Ein Erinnerungsort

Von Martina Seeber · 03.05.2012
Es kann befremdlich sein, nach Jahren wieder durch die Straßen einer ehemals vertrauten Stadt zu laufen, vielleicht sogar befremdlicher, als sich an neue Orte zu bewegen. Die "fremde" und zugleich "seltsame" Stadt, auf die Claude Vivier im Titel anspielt, trägt keinen Namen. Vielleicht ist sie auch keine Stadt, sondern ein Erinnerungsort.
Der damals 33-jährige Komponist beschreibt "Et je reverrai cette ville étrange" als eine Rückkehr an einen bestimmten Ort seines Lebens, an bestimmte Melodien, die seiner Vergangenheit angehören. Das Material des neuen Stücks stammt aus "Learning", einer Kammermusik für vier Violinen und Schlagzeug von 1976. In "Et je reverrai cette ville étrange" kehren die Melodien fünf Jahre später notengetreu wieder. Was einfach klingt, beschreibt Claude Vivier allerdings als einen "Akt der Verzweiflung". Das Neuarrangement bedeute nichts anderes als den Versuch, Vergangenheit und Zukunft zu verbinden, die fragmentierte Zeit wieder in ein Kontinuum zu verwandeln und damit letztlich sich selbst wiederzufinden.

"Ich muss mich meinem Material nah fühlen, ich muss es durchleben", betont Vivier. Gerade in Bezug auf Melodien, die den Kern seines Schaffens bilden, hebt er die Bedeutung des Durchlebens hervor: "Die Melodie steht bei mir oft am Anfang eines Werks. Ich komponiere sie, dann singe ich sie so lange in meinem Kopf, bis sie sich von selbst entwickelt und eine eigene Gestalt annimmt." Im Zuge der Neubearbeitung des Materials aus "Learning" durchläuft Vivier diesen Züchtungsprozess allerdings nicht noch einmal. Die Anverwandlung und Verankerung in der Zukunft (Vivier spricht ausdrücklich nicht von der Gegenwart) geschieht durch die Neuordnung und vor allem durch die Instrumentierung. Dabei ist allerdings nicht alles neu, was sich vorschnell den Einflüssen der dazwischen liegenden Asienreise anrechnen ließe. Mit den kleinen waagerechten Gongs – balinesischen "Trompong" – und auch der japanischen "Rin"-Schale weht zwar ein Hauch des fernen Ostens durch die Neufassung, der hängende, ebenfalls aus Bali stammende, Gong ist hingegen bereits in der Schlagwerk-Stimme des Vorgängerwerks zu hören. Aus der Distanz wirkt Viviers Gesamtwerk ohnehin weitaus weniger fragmentiert und unzusammenhängend, als der Komponist sein eigenes Leben wahrnahm. Gerade den zeremoniellen Perkussionsinstrumenten wie Gongs und Glocken, aber auch den ritualhaften Wiederholungen begegnet man schon in den ersten Stücken, dort aber im Zusammenhang mit christlicher Kirchenmusik. Vivier verstand Kunst von Anfang an als "heiligen Akt", als "Offenbarung seiner Kräfte und die Verbindung mit ihnen". Im Ritual der Wiederholung, Erneuerung und Reinigung hat das alte Material durch die erneute Aneignung auch in diesem Werk eine Transformation durchlaufen. Es mag sein, schreibt Vivier im Rückblick, "dass ich in der konsequenten Einstimmigkeit von "Et je reverrai cette ville étrange" zur reinsten, melodischen Form gelangt bin".


Ferne Welten - Das Ensemble Laboratorium und der Dirigent Manuel Nawri
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