Eine antiautoritäre Bildungsgeschichte

Abitur in Kochen, Fußball und Tischtennis

So erinnern wir uns an die 70er: Jugendliche sitzen im Kreis.
So erinnern wir uns an die 70er: Jugendliche sitzen im Kreis. © imago/Sven Simon
Von Knut Benzner · 24.07.2017
Angetrieben vom Reformgeist der frühen 1970er-Jahre, nahm damals die landesweit erste Integrierte Gesamtschule in Hannover ihren Dienst auf. Die Schüler konnten ihr Abitur etwa in Kochen oder Tischtennis machen. Der Jahrgang brachte Anwälte und Ärzte hervor.
1973. Am 01. Januar wird der Grundwehrdienst per Gesetz von 18 auf 15 Monate verkürzt, Willy Brandt ist noch Bundeskanzler, Richard Nixon noch Präsident, Portugal und Spanien noch, Griechenland wieder diktatorisch, wie der Sommer war, habe ich vergessen, wahrscheinlich warm, und ich glaube, ich war zum letzten Mal mit meinen Eltern im Urlaub, in Österreich, an einem See, dem voraus ging ein einmonatiger Interrail-Trip durch halb Europa, bis nach Griechenland. Walter Ulbricht stirbt, Heidi Klum wird geboren, der Reformpädagoge und Summerhill-Gründer Alexander Neill stirbt ebenfalls. In Chile putscht sich Augusto Pinochet an die Macht.
Erste Ölkrise. Der Weg zur Schule dauert mit Bahn und Bus und Fußweg eine knappe Stunde, später, mit dem Käfer eine gute halbe.
"Ich hab´ mich irre gefreut, dass ich auf diese Schule konnte, es war etwas ganz besonderes."
Neustadt am Rübenberge, Oda Schlie, verheiratet, keine Kinder, 1956 geboren und wie alle, die demnächst auftauchen oder erwähnt werden, Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer der IGS Roderbruch. Aber nicht etwa wahllos, sondern stets mit zwei Jahreszahlen verbunden: 1973 und 1976. IGS? Integrierte Gesamtschule, bis heute umstrittenes und diskutiertes Schulsystem, je nach Bundesland, je nach politischer Färbung, munter verquickt mit pädagogischem Konzept.
"Ich freute mich auf die IGS, weil mir die Sophienschule sehr verstaubt vorkam, das war sie sicher auch, sehr alter Lehrkörper, und dann IGS, junger Lehrkörper und natürlich: Wir wollen die Welt verändern."
Die Jahreszahl 1973 deshalb, weil wir, 120 Schüler sowie 30 Lehrer der Sekundarstufe II die ersten waren, wir waren die ersten in diesem Schulmodell, Schulversuch und Schulgebäude, Ganztagsschule, 120 Schüler des ersten Jahrgangs – der elften Klasse –, der dann 1976, somit vor vierzig Jahren, Abitur machte.
"Bevor die Schule anfing, bin ich schon zu diversen Fachkonferenzen gegangen. Dann fing die Schule an, und das war anders: Wir hatten Kursunterricht, das kannte ich bis dahin nicht, konnten uns sozusagen aussuchen, welche Kurse wollen wir machen."
Der Roderbruch? Ein Viertel, das es damals noch gar nicht gab, sondern sukzessive um die IGS Roderbruch herum entstand. Ein Viertel, das im Ostnordosten von Hannover ist, zwischen Groß Buchholz, Misburg, der Heidesiedlung und Kleefeld.
"Kunst hieß nicht mehr Kunst, sondern ´Visuelle Kommunikation`, Musik hieß nicht mehr Musik, sondern ´Auditive Kommunikation` und ich meinte auch, dass dann die Inhalte etwas ganz anderes sein müssten."
Was sie waren. Deutsch hieß "Verbale Kommunikation", Gemeinschaftskunde war, wenn man so will, aufgeteilt in Soziologie und Politik, die Halbjahre hießen Semester und das Strukturmodell der Psyche, Freuds "zweite Topik", Ich, Es und Über-Ich, war fester Bestandteil des Fachs Psychologie.
"Da haben wir uns über Aggressionen unterhalten, das waren so unsere Hauptthemen."
Aggressionen jeglicher Art: ´Aggression` meinte ein Verhalten, kein Motiv, überall. Was prägt mich als Person, wann und wo bin ich fremdbestimmt. Wir waren 1973, 1974 noch minderjährig, denn vor 1975 wurden Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland erst mit dem 21.Lebensjahr volljährig. Oda zog, gegen den Willen ihrer Eltern, in eine Wohngemeinschaft:
"Für mich war klar: Ich stehe links."
Die Wohngemeinschaft selbst war in der Regel keine Zweck-WG, sondern ein Entwurf und der Wohnungsmarkt in Hannover bot einerseits große Wohnungen an, andererseits häufig mit dem Zusatz: Keine WG. Was wir geworden sind? Ärzte, Juristen aller Art, Institutsleiter, Selbstständige.

Mathias Oehlert war Immobilienmakler in Kanada, Gunnar Jütte, seit 30 Jahren in Russland, hatte ein Restaurant und jetzt eine Kolchose als Biobauer, Doris ist meines Wissens Personalcheffin, Bernd Hitzmann, obwohl er Physik studiert hat, Professor für Chemie, Schorse – sein Bruder Georg – Gynäkologe, Fine Jahn betreibt östlich von Ülzen eine Töpferei, Klaus Sonnemann hat in Hannover-Limmer noch immer seine Kfz-Werkstatt und gibt auf Reparaturen zehn Prozent Rabatt für Schüler, Studenten und Rentner, Andreas Nedde ist pensioniert und immer noch Hypochonder, Barbara Schreiber ist Psychologin, mein alter Schulfreund Jürgen hatte eine Taxe, Peter Stenzel wohnt in Achim, Katrin Seeliger in München, Jürgen Kaatz ist in Bonn bei der Post, Almut lebt in Elze.
Paare, die schon vor vierzig Jahren zusammen waren, sind es immer noch, Christian Kuschel ist Künstler, Heyden Volkmann hat mindestens fünf Kinder - Oda war am Max-Planck-Institut für Geschichte und ist heute IT-Spezialistin.
"Ich bin kinderlos, mit dem Hintergrund: In diese Welt will ich keine Kinder setzen. Bei mir persönlich war auch noch so der Gedanke da, ich bin psychisch nicht unproblematisch, habe viele Probleme und ich möchte das keinem Kind antun, dass es so etwas von mir erbt."
Niemand gab uns eine Chance, die Konservativen sowieso nicht. Politisch-pädagogischer Zeitgeist, die Linken da hinten, zuerst Ruf, dann Stigma, aber auch Aura. Wesentliches Strukturmerkmal der Schule: die ein/drittel-Parität – Schüler, Lehrer, Eltern – auf allen Ebenen. Die Zusammensetzung der Schülerschaft: Ein drittel von anderen Gymnasien, ein drittel von Realschulen, ein drittel so genannte Kollegiaten, Zweiter Bildungsweg, somit Schülerinnen und Schüler, die bereits eine Lehre hinter sich hatten – und zwangsläufig ein paar Jahre älter waren.

Alle Lehrer wurden geduzt

Dedensen, zwischen Wunstorf und Seelze. Wille ist zu Besuch bei seinem Bruder und Oda ist mitgefahren. Wille ist schmal wie eh und je.
"Ja, ich bin fast 60 jetzt, eigentlich Wilfried, ja, ja ja, also ich hatte schon so verschiedene Bärtchen, aber das war mit meinem Bartwuchs immer eher etwas spärlich, ha, ich hatte dunkle Haare, ja, mittlerweile sind die jetzt nicht mehr ganz so dunkel aber hm, ja, färben ist auch blöd."
Wille und Oda haben auch mal zusammen gewohnt bzw. Wille tauchte immer dann auf, wenn das Abendessen auf dem Tisch stand und blieb dann, Oda und ich hatten, fällt mir ein, im nullten Semester das Projekt, "Triviales in Kunst, Literatur und Medien", bei Johannes Borchardt und Manfred Steuerwald, unserem Direktor – nun sollte ich endlich erwähnen, dass alle Lehrerinnen und Lehrer ausnahmslos geduzt wurden – eine neue Englischlehrerin versuchte, sich dem zu wiedersetzen, ohne Erfolg. Wille Reuper. Macht Druckproduktion, meist auf Englisch, schon lange, wohnt in Köln, auch schon lange,...
"Doch, auch bald 30 Jahre. Verheiratet, zwei Kinder, die sind auch keine Kinder mehr, sondern sind schon ziemlich groß, studieren beide, ja, sonst noch was?"
Wille war einer derer, die in einer dieser K-Gruppen waren:
"Ja, Politik, Politik, Politik, Revolution, was so dazu gehört. Ich war dem KBW zugehörig seinerzeit eine von diesen großen maoistischen Splittergruppen oder Parteien, die entstanden sind halt nach der 68´er-Bewegung, oder als Ergebnis der 68´er-Bewegung, Revolution ist notwendig, mal so kurz gesagt, kommunistisches Programm."
Wille kam stets zu spät zur Schule, weil er um sechs, wenn die Frühschicht begann, vor den Fabriktoren von Westinghouse, VW, der Conti und weiterer Fabriken stand und die...
"KVZ."
...die "Kommunistische Volkszeitung" verkauft hat.
"Ja in der Tat, in der Tat, das waren nicht so viele Zeitungen, die man verkauft hat, aber haha, sonst Revolution zu machen oder dies oder jenes, ja."
Es gab einige andere:
"Die KPD, KPD oder A0, jetzt an der IGS gab´s eigentlich dann nur noch diese DKP nahen Gruppen, die Jusos, und dann hört´s auch schon ziemlich auf, also das waren schon die Rechtesten, glaube ich. KB-Nord gab´s irgendwie auch so´n paar, ja, ja, aber nicht viele wirklich."
Wille hatte Physik und Gesellschaftswissenschaften als Leistungskurse und gleich in der ersten Woche kam es zu einem Streik und Vollversammlungen – es ging, er weiß es nicht mehr genau, um die Mitschüler des Zweiten Bildungsweges. Dass in der Zeit Maos – es gibt keine gesicherten Zahlen – zehn bis zwanzig Millionen Menschen ihr Leben verloren...
"Das war einfach nicht wahr, das war Propaganda. Aber es hat dann eben auch zu Zeiten des Pol-Pot-Regimes Spendensammlungen gegeben und obwohl man das hätte eigentlich wissen müssen, dass die Intellektuellen also in großem Maßstab hingerichtet wurden, das war bekannt. Ich hab´ mich auch blind gemacht, es war eben alles nur Propaganda von den USA und den Gegnern der Volksherrschaft, das fand ich und finde ich auch nach wie vor beschämend, ja."
Hat die politische Auseinandersetzung der Splitterparteien untereinander sowie jene mit den etablierten unser Schuldasein dominiert?
"Ämmm, meine auf jeden Fall, ja. Ja. Ich kann mich an Kurse über Lip..."
Französischer Uhrenhersteller aus Besançon, dessen Arbeiterinnen das Werk nach Entlassungen und Streiks 1973/74 kollektiv selbst verwalteten...
"...und über die irische Befreiungsbewegung, sehr interessant, sehr nette französische Lehrerin, Lore de Brossin, war ein Schwarm, also war super, hehehe, das war natürlich ´n Unterschied zu meinem Physik-Leistungskurs, da war ich sowieso relativ selten, in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern hat diese politische Auseinandersetzung schon ne große Rolle gespielt, würde ich behaupten."
Wille machte kein Abitur, sondern eine Lehre als Maschinenschlosser bei Max Müller, die politische Agitation im Betrieb war Teil der Aufgabe, dann war Wille zwei Jahre in Zimbabwe, hat Englisch und Spanisch studiert und wollte zur Bundeswehr. Niemand wollte in der Ära der Allgemeinen Wehrpflicht zur Bundeswehr, Wille wollte, um sie zu zersetzen:
"Und der Witz war dann, dann wollte mich die Bundeswehr nicht, ha, dann habe ich also über den entsprechenden Anwalt noch versucht, mein Recht auf Wehrdienst durchzusetzen und darauf hin habe ich also Befreiung vom Grundwehrdienst auf Lebenszeit bekommen, haha, was ich natürlich köstlich fand."

Aus kleinbürgerlichen Elternhäusern

Als Wille aus Zimbabwe zurückkam, hatte sich die Partei aufgelöst.
Manne Kraski: "Für unsere kleinen Gäste, da komme ich wohl nicht mehr durch, egal ob 13,90 oder 14,50. Was ist denn ne Pappardelle, weißt Du das?"
Eine breite italienische Bandnudel, vermutlich aus der Toskana.
"Warte erst mal ab, jetzt kommen die Teller. Ja, mein Name ist Manfred Kraski, ich bin jetzt 63."
Manne ist einer derjenigen, der von einer Mittelschule zur IGS Roderbruch kamen und damals – 1973 – 21 war. Manne kommt, wie ich, aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus:
Kraski: "Ja, nur Deine Eltern sind lustiger, Deine Mutter war auf jeden Fall lustiger als meine beiden Eltern zusammen, hahaha."
Manne war Gitarrist – und auf der IGS waren einige, die in für uns recht bekannten hannoverschen Bands spielten:
"Ja, Andreas Nedde war dabei, Florian von Hofen, Burkhard, leider schon verstorben, Kuschel, ach ja, genau, Christian Kuschel, wer noch?"
Christian Henjes, Detlef Katzer, Dieter Ahlers... Manne und ich hatten mit zehn anderen, darunter eine einzige Schülerin, Regina Hellwege, Sport-Leistungskurs:
Kraski: "Stimmt, oh ja, Werner Rischmüller zuerst, ne, und dann Willi Lüttich, genau, stimmt."
Und auch Manne wohnte in einer Wohngemeinschaft.
"Mit Dieter Ahlers, Jürgen Schwanz und Hans Diemel, das ist wahrscheinlich auch eine riesige Ausnahme, dass ´n Schüler mit seinem Lehrer inner WG wohnt."
Hans Diemel war Mathe-Lehrer... Mannes Verhältnis zu dieser und sein Verhalten in jener Zeit:
"Ahhh, ich sach mal so, ich bin nich´ einer derjenigen gewesen, die sich engagiert haben, aber im Kopf war ich ganz schön politisch, also ich hab´ auch ´ne ganze Menge Wut mit mir rumgetragen über die besehenden Verhältnisse damals, aber ich war immer so´n bisschen, glaube ich, so´n bisschen hallodrimäßig schon ne, aber ich hatte ja ne politische Freundin, das hat, das hat mir eigentlich gereicht, dass mein Privatleben politisch war, nochmal in der Schule, ich glaub´, das hätte ich nicht überlebt."
Das Private war politisch. Irgendwann stand Manne, nachdem ein Lehrer zum wiederholten Male meinte, man müsse das Allgemeine im Einzelnen erkennen und von ihm abheben, auf und brüllte: Immer schön abstrahieren, immer schön abstrahieren. Er macht bis heute Musik:
Kraski: "Ich lebe davon. Ich bin Musiker, ich bin Gitarrist, genau, ja, seit 25 Jahren spiel´ ich bei den Rattles, nochmal 25 Jahre werden wir wohl nicht hinkriegen."

Johannes kam von einem Mädchengymnasium

Johannes Borchardt: "Ich sage jetzt meinen Namen: Ich bin Johannes Borchardt."
Johannes ist 70 und war Lehrer an der IGS:
Borchardt: "36 Jahre lang, mit dem ersten Schultag im August 1973."
Johannes war Kunstlehrer respektive Lehrer für, schon gesagt, Visuelle Kommunikation – was ja auch der schönere Begriff ist:
"Das fanden wir damals auch."
Johannes, Hannoveraner, kam von einem Mädchengymnasium.
"Also einmal war die Architektur vollkommen anders, wir haben eine Schule gehabt, die nach dem amerikanischen Großraumprinzip organisiert gewesen ist, das bedeutet, dass in einem großen Raum es vier Ecken gegeben hat, in diesen vier Ecken waren Lernbereiche, keine abgeschlossenen Unterrichtsräume, die Wände sind erst ´ne ganze Ecke später eingebaut worden, sodass man ohne weiteres auch mitbekam, dass nebenan ein ganz anderer Unterricht, nicht nur vom Stil, sondern vom Fachthema und von der Gruppendynamik her stattfand."
Die Schule war unfertig: Keine Aula, keine Musikräume, keine Kantine, aber grüner Teppichboden.
"Im Parterre gab es nur einen fertigen Raum und das war die Schuldruckerei. Und es war vor allen Dingen eine Kunstluftschule, das heißt wir hatten eine Klimaanlage mit einem leichten Überdruck und das bedeutete, dass wir eigentlich keine Fenster aufmachen konnten oder sollten."
Geraucht während des Unterrichts haben wir trotzdem.
"Richtig, das wurde getan."
Denn vor jeder Unterrichtsstunde wurde darüber abgestimmt, ob geraucht werden sollte oder wollte. Oder nicht. Und Kunst war, die postulierte Gleichheit der Fächer, Leistungskurs. Das Minimum eines jedweden Kurses waren zwölf, das Maximum 24 Schüler, bei 24 Schülern wurde der Kurs in zwei Kurse geteilt, somit dann auf zwölf. Freiwillig weg vom Frontalunterricht zu anderen Lehr- und Lernformen. Teamteaching. Dass auch in der Visuellen Kommunikation konträr diskutiert wurde, versteht sich von selbst.
"Solche Diskussionen hat es natürlich gegeben, ich erinnere mich sehr gut an eine Diskussion mit Mathias Oehlert, wo es darum ging, dass wir über die gesellschaftliche Praxis der Arbeiter endlich mal reden sollten und auch deren Kunstbegriff diskutieren sollten und ich erinnere mich daran, dass vor unserem Unterrichtsraum die Pflasterarbeiten gerade durchgeführt wurden und dann haben wir verabredet, dass Mathias einfach mal vor die Tür geht und mit den Kollegen ein Gespräch über deren Kunstbegriff führt, was er dann auch gemacht hat, den Kollegen Pflasterarbeitern, und das hat er auch gemacht und er ist wieder rein gekommen und er war doch stiller und ernüchterter, genau."
Johannes war mit seinen Schülern sowie weiteren Lehrern in Finnland im Urlaub, und als wir 1976 Abitur gemacht hatten, dachte er, er müsse, weil er als Lehrer alles, was ein Lehrer erleben kann, erlebt hat, mit uns aufhören. Auf dem Tisch, an dem wir mit seiner Frau sitzen, liegen alte Akten und Unterlagen, Erinnerungen und Dokumente. Dass aus uns, wie prophezeit, nichts werden würde, sei, so Johannes, dann doch anders gekommen:
"Unbedingt. Also ich finde, die große Freude, Euch kennen gelernt zu haben und über drei Jahr in einem sehr kurzen Ausschnitt, wenn man das auf das ganze Leben bezieht, das kann man schon beinahe als eine romantische Attitüde werten. Es gibt unter unseren Schülern selbstverständlich auch Karrieristen, Aufschneider,..."
Aufsteiger...
"...und Schaumschläger, aber das ist auf keinen Fall die Mehrheit und begründet überhaupt nicht, dass es dann in Bayern keinen Studienplatz gibt."
Dass Kommerzfernsehanstalten damit und letztlich dadurch leben und Geld verdienen, indem sie Tätowierte, Glatzköpfige, schlecht gekleidete und unmanierliche Menschen zeigen, hätte er nicht gedacht.
"Eher nicht. Also mein erstes Abiturthema hieß ´Hans Magnus Enzensberger – Baukasten zu einer Theorie der Medien`, und was wir damals über die Emanzipation gedacht haben, wird überhaupt nicht eingelöst durch das, was wir heute in der Medienlandschaft sehen."

Das Ausprobieren von neuen Lebensformen

1,9.
Agnes Bartholomäus: "Eins Komma neun. Hmm, ich war auch selber von mir sehr beeindruckt, dass ich das geschafft hab´ und denke, das hängt auch mit der Schulform zusammen, die mir deutlich mehr entsprach als die Schillerschule, was ein sehr alt eingesessenes Gymnasium mit kriegsgeschädigten Lehrern war."
Agnes Bartholomäus, in diesem Jahr 60 geworden.
Bartholomäus: "Das klingt ganz fürchterlich, aber fühle mich eigentlich wie zwölf, hahahahaha."
Dass sie, dass wir alle ähnliche Vorstellungen haben, wie 60-Jährige sein sollten und wir in unserem Selbstbild diesen Vorstellungen jedoch nicht entsprechen, ist klar.
"Das hängt natürlich auch mit Lebensgeschichte zusammen und es hängt auch damit zusammen, dass wir in unserer Schule einen Grad an Entfaltung entwickeln konnten und Möglichkeiten entwickeln konnten uns auszuprobieren, die nicht selbstverständlich waren."
Bio und Gesellschaft als Leistungsfächer: Wie kommt es in Gruppen zu Entscheidungsprozessen, wie ist das Geschlechterverhältnis, wie findet Kommunikation statt.
"Es war auch die Zeit, wo man neue Lebensformen ausprobieren wollte und das haben wir ja in der Schule auch deutlich leben können. Es ging auch darum, wie gestalten wir Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern, was wollen wir voneinander, was erwarten die Lehrer von Schülern, was erwarten die Schüler von Lehrern, und dass es überhaupt diesen Dialog gab, das war schon was Besonderes."
Agnes, studierte Landschaftsplanerin und in der Entwicklungshilfe tätig, hatte früh beschlossen, dass sich das Konzept der Kleinfamilie erübrigt. Die Bildung einer Kleinfamilie war in ihrem Freundeskreis kein Thema. Wir sitzen im Vereinshaus des MTV Groß-Buchholz, einen Steinwurf von der IGS entfernt, auch dieses Gebäude, diese Anlage mit Tennisplatz usw. gab es damals nicht. Wenn wir zwischendurch etwas Essen wollten, ging es in die knapp einen Kilometer entfernte Hopfenklause. Michael, genannt Sweety, Agnes´ damaliger Freund, sitzt ihr gegenüber:
Michael Schwartzkopff: "Ja, Michael Schwartzkopff, auch gerade 60 geworden. Einige Parallelen zum Lebensweg von Agnes, ich war auch vorher ein Jahr auf der Schillerschule, die Lehrerin lief mit dem Button rum ´Sei kein Frosch, wähl´ CDU`, ich war bekennender Jungsozialist, und schon hatten wir im Deutschunterricht heftige politische Diskussionen, die dann bei mir dazu geführt haben, dass ich im halben Jahr von zwei auf fünf abgestürzt bin, weil wir eben die Qualitäten des Deutschunterrichtes in die Politik verlagert haben, oder umgekehrt."
1,0.
Schwartzkopff: "Richtig, Abiturdurchschnitt von eins Komma null. Damit kann ich auch heute noch meinen Sohn ärgern, mit den eins Komma null, der guckt sich dann an, was für Fächer das waren, sagt, na ja, das ist ja keine Leistung. Leistungskurs Bio, Leistungskurs Politik, Deutsch und als viertes Prüfungsfach Literatur, also schon sehr selektiv."
Michael war der beste.
"Ja, in Niedersachsen. Ehrlich? Ja, eins Komma null war damals nicht so häufig, vielleicht gab´s noch jemand anders mit eins Komma null."
Die Abiturzeugnisse wurden von Manfred Steuerwald, unserem Direktor, alphabetisch verteilt, die erste, die aufgerufen wurde, war Conny Voß, die aber nicht mehr Voß hieß, weil sie geheiratet hatte und nun mit A anfing. Michael war aufgrund seines Nachnamens, Schwartzkopff, relativ weit hinten. Die Zensuren las Steuerwald vor.

Agnes wohnt immer noch in Hannover, Michael seit vielen Jahren in Berlin. Er ist, nach Ausflügen zur der TAZ und in den Berliner Senat bei der GIZ, Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit.
Eine Lehrerin putzt am 21.06.2016, kurz vor Ende des Schuljahres, in der Integrierten Gesamtschule (IGS) Roderbruch in Hannover (Niedersachsen) die Wand eines Klassenzimmers.
Die IGS Roderbruch in Hannover gibt es seit fast 45 Jahren.© Sebastian Gollnow/dpa
Hätten wir bereits 1974 oder 1975 auf dieser IGS Abitur gemacht, wäre dieses Abitur in Baden-Württemberg, in Bayern sowie in der Schweiz nicht anerkannt worden, konservativen Kreisen war diese Schulform unvorstellbar.
Michael Schwartzkopff: "Also die Schulpolitik hat dazu beigetragen, dass es die IGS gibt. Und die IGS hat dazu beigetragen, dass ich so geworden bin, wie ich heute bin, und zwar ziemlich stark. Aber es war auch die gesamtgesellschaftliche Situation in der Zeit, da war der Radikalenerlass, an dem die SPD ja kräftig mitgestrickt hat, und dass Mitglieder der DKP keine Lokomotivführer werden durften, weil sie sonst die Züge in die DDR gefahren hätten, das hat natürlich die reformorientierte Schulpolitik schon ´n bisschen konterkariert. Und die Diskussion um äh ja, den bewaffneten Kampf, die RAF, den 02.06., der Bruder von Benno Ohnesorg war bei uns auf der Schule, das hat natürlich auch einige persönliche Beziehungen geschaffen und durch diese persönlichen Erfahrungen die Politisierung weiter verstärkt."
Sein Abiturthema in Biologie war die Evolution, spezifischer: Die Unterschiede zwischen dem Waldbaumläufer und dem Gartenbaumläufer, zwei unterschiedliche Vogelarten, die sich nicht vermischt haben. Was wir nicht geworden sind? Politiker, Schauspieler, Pastoren, Bankdirektoren. Diese Schule als Schlüssel fürs Leben:
Schwartzkopff: "Richtig."

Selbst IGS-Lehrer geworden

Daniel Simons, Tiny, ist Lehrer. Aber nicht irgendein Lehrer, sondern, über viele Umwege, Lehrer an unserer alten Schule, der IGS Roderbruch:
Daniel Simons: "Ich hatte also berufliche Schwierigkeiten, ich bin aber deshalb Lehrer an der IGS Roderbruch geworden, weil ich einfach eine sehr positive Erinnerung an meine eigene Schulzeit, an diese drei Jahre Oberstufe, mehr war´s ja gar nicht, in mir trage und zu tragen hatte, als ich vor 15 Jahren da eben mich beworben habe."
Mit 44 1/2, der Schulleiter hatte dafür gesorgt, dass Tinys Probezeit nicht unnötig ausgedehnt und er verbeamtet werden konnte. 59, ein Kind, 24, zwei mal verheiratet gewesen.
Simons: "Für mich hat das verbeamtete Lehrersein wie hoffentlich für die meisten verbeamteten Lehrer die große Motivation, die große Annehmlichkeit des fast unkündbaren Berufsverhältnisses. Und das trägt zur inneren Freiheit bei, ich muss mir nicht so viele Sorgen machen über meine berufliche Zukunft."
Tiny ist Kunstlehrer.
Simons: "Was mir das wichtige war, oder was mir das wichtige rückblickend ist, ist die Möglichkeit, die wir hatten, gehört und ernst genommen zu werden, also diese Mitgestaltung des Lebensraums Schule. Das zu erfahren, das war für mich das Größte, in einem partnerschaftlichen Umgang auch zwischen Lehrerinnen, Lehrern und Schülerinnen und Schülern, wir haben da Freundschaften geschlossen."
1976.
Helmut Schmidt bleibt Bundeskanzler, Jimmy Carter wird Präsident der USA, Ulrike Meinhof wird in ihrer Zelle in Stuttgart-Stammheim erhängt aufgefunden, in Ost-Berlin wird der Palast der Republik als Volkskammer und Kulturhaus eröffnet, Wiedervereinigung Vietnams, Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA, zur Trauerfeier für Mao Tsetung finden sich in Peking geschätzte 1,5 Millionen Chinesen ein, der Montag wird in der Bundesrepublik als erster Tag der Woche festgelegt, Ende des Jahres wird Wolf Biermann ausgewiesen, die Band The Band gibt ihr Abschiedskonzert, Wladimir Klitschko wird geboren, Stephanie zu Guttenberg, Gattin des ehemaligen Verteidigungsministers, auch.
Gustav Heinemann stirbt, Fritz Lang ebenfalls, ebenso wie Man Ray und Gottfried von Cramm. Es gibt nach wie vor nur drei Fernsehprogramme, das Erste, das Zweite und, pro Sendeanstalt der öffentlich-rechtlichen, das Dritte. Das reichte.
Tiny, der Kunstlehrer:
Simons: "Meine Beobachtungen sind die, ich beobachte eine andere Generation und erinnern tue ich an mein eigenes, nicht, an mein eigenes Jungsein. Aber ich hatte den Eindruck, als ob uns die Welt offen stehen würde und als ob es enorm viele Chancen geben würde, das war ein potentiell wegweisendes Experiment, da schien die Welt in ihren Entwicklungsmöglichkeiten schöner."
Und ich? Abitur in Fußball und Kochen – was immer noch sowohl für Gelächter als auch für Verwirrung und Erstaunen sorgt. Fußball war lediglich Teil des Leistungskurses Sport, in dem es aber auch um andere Sportarten ging dazu Sportsoziologie und Trainingslehre.
Kochen war Technologie der Hauswirtschaft, eine Mischung aus Biologie, Physik, Chemie, Mathematik, richtigem Zähneputzen und eben Kochen. Lange Haare – erinnern Sie sich an Günter Netzer? Ein Witz! Unsere Haare waren so lang, dass ich sie, wenn wir denn spielten – und das war annähernd täglich –, zusammenbinden musste, weil sie mir sonst die Sicht genommen hätten. Die von Dieter Seffer waren noch länger. Und Hans-Jürgen Höfermann, einer der des zweiten Bildungswegs, sah aus wie der Leibhaftige. Wie der Leibhaftige Verfasser des Kapitals. Lange studiert, Soziologie, Politik und Philosophie sowie ein paar Semester Sport. Ein paar Semester nur, weil bis auf mich scheinbar niemand von Bero Rigauers "Sport und Arbeit" gehört hatte, dem Zusammenhang von Sport und gesellschaftlicher Arbeitswelt.
Spät, sehr spät Vater geworden, schulpflichtige Kinder, wenn Sie verstehen, wie spät ich damit meine. Eheähnliches Verhältnis, mit der Familie glücklich, an der Gesellschaft durchaus munter freundlich verzagend zweifelnd.
Haare wieder lang.
Vor ein paar Monaten hatten wir unser Jahrgangstreffen zum 40. Jubiläum unseres Abiturs: Von den 110, die 1976 Abitur gemacht hatten, waren 70, 75 da. Eine Abifeier haben wir übrigens nicht gemacht, weil eine Abifeier bürgerlich gewesen wäre. Wir haben eine Eiche gepflanzt neben unserer Schule. Die steht auch noch.
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