen. Die Tropfen waren riesig. Sie zerplatzten an Wangenknochen und auf ausgestreckten Handflächen, wo sie in kleinere Tropfen zerfielen, die sich mit dem Schweiß vermischten.
Es hatte begonnen."

Timna ist Noahs Tochter. Bisher wussten wir nichts von ihr, denn die Bibel erwähnt nur Noahs Söhne, verschweigt aber, ob er eine Tochter hatte. Die Söhne von Noah heißen Sem, Ham und Jafet. Aber in diesem Buch erzählt Timna die Geschichte der Arche.

"Der Boden bäumte sich über mir auf und ich verlor meinen Halt am Gebälk. Ich rollte von einer Seite auf die andere und krachte gegen Mutter. Mutters Stöhnen ertrank in den von außen hereinbrechenden Schreien. Es war stockfinster. Der Boden neigte sich in die andere Richtung, und ich rutschte über die splittrigen Planken zurück zu meiner Schwägerin. "Pass auf mein Baby auf, du dummes Ding" – jammerte Bashemath und schützte ihren dicken Bauch mit den Händen."

Bashemath, Sems Frau, ist schwanger. Noahs Söhne und ihre Frauen sollen viele Kinder in die Welt setzen, und Bashemaths Kind wird das erste sein. Denn außerhalb der Arche wird keiner überleben. Timnas Brüder Sem und Ham finden das grandios. Gott hat sie auserwählt, zu überleben, und alle anderen müssen sterben.

"Das Wasser brodelte von Menschen. Sie schwammen oder klammerten sich an Baumstämme, Türen, Karrenräder. Auch Tiere schwammen zwischen ihnen: Hunde und Pferde, Vieh, Ziegen. Der Himmel war voll von vertriebenen Vögeln, sie kreisten und kreisten, ohne Landemöglichkeit. Hände klammerten sich an den Rumpf, die Hände von Schwimmern, die es irgendwie fertig gebracht hatten, sich an dem rauen Bauholz festzuhalten. Mein Bruder Ham war in heller Aufregung. Er schrie die Leute an: "Verschwindet! Verschwindet! Lasst los! Es ist zu spät! Ich hab es euch gesagt! Es ist eure eigene Schuld!""

Das Buch verschönt nichts. Wer es liest, wird Zeuge schrecklicher Szenen: Wenn ein verzweifelter Schwimmer es schafft, die Arche zu erreichen, stoßen ihn die älteren Söhne Noahs mit Stöcken ins Wasser zurück. Jeder Eindringling ist in ihren Augen ein Dämon, der Gottes Willen durchbrechen will. Timna beschreibt ihre Ratlosigkeit über das Verhalten der Brüder, über die Worte des Vaters, über das Schweigen Gottes, der sie verschont und alle anderen in den Abgrund reißt.

Noah: "Sei auf der Hut vor dem Bösen! Dämonen werden an die Tür klopfen. Und werden die Kinder des Herrn ihnen öffnen? Werden sie dem Bösen die Tür der Arche öffnen? Wirst Du das Böse hereinlassen, Timna? Es ist schwer, ich weiß. Aber wir müssen uns in Acht nehmen."

Ama: "Vater weiß es am besten, Timna. Es steht uns Frauen nicht zu, über Gottes Wege zu reden."

Gottes Wege sind geheimnisvoll. Und auch Noahs Worte bleiben ein Rätsel für seine Tochter. Doch Timna findet Verbündete in ihrem jüngsten Bruder Jafet und dessen Frau Zilla. Zu dritt retten sie einen Jungen und dessen winzige Schwester. Doch Timna hat Zweifel. Dürfen sie Menschen retten, die von Gott nicht auf der Arche vorgesehen sind? Jafet und Zilla sind ihrer Sache dagegen sicher.

"Sie schienen eine unausgesprochene Abmachung getroffen zu haben. Sie würden in heimlichem Einverständnis handeln. Sie würden das Unvorstellbare tun. Sie würden nicht nur dem Vater, sondern auch Gott die Stirn bieten."

Inzwischen werden die Tiere glanzlos und verwirrt, die Menschen leiden an Mangelerscheinungen und werden krank, der Regen dauert und dauert, und der Glaube an Gott und an den Wert der Familie wird auf eine harte Probe gestellt. Am Ende meutern die Frauen – unterschiedlich wie sie sind – denn auch sie hören Stimmen. Vielleicht Stimmen des Wahnsinns. Vielleicht eine andere Stimme Gottes. Noah ist nicht dabei, als seine Frau mit Timna spricht:

Ama: "Die Stimmen haben mir gesagt, dass Freunde ihren Nachbarn in der Not nicht aus dem Weg gehen. Dass die Welt nicht von Dämonen wimmelt. Wer einem Fremden Hilfe und Schutz gewährt, nimmt Gott in sein Haus auf. Warum sollte dieses Gesetz plötzlich nicht mehr gelten? Und deshalb bin ich sicher: Es muss noch andere geben, die die Flut überlebt haben, die anders gehandelt haben, die besser sind als wir."

Das Buch gibt keine Anleitung für den rechten Glauben. Wer Gott ist und was er will, steht in den Gesichtern der einzelnen Menschen geschrieben. Timna zieht ihre Lehre daraus und geht einen eigenen Weg. Vielleicht finden wir deshalb kein Wort von ihr in der Bibel.

Geraldine McCaughrean: Nicht das Ende der Welt. Ein Arche-Noah-Roman
Übersetzt von Stephanie Menge
Nagel und Kimche, 208 Seiten
14,90 Euro