"Ein Protest, der tatsächlich aus dem Volk heraus kommt"

Ingo Petz im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 27.07.2011
Weil sich immer mehr "normale Leute" an den Protesten gegen Präsident Alexander Lukaschenko beteiligten, sei die Bürgerbewegung in Weißrussland nicht mehr umkehrbar, ist der Journalist Ingo Petz überzeugt. Das, was jetzt passiere, sei schon sehr erstaunlich und könne sich noch ausweiten.
Liane von Billerbeck: Heute Abend soll es wie an jedem Mittwoch wieder Proteste geben in Weißrussland gegen Alexander Lukaschenko, den letzten Diktator Europas. Seit Wochen versucht ja die vor allem junge Opposition auf ungewöhnliche und ungewöhnlich fantasievolle Weise ihren Protest kundzutun mit Schweigemärschen, mit Klatschen und konstatiertem Handyklingeln. Obwohl nonverbal, wurden Dutzende Demonstranten von zivilen Häschern Lukaschenkos weggezerrt und in Schnellverfahren zu Haft- und Geldstrafen verurteilt.

Organisiert hat diese Proteste eine Gruppe weißrussischer Exilanten von Polen aus, die sich "Revolution durch soziale Medien" nennt und sich vorrangig über das russische Pendant von Facebook namens VKontakte vernetzt. Mit dem Weißrusslandkenner, dem Journalisten und Autor Ingo Petz habe ich vor unserer Sendung über diesen Protest und seine Erfolgschancen gesprochen.

Herr Petz, wie ist denn die Lage aktuell am heutigen Protestmittwoch, wird es wieder Demonstrationen geben?

Ingo Petz: Demonstrationen und Proteste wird es auf jeden Fall wieder geben, wie - ich glaube, seit Anfang Juni - jeden Mittwoch werden sich die Leute auch wieder in wahrscheinlich zahlreichen Städten in Weißrussland auf zentralen Plätzen versammeln und dann ihren Protest kundtun.

von Billerbeck: Warum waren denn die Proteste in dieser Form – also, mittels Klatschen, Handyklingeln oder schlichtem Schweigen – so wirksam?

Petz: Vielleicht dreht man die Frage einfach um: Warum waren die Proteste der parteipolitischen Opposition in den letzten Jahren so unwirksam? Ich glaube, mittlerweile ist das ein Protest, der tatsächlich aus dem Volk heraus kommt. Diese junge urbane Elite, Studenten beispielsweise, die haben ja schon seit 2006 nach den Präsidentschaftswahlen protestiert, die sind schon aufgefallen als diejenigen, die ein selbstbestimmtes Leben haben wollen, so wie wir das hier im Westen haben.

Aber mittlerweile ist auch ein Mittelstand dazugekommen. Und so ein Protest aus dem Volk heraus ist natürlich moralisch wesentlich legitimer, als wenn sich da die parteipolitische Opposition einmischt. Zudem muss man sagen, wenn die Oppositionsparteien da mitmachen würden, hätte das Regime natürlich vordergründig einen Grund, diese Demonstrationen aufzulösen.

von Billerbeck: Wie stark ist denn nun diese Opposition, diese junge Opposition, die man auch in Internetvideos immer sieht, wenn sie da mit sehr fantasievollen Aktionen auf die Straße geht?

Petz: Ich glaube mittlerweile, dass sie sehr, sehr stark ist. Das hat sich über die letzten Jahre aufgebaut, diese junge Elite, die ich eben erwähnt habe - das sind also vor allem Studenten, die in Minsk studieren - die ist sowieso stark. Dazugekommen ist ein Mittelstand, also Unternehmer. Die Privatwirtschaft ist ja vom Anteil her in dieser Staatswirtschaft Lukaschenkos ... hat einen sehr geringen Anteil. Aber die ist gerade in der Zeit zwischen der Liberalisierung zwischen der EU und Belarus in den letzten Jahren ist die etwas stärker geworden, die haben auch schon ihren Protestwillen gezeigt in den letzten zwei, drei Jahren, die arbeiten – ich würde jetzt nicht sagen, die arbeiten zusammen, aber das ist so der Kern dieser Proteste, die gerade passieren.

Aber ich habe auch von Menschenrechtlern gehört, die sich mit den Verhaftungen beschäftigen, dass auch mittlerweile junge Fabrikarbeiter aus der Provinz an diesen Protesten teilnehmen, es werden immer mehr normale Leute in diese Proteste teilweise einfach willkürlich hineingezogen, weil sie an diesen Spaziergängen dann teilnehmen und das trägt diesen Protestwillen immer weiter in die Bevölkerung hinein, und trägt vor allem auch die Angst vor dem Regime immer weiter in die Bevölkerung hinein. Ich glaube, das ist nicht mehr umkehrbar.

von Billerbeck: Die Staatsmacht unter Lukaschenko musste sich ja am Unabhängigkeitstag, also am 3. Juli, ziemlich lächerlich machen, indem sie das Händeklatschen verboten hat. Sie hatte schlicht keine Claqueure mehr. Inzwischen hat man aber den Eindruck, sie scheint das wieder unter Kontrolle zu haben, denn in vielen Internetvideos sieht man ja wieder Lukaschenkos zivile Leute Demonstranten wegzerren. Man sieht aber auch, wie ganz normale Frauen auf sie einschlagen und einreden, um ihre Leute da wieder rauszuzotteln. Trotzdem: Wird es dennoch trotz dieser brutalen Verhaftungen wieder mehr Proteste geben?

Petz: Ich glaube, letzte Woche waren es etwas weniger Proteste, die Leute haben natürlich Angst, dass sie verhaftet werden. Das muss man sich mal vorstellen! Dass so was überhaupt in Europa im 21. Jahrhundert passiert ist! Schwarzgekleidete, zivil gekleidete Männer gehen in diese Spaziergänge hinein und greifen sich dann zu dritt irgendwelche Demonstranten heraus. Das macht natürlich Angst, das ist ganz klar.

Da haben wir ja häufig Leute, die noch nie in Konflikt mit diesem Regime gekommen sind, wissen natürlich auch nicht, was mit ihnen passiert, also, ob sie dann auch weiter ihrer Arbeit zum Beispiel in einer staatlichen Fabrik nachgehen können oder ob sie rausgeworfen werden, das sind natürlich alles Faktoren, die da mit reinspielen.

Ich glaube, im Sommer wird es jetzt etwas ... diese Proteste haben noch nicht den Charakter von Massenunruhen, wie wir das jetzt in der arabischen Welt beispielsweise gesehen haben, aber das kann sich im Herbst, glaube ich, ganz schnell ändern. Lukaschenko muss im Prinzip die Wirtschaft modernisieren. Kredite helfen, glaube ich, nicht mehr – das weiß er, glaube ich, auch selbst.

Wenn er beispielsweise die Gehälter und die Renten nicht mehr zahlen kann im Herbst, Winter, wenn der Rubel noch weiter abgewertet werden wird und die Lebensmittelpreise steigen, wenn die Energiepreise weiter steigen, dann glaube ich, könne da ein ziemlich heißer Herbst auf Weißrussland zukommen.

von Billerbeck: Der Journalist und Weißrusslandkenner Ingo Petz ist mein Gesprächspartner. Wir sprechen über die Erfolgsaussichten der neuen Proteste gegen das Lukaschenko-Regime. Die Lage ist ja eigentlich in Weißrussland schon dramatisch – Sie haben das ja beschrieben –: Der weißrussische Rubel ist zu 50 Prozent gegenüber Euro und Dollar abgewertet worden, die Lebensmittelpreise sind extrem gestiegen, Lukaschenko hat eine Liste sozial wichtiger Produkte aufgestellt, die angeblich nicht mehr teurer werden müssen, was dazu führt, dass die Firmen, die sie herstellen, die einfach umbenennen, damit sie sie trotzdem teuer verkaufen können. Warum sind da die Proteste nicht jetzt schon viel stärker? Das geht ja an den Kern!

Petz: Das geht sicherlich an den Kern, und dass nicht nur in Minsk protestiert wird, sondern in vielen anderen Städten - ich glaube, mittlerweile sind es über 20 Städte -, das hat man ja in den letzten Jahren noch nicht erlebt. Das ist natürlich im Vergleich zu den arabischen Revolutionen ist das immer noch sehr, sehr wenig. Aber ich, als jemand, der sich seit über 15 Jahren mit Weißrussland beschäftigt, für den ist das schon außergewöhnlich, muss man sagen.

Man muss ein bisschen geduldiger mit den Weißrussen sein. Es ist kein Volk wie die Franzosen beispielsweise, sehr protestwillig ist, das müssen die erst mal für sich entdecken, sie müssen entdecken, dass sie auch eine gewisse bürgerliche Verantwortung oder Pflicht gegenüber ihrem Land haben. Das Land gibt es ja erst seit 1991. Das heißt, da braucht man einfach eine gewisse Geduld. Und das, was jetzt passiert, ist schon sehr erstaunlich, und das kann sich noch ausweiten. Das wird sich nicht mehr umkehren lassen.

von Billerbeck: Nun gibt es ja diese Gruppe, die vor allem von Polen aus operiert – weißrussische Exilanten, die nennt sich Revolution durch soziale Medien. Und die nutzen zur Verbreitung ihrer Proteste oder zum Aufrufen dazu das russische Pendant zu Facebook, das heißt VKontakte. Wer sind diese Organisatoren?

Petz: Das sind vor allem junge Studenten, die in Weißrussland Studenten waren, die jetzt auch in Polen Studenten waren, da über Stipendien weiterstudieren können, und die nach dem 19. Dezember, also nach dem berüchtigten finalen Wahltag der letzten Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr, an denen es ja diese großen Proteste in Minsk gab, die dann bewusst ausgewandert sind – die nach Polen gegangen sind, um von außen diese Protestbewegung zu schüren, ja, zu beeinflussen.

von Billerbeck: Wie werden denn nun diese Proteste via Internet organisiert? Das weißrussische Regime kann das ja auch beobachten und muss sich dann eigentlich nur an den verabredeten Orten aufstellen und die Leute einsammeln!

Petz: Man versucht von Woche zu Woche die Taktiken etwas zu verändern, die Plätze, an denen man sich trifft. Natürlich wird dieses VKontakte, überhaupt das Internet wird natürlich vom KGB beobachtet, das heißt, man versucht auch einfach die Seite zu stören, und gerade diese Seite dieser "Revolution durch soziale Medien" war auch schon häufiger abgeschaltet – weil Hacker des KGB wahrscheinlich diese Seite attackiert haben. Aber in dieser Gruppe gibt es technisch sehr versierte Leute, Computerspezialisten, und die schaffen es immer irgendwie, diese Seite am Laufen zu halten.

Natürlich weiß der KGB, wo diese Proteste dann in den Städten stattfinden, das hält die Leute aber dennoch nicht davon ab, daran teilzunehmen. Das ist einfach, um dann auch ein Zeichen zu setzen: Wir sind hier, wir gehen auf die Straße! Viele Leute sind grade noch auf ihrer Datscha, das muss man auch sagen. Da gibt es auch noch zu essen beispielsweise, deswegen wird der Sommer kein großer Protestsommer werden, da muss man einfach den Herbst jetzt abwarten.

von Billerbeck: Wir haben's erwähnt: KGB und die Rolle Russlands. Ich will noch mal danach fragen: Russland wacht ja wie ein Geier, schrieb die "SZ", über den Nachbarn Weißrussland, weil man natürlich Interesse an großen Firmen hat. Welche Rolle spielt Russland bei der Stabilisierung des Regimes?

Petz: Russland ist der stabilisierende Faktor in den letzten Jahren gewesen, damit dieses Regime Lukaschenko überhaupt funktionieren konnte. Vor allem billige Energiepreise haben diese künstliche Staatswirtschaft und damit die Macht Lukaschenkos am Laufen gehalten. Bis 2007 waren es so was um 3,5 Milliarden Euro, mit denen Russland dieses Regime indirekt subventioniert hat. Russland ist der größte Handelspartner von Weißrussland, Russland spielt also wirtschaftlich die bedeutendste Rolle in der Beziehung mit Weißrussland. Und im Moment ist das tatsächlich so, Russland weiß, Lukaschenko muss die Wirtschaft modernisieren, muss sie privatisieren, und sie warten einfach darauf, dass sie natürlich da die lukrativen Unternehmen zugeworfen bekommen und so natürlich auch dann wirtschaftlich und damit politisch auch mehr Einfluss gewinnen können.

von Billerbeck: Herr Petz, Sie kennen sich aus, Sie befassen sich seit Langem mit Weißrussland. Wenn Sie die Lage einschätzen, Sie sagen, im Herbst könnte es dramatischere Proteste geben. Ein System wie das Lukaschenkos, das mit dem Rücken zur Wand steht, wie gefährlich ist das? Sehen Sie da die Gefahr einer chinesischen Lösung, wenn wir an die Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens vor vielen Jahren denken?

Petz: Also, ich habe viele Freunde da, und daran möchte ich natürlich nicht denken, aber das ist so: Ein Regime, das mit dem Rücken zur Wand steht, ist sehr, sehr nervös, und ein nervöses Regime ist sehr, sehr gefährlich und unkalkulierbar, unberechenbar. Viele meiner Freunde sagen auch, sie haben die Befürchtung, das Regime wird in nächster Zeit noch totalitärer werden, wird jegliche Opposition noch brutaler, noch drastischer unterdrücken, und wenn diese Proteste tatsächlich im Herbst stattfinden sollten, kann es natürlich auch zu Blutvergießen kommen – das darf man nicht ausschließen! Ich hoffe das natürlich nicht, aber ist zu befürchten, ja.

von Billerbeck: Am heutigen Protestmittwoch in Weißrussland sprachen wir mit dem Journalisten und Autor Ingo Petz. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Petz: Danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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