"Eine Auszeit ist immer gut"

Werner Mezger im Gespräch mit Nana Brink · 16.02.2012
Karneval, Fasching, Fastnacht: Die närrische Zeit hat viele Namen und eine lange Geschichte. Ursprünglich sei Karneval eine Zeit gewesen, in der der Alltag "den Atem anhält", sagt der Volkskundler Werner Mezger von der Universität Freiburg. Idealerweise verkehre die Fastnacht alle Ordnung.
Nana Brink: Ab heute, so kann man wohl sagen, herrscht im Rheinland, und nicht nur da, in den kommenden Tagen Ausnahmezustand. Heute Abend beginnt die intensive närrische Zeit, der Karneval mit der Weiberfastnacht, und am Aschermittwoch ist bekanntermaßen alles vorbei. Dazwischen liegen sechs Tage, in denen viele von uns Fasching feiern, die Fastnacht, also quasi den Vorabend der Fastenzeit, zum Teil ziemlich heftig und unter Aussetzung normaler Verhaltensweisen. Am Telefon ist jetzt Professor Werner Mezger vom Institut für Volkskunde an der Uni Freiburg. Schönen guten Morgen, Herr Mezger – oder wie sagt man denn bei Ihnen eigentlich in diesen Tagen?

Werner Mezger: Heute müsste man in Freiburg eigentlich Narri-Narro sagen. So begrüßt man sich, ist nicht besonders intelligent, aber Narren dürfen ja auch mal ein bißchen logisch daneben sein.

Brink: Was ist schon intelligent in diesen Tagen? Vielleicht muss es das auch gar nicht sein. Der Ursprung der Fastnacht rührt ja aus dem Mittelalter. Wie viel steckt davon eigentlich noch in den heutigen Traditionen?

Mezger: Fastnacht ist natürlich nicht monokausal zu erklären, die hat mehrere Gründe. Sie ist zum einen ganz sicherlich eine Folge des Agrarzyklus an der Wende vom Winter zum Frühling, zur warmen Jahreszeit ist noch mal gefeiert worden, denn die Arbeitsrhythmen sind umgestellt worden und im Sommer konnte man einfach nicht so viel feiern, da war Feldarbeit angesagt. Das ist das eine, die zweite Ursprungsschicht hat ganz sicherlich etwas mit dem alten Kalender zu tun. Die Römer hatten ja ursprünglich ein Jahr mit nur zehn Monaten, an das sie dann später noch zwei Monate angehängt haben, den Januar und den Februar. Den haben sie später an den Anfang des Jahres gestellt, diesen Anhang, und diese zwei Monate, Januar und Februar, gelten zum Beispiel noch bis heute in Spanien als die "meses irregulares", also die unregulären, die irregulären Monate, und in denen darf man auch irreguläre Bräuche vollziehen

Und last but not least, die wichtigste Prägung hat die Fastnacht natürlich erhalten durch die Fastenzeit, die die katholische Kirche vors Osterfest gelegt hat: 40 Tage Abstinenz, die mit dem Aschermittwoch beginnen, und da war davor einfach noch mal ein Schwellenfest nötig, bei dem man sich austoben durfte und alles tun und lassen durfte, was in der Fastenzeit untersagt war. Das sind die drei Wurzeln.

Brink: Wir sprechen ja oft von der närrischen Zeit. Welche Funktion hatte denn damals der Narr?

Mezger: Es ist ja zunächst mal gar nicht selbstverständlich, dass in der Fastnacht überhaupt der Narr auftaucht. Das ist ein Phänomen, das wir nicht in allen Fastnachten Europas haben, sondern es ist eine spezifische Entwicklung der Fastnacht im mitteleuropäischen Raum, vor allem in Deutschland, Frankreich und in den Niederlanden, und es hat damit zu tun, dass die ursprünglich dominanten Verkleidungsgestalten der Fastnacht eigentlich die Teufel waren.

Dann aber ist ausgehend von Sebastian Brant, der 1494 ein Buch geschrieben hat, "Das Narrenschiff", in dem er die ganzen Torheiten seiner Zeit in Narrheiten gekleidet sah, dass ausgehend von Sebastian Brant dieser Narrenbegriff zu einer Art Signum der Epoche geworden ist und von da aus durch die Literatur eigentlich popularisiert, ist der Narrenbegriff dann in die Fastnacht hineingewachsen, sodass im mitteleuropäischen Raum der Narr zur dominanten Fastnachtsgestalt geworden ist.

Brink: Die närrische Zeit, vor allem ja auch in katholischen Städten und Regionen, da wird ja die Fastnacht schon lange gefeiert – ich frage mich immer, warum eigentlich nicht in den protestantischen?

Mezger: Das hat ganz einfach mit der unterschiedlichen Theologie zu tun. In der katholischen Kirche war es immer so, dass die Gläubigen noch mal ein Ventil haben durften, bevor die Fastenzeit begann. In dieser Ventilzeit, so nenne ich es mal, durften die Gläubigen mit Wissen und mit Billigung der Kirche auch noch mal all die Lebensformen am eigenen Leib erfahren, die nicht gottgefällig waren und die man in der Fastenzeit ablegen wollte. Ein Basler Franziskaner hat 1494 sogar mal geschrieben und gepredigt, man müsse die Krankheit erst kennenlernen, die man in der Fastenzeit heilen wolle.

Evangelische Theologie aber sieht das ganz anders, bis heute, nämlich dort gilt die Devise, wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um. Also lieber gar nicht erst Bekanntschaft mit dem Teufel und mit der verkehrten Welt machen, dann bleibt man darin auch nicht hängen. Das sind unterschiedliche theologische Systeme, unterschiedliche Formen der Katechese, hinzu kam aber noch, dass die evangelische Kirche ja auch die Fastenzeit abgeschafft hat, und aus diesem Grunde gab es gar keine Veranlassung mehr, in evangelischen Territorien Fastnacht zu feiern. Deswegen ist die Fastnacht eigentlich weniger verboten worden als schlicht und einfach eingeschlafen in den evangelischen Territorien, während sie bodenständig geblieben und kontinuierlich gefeiert worden ist immer in den katholischen Regionen.

Brink: Dass ja dann vielleicht auch irgendwie ein bisschen praktischer ist und auf das wir uns ja auch gerne heute noch berufen, wenn wir vom Ausnahmezustand sprechen. Brauchen wir also heute auch noch so was wie Narrenfreiheit, eine Auszeit?

Mezger: Eine Auszeit ist immer gut. Die Philosophen zum Thema Fest formulieren die Inhalte des Festes als "time out of time", eine Zeit, die aus der normalen Alltagszeit herausgenommen wird, in der der Alltag sozusagen den Atem anhält. Und solche Zeiten wünschen wir uns manchmal, auch Zeiten, in denen die Alltagswelt auf den Kopf gestellt wird, das wird ja idealtypisch auch immer von der Fastnacht behauptet, die Fastnacht verkehre alle Ordnungen – idealtypisch, wohlgemerkt.

Realtypisch sieht die Sache – das sage ich jetzt durchaus kritisch – oft ein bisschen anders aus: Es stimmt nicht, dass die Narren den Politikern immer den Spiegel vorhalten, dass sie Kritik üben, sodass andere aus der Fastnacht so den Alltag lernen können. In vieler Hinsicht stabilisiert die Fastnacht die Verhältnisse des Alltags, man muss nur einmal darauf achten, auf welch' höfliche Weise Politiker in der Fastnacht sich integriert sehen, wie sie hofiert werden, da sehe ich von Kritik eigentlich nicht allzu viel.

Brink: Also auch nichts von dem ursprünglichen Anarchismus, den die Fastnacht …

Mezger: Den gab es wahrscheinlich in dieser Form gar nie.

Brink: … mal gehabt hat. Sie haben es in dem Gespräch schon mehrfach angesprochen: Es gibt ja auch europäische Traditionen des Faschings.

Mezger: Es ist ungemein faszinierend, einmal über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Ich habe das in den letzten Jahren meiner Forschungen getan und habe Fastnacht, Fasching, Karneval in 20 europäischen Ländern untersucht, überall findet man erstaunlich ähnliche Formen, und das ist eine ungemein verblüffende Erfahrung, zu sehen, dass das, was man selber feiert, eigentlich ein kleines Mosaiksteinchen in einer großen Brauchlandschaft Europas ist. Und da wird das Ganze durchaus auch politisch interessant.

Gerade heute, wo Europa – vor allem durch die Eurodiskussion – zu einem Reizbegriff geworden ist, wer heute Europa sagt oder gar das Wort Euro in den Mund nimmt, der macht sich ja eher unbeliebt, gerade heute ist es wichtig, zu sehen, um es mit Pierre Bourdieu zu formulieren, dass es eben nicht nur fiskalisches Kapital gibt, das ganz schnell seinen Wert verlieren kann, wie wir sehen, sondern dass es daneben eben auch kulturelles Kapital gibt, kulturelles Kapital, das wertbeständiger ist und sich viel höher verzinst, als jedes fiskalische Kapital das je tun kann. Und wer zum Beispiel in den Fastnachten Europas sich umschaut – von Sizilien bis nach England, von der Iberischen Halbinsel bis ans Schwarze Meer –, der tut einen Blick in dieses Schatzkästlein des kulturellen Erbes Europas, der kann das kulturelle Kapital ein bißchen erahnen und genau auf diese Dinge sollten wir in Zukunft setzen, nicht nur auf den Euro. Diese Basis wäre zu schmal. Ein ernstes Wort sogar in der Fastnacht.

Brink: Professor Werner Mezger vom Institut für Volkskunde an der Uni Freiburg. Schönen Dank für das Gespräch!

Mezger: Bitteschön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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