Ein Abgrund gefüllt mit Albträumen

02.09.2011
Hans Henny Jahnn ist einer der großen Söhne Hamburgs, ein Architekt, Orgelbauer, Denker und Schriftsteller. Geboren 1894, emigrierte er während beider Weltkriege. Jetzt ist seine letzte Erzählung "Die Nacht aus Blei" als Hörspiel erschienen.
Hans Henny Jahnn war Pazifist und erklärter Nazi-Gegner. Aber auch ein Eigenbrötler mit bizarren Größenfantasien. Seine Romane, "Perrudja", "Fluss ohne Ufer" oder "Ugrino", wurden als Fragmente veröffentlicht. Vielleicht deshalb blieben Ruhm und Auflagen schon zu Lebzeiten des Kleist-Preisträgers ausgesprochen mäßig. Das hat sich auch posthum nicht groß gebessert.

Mit anderen Worten, es gibt nicht sehr viele, die Hans Henny Jahnns Texte kennen. Nun haben wir hier eine Gelegenheit, nicht lesend, sondern auf etwas bequemere Art mit seiner letzten Erzählung "Die Nacht aus Blei" Bekanntschaft zu machen. Und zwar über ein Hörspiel des preisgekrönten Regisseurs Alexander Schuhmacher.

Zum Vergleich: Kafka. Der kostet ja schon eine gewisse Überwindung. Denn seine Perspektive auf die Welt tut weh. Aber Kafka ist ein Waisenknabe gegen Hans-Henny Jahnn. Der 1959 verstorbene Jahnn hat nicht Kafkas Distanziertheit, die einem das Grauen hinterrücks und tröpfchenweise einflößt. Nein, bei ihm ist alles unmittelbar. Er wütet mit Worten, drischt auf sie ein, beschwört exzessiv die Qualen des Menschseins. Auch in seiner letzten Erzählung "Die Nacht aus Blei".

"Ich bin unbekleidet und in solchem Zustand ein ungehöriger Fleck auf dieser Straße."

Frierend steht der 23-jährige Mathieu allein auf dem Boulevard einer Geister-Stadt.

"Die Häuserfronten sind angestrahlt, doch scheinen sie von Schatten übergossen."

Mathieu – gesprochen von Michael Rotschopf - wurde von einem Engel namens Gari im Reich der Schemen und Dämonen ausgesetzt. Gari, sehr ernst interpretiert von Ulrich Noethen, bietet dem verlassenen Mathieu erst noch ein kleinwenig Beistand in der Fremde …

"Du ertastest mit deiner Haut die andere Form, meine gütige Wärme, die sich dir anschmiegt, begreifst, dass ich dich – männlich – mit voller Gestalt halte."

… aber dann wechselt Gari die Rolle, spielt mal die Stimme des Schicksals, der Eingebung, des Bewusstseins. Mathieu ist nun schutzlos seinem albtraumhaften Abenteuer überlassen, suggestiv untermalt von der Musik Jakob Diehls.

Ein Panoptikum seltsamer Figuren tritt auf: darunter ein lasziver Knabe mit der wunderbar verspielten Stimme von Barnaby Metschurat. Er lotst Mathieu ins Etablissement Elvira, verspricht ihm hübsche Brüste und eine Verwandlung.

"Ich möchte weiter gehen.
Sie irren sich, mein Herr, Sie möchten nicht weiter gehen. Sie sind in diese Stadt gekommen und können hier nicht vorüber. Sie wissen es. Sie haben schon viel versäumt."

Was hat Mathieu versäumt? Vielleicht "die Wildheit der Liebe", die Hans Henny Jahnn immer wieder in seinen Werken einfordert.

"Ich bin aus irgendeinem Schimmer hierher verstoßen worden in diese neue, unbekannte Sehnsucht."

Nur wenig später erlebt er im Bett mit Elvira die Enttäuschung dieser Sehnsucht.

"Sie bleibt aus, die Bewegung, die Überraschung, die Deinem Dasein noch nicht beschieden gewesen war. Der Ausbruch einer unbegrenzten Empfindung, gewaltiges Vorspiel und Rausch zugleich. Du erwartest die größte Ausdehnung deines Wesens,"

… doch die Erwartung ist schon auf der Flucht, heißt es an dieser poetischsten Stelle des Hörspiels. Dann aber trifft der 23-Jährige jemanden, den er sofort und bedenkenlos liebt - Mathieu trifft sich selbst, wie er war als Knabe.

"Bei der Verschmelzung zur völligen Gleichheit stören nur ein paar Jahre."

Beide Mathieus werden von Michael Rotschopf fein differenziert gesprochen, in ihrem seltsamen Liebes-Endkampf, der sich allerdings – ein Sehnsuchts-Postulat ergibt, das nächste – opernhaft lange hinzieht. Bis der Jüngere schließlich fordert:

"Wüten Sie gegen mich Mathieu! Zerfetzen sich mich! Kann es in dieser Gruft noch eine andere Freude geben als den Mord?"

Der Ältere tötet den Jüngeren mit einem Fauststoß in die bereits blutig offenliegenden Eingeweide. "Die Nacht aus Blei" wurde als Jahnns unverhülltes Eingeständnis seiner Homosexualität gedeutet.

Die Frage ist: wieso dieses Hörbuch auf sich nehmen? Die Antwort: weil es jenseits unserer hübschen Lebensoberflächen einen Abgrund gibt, um den wir heimlich wissen, aber nicht so genau. Einen Abgrund gefüllt mit Albträumen, Angst vor dem Tod, vor Gewalt und Sinnlosigkeit. Schriftsteller wie Kafka oder Hans-Henny Jahnn leuchten ihn aus. Hörspielkünstler wie Alexander Schuhmacher spielen gekonnt mit seinen Atmosphären. Die Rede ist vom Abgrund in den Seelen aller Menschen. Und es mag paradox klingen, aber die, die sich trauen, dahinunter zu schauen, sind umgänglicher, liebenswerter und gleich viel schöner. Also nur Mut. Das Mittel heißt: "Die Nacht aus Blei" von Hans Henny Jahnn, als Hörspiel inszeniert von Alexander Schuhmacher.

Besprochen von Georg Gruber

Hans Henny Jahnn: "Die Nacht aus Blei"
Hörspiel von Alexander Schuhmacher
Hörbuch Hamburg 2011, 2 CDs, Laufzeit: 112 Minuten
Empfohlener Preis: 16,99 Euro

Mit Michael Rotschopf, Ulrich Noethen, Sandra Borgmann, Leslie Malton
Musik komponiert von Jakob Diehl,
gespielt vom Rosetta Ensemble unter der Leitung von Manuel Nawri