Ehrenamtliche Vormünder für Flüchtlinge

Beziehungen zwischen Familienersatz und Frust

Ein Bewohner einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge steht am 14.11.2016 in Dresden (Sachsen) am Eingang eines Aufenthaltsraums. Am gleichen Tag besuchte Sachsens Sozialministerin die Einrichtung in der Sächsischen Landeshauptstadt.
Ein Bewohner einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge steht am Eingang eines Aufenthaltsraums. © picture-alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Von Marie Wildermann · 27.03.2017
Tausende Ehrenamtliche haben die Vormundschaft für einen unbegleiteten jungen Flüchtling übernommen. Sie kümmern sich um Deutschkurse oder helfen beim Asylverfahren. Manchmal führt das Engagement zu einem familiären Verhältnis - es kann aber auch frustrierend sein.
Ernst Rommeney: "Meine Rolle ist eben, gnadenlos auf der Seite des jungen Menschen zu sein. Rechtlich. Persönlich kann man das nicht immer so ganz tun, weil er ist eben ein eigener Mensch und fällt auch seine eigenen Entscheidungen."
Antje: "Ich hab schon manchmal mütterliche Gefühle, also zum Beispiel wenn's um Essen geht, dieses, ach, dass der Junge genug zu essen kriegt! (lacht) Das schon."
Klaus Purwin: "Man muss sie aufnehmen, man muss sie auffangen und man muss ihnen eine Perspektive geben, damit sie nicht ständig darüber nachgrübeln, was da so alles war."
Jedes Jahr kommen einige tausend minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern nach Deutschland. Sie alle haben einen Anspruch auf Fürsorge und Schutz durch das Jugendamt. Ende des Jahres 2015 aber sind 42.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche in staatlicher Obhut. Die Jugendämter, die meist die Vormundschaft übernehmen, sind da längst überlastet. Und so kommt es, dass nach ehrenamtlichen Vormündern gerufen wird.
Rommeney: "Das war, glaube ich, eine Annonce der Caritas, wenn ich das richtig sehe, die freiwillige Helfer gesucht haben, was sie ja immer tun, in allen möglichen Gebieten, und eins war die ehrenamtliche Vormundschaft."
Ernst Rommeney, pensionierter Hörfunkjournalist.
"Und das hat mich interessiert, vor allem, weil es auch an eine gewisse Ausbildung gebunden ist, das heißt, man lernt was dabei, man fügt sich hinein in ein Thema und das fand ich ganz spannend."
Antje: "Ich glaub, das hat einfach gepasst. Ich hatte, was berufliche Verpflichtungen angeht, ein paar Freiräume, und ich hatte einen Platz frei im Herzen oder in der Familie und da hat er einfach reingepasst."
Antje, Psychologin, alleinerziehende Mutter eines 14- jährigen Sohnes.
"Und wenn einem dann jemand ans Herz gewachsen ist, dann tut man das auch gerne und dann denkt man auch nicht darüber nach, genau wie bei den eigenen Kindern. Also ich hab das nicht geplant, aber als es dann mal so war, dann ging's auch seinen Gang."
Purwin: "Die sind bestimmt sehr kreativ, also wer aus dem Chaos rausgekommen ist, der ist kreativer als jeder deutsche Jugendliche. Also da ist einiges an Potential und überhaupt an Überlebenswillen, ja."

Die Vormundschaft ist anders als vorgestellt

Auf die Anzeigen und Aufrufe der Jugendämter, Vereine und Wohlfahrtsverbände melden sich Rentner, wie der pensionierte Ingenieur Klaus Purwin. Es melden sich Studenten, Alleinerziehende mit Fulltimejob, Familienväter und -mütter, deren Kinder noch klein sind, oder schon erwachsen und aus dem Haus. Rund 60 Prozent der Vormünder sind Frauen. Die Ehrenamtlichen kommen aus allen Schichten, aber tendenziell sind es eher Gutsituierte. Es sind Menschen, die sich das Engagement leisten können, zeitlich und finanziell."
In einer Asylunterkunft im Berliner Norden wartet Klaus Purwin. Das Gebäude ist ihm vertraut, mehrmals in der Woche fährt er hierher, repariert Fahrräder. Heute wartet er auf sein Mündel. Das Jugendamt hat ihm einen 17-jährigen Palästinenser zugewiesen. Der Junge hat bis zu seiner Flucht in Syrien gelebt. Viel mehr weiß Klaus Purwin bisher nicht.
"Der Vater ist umgekommen irgendwie, wie auch immer, das konnte ich nicht so ganz herausfinden. Und die Mutter ist mit den beiden Söhnen dann geflohen, die selber ist noch in einem Flüchtlingslager in Syrien bzw. jetzt mittlerweile in der Türkei, aber das weiß man nicht so genau, das weiß ich nicht so genau. Und die beiden Brüder sind also hier angekommen, der Ältere ist schon länger, der ist schon im Asylverfahren, der hatte schon seine Anhörung."
Einiges hat Klaus Purwin für sein Mündel schon in die Wege geleitet, er hat für eine gute Unterkunft gesorgt und für die Einrichtung eines eigenen Kontos.
"Er hat eine Bankkarte bekommen, quasi wie ein Taschengeld-Konto, der kann das Konto nicht überziehen und der kriegt das Geld auf sein Konto und ich kriege die Kontoauszüge von der Bank. Also ich hab jetzt sozusagen die Vollmacht über dieses Konto mir per Unterschrift gesichert, sodass ich genau weiß, was passiert in welchen Chargen mit dem Geld. Das macht er offensichtlich verantwortungsvoll, hebt immer kleine Beträge ab, nie den ganzen Betrag."
Aber das, was der pensionierte Ingenieur sich vorgestellt hatte, dass er dem Jugendlichen beim Weg in die deutsche Gesellschaft hilft, dazu ist es bisher nicht gekommen. Obwohl sein Mündel schon länger als ein Jahr hier lebt, spricht er kaum ein Wort Deutsch – eine Unterhaltung ist nur mit Dolmetscher möglich. Und: Der junge Mann ist mehrfach nicht zu den Verabredungen erschienen.
Auch zum heutigen Termin kommt der Junge nicht.
"Offensichtlich hat er selber den Dreh nicht, ich weiß nicht, ich kann ja nicht sagen, wie das Zuhause war, wie lange ist sein Vater tot, weiß ich jetzt nicht, ob der überhaupt eine Bezugsperson gehabt hat. Das braucht ein junger Mensch manchmal zu sagen: Also jetzt komm aus dem Bett, komm in die Socken sozusagen und mach was aus deinem Leben. Unterstützung kriegst du von uns, aber machen musst du."
Wenn ihm das mal irgendwann klar geworden ist, dann würde er auch, denke ich in der richtigen Spur, aber offensichtlich hat es noch keiner vermittelt. Das ist meine Sorge, dass keiner da ist, der ihm mal richtig sagen kann, Freund jetzt, in diese Richtung. Und nur hier so'n Gammlerleben führen, mit Alexanderplatz und hin und her, dann steige ich aus aus der Sache. Das ist nicht mein Ziel."
Zwei Monate später. Klaus Purwin hat durchgehalten, auch wenn seine Erwartungen nicht erfüllt worden sind. Sein Mündel ist inzwischen 18 Jahre alt und damit erlischt die Vormundschaft automatisch.
"Ich musste einen Abschlussbericht machen für das Gericht, weil ich bestellter Vormund war, der Abschlussbericht ist von mir abgefasst worden, der ist jetzt weg zum Gericht und die Sache ist jetzt auch amtlich für mich erledigt. Ich hab genau das geschildert: dass er sehr lange in der Betreuung des Jugendamtes in Pankow war, dort nix passiert ist, dort weder Deutsch gelernt hat, noch eine Ausbildung hat, also noch zur Schule geht, dann sehr spät ich ja praktisch erst seit Oktober der Vormund wurde, drei Monate vor seinem volljährig werden. Und da kann man nicht wirklich was bewegen."
Etwas hat er aber noch erreicht: Der junge Palästinenser wird künftig eine passende Betreuung vom Jugendamt bekommen.
"Ich denke, dass das so funktioniert, dass eben durch die professionelle Hilfe – das sind zwei Leute, die ich hab kennenlernen können, die sprechen auch seine Sprache, sind also offensichtlich in der Lage, sich mit ihm sehr gut zu verständigen – und haben einen direkten Kontakt zum Jugendamt in Mitte. Und insofern bin ich da ganz, na gut einigermaßen optimistisch, dass er in die Spur kommt."
Klaus Purwin hat viel Zeit investiert. Wie alle Ehrenamtlichen, wurde der Ingenieur auf seine Aufgabe vorbereitet, hat Seminare über die Abläufe im Asylverfahren und über Rechte und Pflichten eines Vormunds besucht.

Es ist eine anspruchsvolle Verpflichtung

Es sind nur wenige Kommunen und Verbände, die bis zum Herbst 2015 Erfahrungen mit Ehrenamtlichen haben, obwohl laut Gesetz die ehrenamtliche Vormundschaft Vorrang haben soll vor der Amtsvormundschaft.
"Also, ich bin Caroline Abdul-Razzak, und ich bin beim Caritas-Vormundschaftsverein angesiedelt und ich bin für die Gewinnung, Betreuung, Begleitung und Schulung von ehrenamtlichen Vormündern für minderjährig unbegleitete Flüchtlinge zuständig."
Obwohl Berlin schon lange Fluchtort für Hunderte minderjährige Asylsuchende ist, gibt es kaum ehrenamtliche Vormünder. Die Arbeit wird bis dahin von fünf Amtsvormündern geleistet.
"Bis dato hat das immer gereicht. Und jetzt mussten erst mal Stellen geschaffen werden, Stellen besetzt werden."
Der Caritas-Vormundschaftsverein ist so entstanden. Er ist einer von drei Vereinen in Berlin, die Ehrenamtliche werben und auf die Vormundschaft vorbereiten.
"Man führt ein sozialpädagogisches Eignungsgespräch. Darin klären wir ab: Kommt das überhaupt für mich in Frage? Manche haben ja eine ganz falsche Vorstellungen von einer Vormundschaft, manche denken, der zieht bei mir ein und ich muss alles bezahlen; oder ich hab jetzt so was wie ein Adoptivkind oder endlich komm ich zu meinem Sohn, den ich nie hatte. Man muss da schon klar erklären, nein, er wohnt in der Jugendeinrichtung, er hat da seinen Alltag."
Es ist eine anspruchsvolle Verpflichtung, die die Vormünder eingehen. Die Euphorie der Willkommensphase und spontane Hilfsbereitschaft reichen dafür nicht.
"Ein Vormund wird vom Gericht bestallt in einer Anhörung und bekommt die Personensorge, die Vermögenssorge, das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitssorge übertragen. Das sind die gleichen Rechte im Prinzip, die Eltern innehaben, wenn ein Kind geboren wird."
Die meisten minderjährigen Flüchtlinge kommen aus Afghanistan, Somalia, Syrien, Irak und Eritrea. Sie haben zum Teil traumatische Erlebnisse wie Krieg und Verfolgung hinter sich. Sie treffen auf Menschen, die sich kümmern, aber aus einer fremden Kultur kommen. Ein Lernprozess für beide Seiten.
"Wir bieten einmal im Monat eine Reflexionsrunde, die angeleitet wird von einer Mediatorin, die ist offen für alle unsere Vormünder. Also wenn man sich dazu entschließt, ehrenamtlicher Vormund zu werden und sich der Caritas anbindet, hat man Zugang."

Antje hat Glück mit ihrem Mündel

Sonntagnachmittag in Berlin-Charlottenburg. Der 17-jährige Mohammad, ist zu Besuch bei Antje. Die Psychologin und ihr Mündel haben zusammen gegessen und sitzen noch in der Küche, Antjes Sohn ist gerade gegangen, er besucht einen Freund. Antje heißt in Wirklichkeit anders, aber damit der junge Syrer weitgehend anonym und geschützt bleibt, hat sie sich für ein Pseudonym entschieden. Mohammed erzählt ein bisschen über sich:
"Ich hatte in Aleppo gewohnt, aber ich bin in Quameshli geboren, die Arbeit von meinem Vater ist in Aleppo. Ich war in einer Willkommensklasse und ich habe einen A2-Test gemacht, danach bin ich zu einem S-Gymnasium."
Antje: "Das ist eine S-Klasse, eine Spezialklasse für Leute, die die Willkommensklasse erfolgreich gemacht haben. Die wird angeboten, damit sie quasi einen Übergang haben in die Regelschule."
Mohammed: "Nach der Schule um vier Uhr gibt's Nachhilfe, gehe ich manchmal dahin, wenn es gibt Schwierigkeiten, geh ich dahin."
In Deutschland, sagt Mohammed, gefällt es ihm.
"Die Deutschen, die leben so schön, hier in Berlin find ich ist alles schön."
Und Heimweh? Ist das ein Thema?
"Ja, manchmal habe ich, aber ich kann nichts machen."
Über seine berufliche Zukunft hat der 17-Jährige ziemlich klare Vorstellungen.
"Eigentlich wollte ich gern Arzt zuerst, aber vielleicht mache ich den MSA-Abschluss, danach wollte ich Krankenpfleger oder mache ich noch Abitur und studiere ich zum Arzt. Ich mag es, den Leuten zu helfen, ich wollte auch noch nach Syrien gehen und noch einmal alles aufbauen und so."
Flucht und Asylantrag - das sind heikle Themen. Antje möchte nicht, dass Mohammed darauf angesprochen wird. Unbedachte Äußerungen könnten sich nachteilig auf das Asylverfahren auswirken. Der junge Mann verabschiedet sich ins Wohnzimmer, nutzt das WLAN. In der Jugendeinrichtung, wo er untergebracht ist, hat er keinen Internetzugang.
Antje: "Er kommt einmal die Woche hierher, sonntags, und dann essen wir zusammen und spielen danach noch irgendwas oder machen einen Ausflug. Im Sommer sind wir mal ins Strandbad gegangen oder so, auch zwischendurch per WhatsApp sind wir in Kontakt, höre, was er macht und so."
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Antje hat Glück mit ihrem Mündel. Mohammed ist zielstrebig, bemüht, hier anzukommen. Deutsch hat er sehr schnell gelernt.
"Er ist durchgängig beschult gewesen in Syrien und hatte schon seit der fünften Klasse Englisch gehabt und hat neun Klassen gemacht in Syrien. Der sprach auch fließend Englisch, verstand alles, das hat ihm natürlich hier alle Türen geöffnet, nicht zuletzt zu meinem Sohn, mit dem er sich dann auf Englisch unterhalten konnte und der dann sagte, das ist doch klasse, dann kann er ein bisschen erzählen. Er war eben alphabetisiert in der lateinischen Schrift. Und es ist einfach die vierte Sprache, Arabisch, Kurdisch, Englisch, jetzt Deutsch. Man sagt ja, so ab der vierten Sprache geht's leichter, weil man so viele Bezüge herstellen kann, also da hat er schon einen Vorteil."

Unterschiedliche Prägungen und Auffassungen werden deutlich

Die Arbeit als Vormund ist zeitraubend und fordert Energie.
"Also es gab schon Wochen, wo ich dann mal geflucht habe, weil ich zwei, drei Stunden irgendwo abknapsen musste, abends, morgens, um noch irgendwelche Formulare hin- und herzuschicken. Das schon auch. Oder ich musste mir Urlaub nehmen, weil wir aufs Amt mussten, um seine Papiere abzuholen, das war ein Termin, der lag mittags um elf oder zwölf."
Bei den Behörden wird sie zuvorkommend und höflich behandelt, sagt Antje. Ob Mohammed auch freundlich behandelt würde, wenn er allein ginge? Da ist sie sich nicht so sicher.
"Ja, es gibt auch Phasen, wo es ihm auch schlecht geht und ich merke, da braucht er mehr Unterstützung. Also da zieht's dann auch schon mal an mir einerseits. Da wär's ganz gut, wenn er in der Familie leben würde, sich nicht so allein fühlt. Also zum Beispiel war ein Familienmitglied verstorben, da ging es ihm sehr schlecht, das war schon schwierig."
Während des Ramadans im letzten Jahr hat Mohammed täglich 18, 19 Stunden gefastet, erzählt Antje. Er hat weder gegessen noch getrunken, trotz Schule, trotz Klausuren.
"Der wurde immer dünner, aber er hat halt entschieden, dass er das macht. Das ist halt 'n kulturelles Ding, und da hab ich auch gelernt, da ist nichts zu machen."
Es gibt noch andere Bereiche in denen unterschiedliche Prägungen und Auffassungen deutlich werden.
"Also das mit Ehrlichkeit und Höflichkeit ist so ein Spannungsfeld. Ich würde halt sagen, im Zweifel immer ehrlich und er würde sagen, im Zweifel immer höflich. Er möchte mich da nicht verletzen und nichts sagen, was mir nicht gefällt. Wenn’s zum Beispiel ums Befinden geht, da geht's schon los. Wie geht's dir? Dann würde er immer sagen, mir geht's gut. Oder Schulbesuch: Wenn's ihm schlecht geht, dann war er schon mal krank und solche Sachen. Dann frag ich nach und dann versucht er schon, sagen wir mal, das ein bisschen vormundkompatibel zu formulieren."
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Rommeney: "Er versteht gut Deutsch, aber er tut sich schwer zu erzählen, er ist nicht gerade der Vortragskünstler."
Er – das ist ein 17-Jähriger aus Afghanistan für den der ehemalige Hörfunkjournalist Ernst Rommeney die Vormundschaft übernommen hat."
"Er ist also genau in der Situation, in der wir alle sind, wenn wir eine Fremdsprache lernen, das heißt, irgendwann sind wir voll der Grammatik und Theorie, aber mit der Konversation hapert's, und da greift die Frage, was tut man, um jemanden über diese Hürde zu bringen, die ja auch immer so eine persönliche Geschichte ist. Man muss ja den Mut haben, andere Leute anzureden, man muss den Mut haben, seine eigenen Anliegen vorzutragen und nicht nur lakonisch 'ja' oder 'nein' zu sagen, und junge Leute sagen gern 'ja' oder 'nein'."
Der Deutschunterricht in der Schule sei nicht annähernd ausreichend, beklagt Ernst Rommeney. Darum übt er regelmäßig mit seinem Mündel.
"Wenn er wirklich was auf der Schule werden will, muss er irgendwann ja auch Aufsätze schreiben, muss Vorträge oder Referate halten und muss überhaupt seine Interessen so wahrnehmen, dass die anderen Leute ihn verstehen und dass er sich auch ausdrücken kann – mit all seinen Gefühlen, aber auch in seinen Problemen, was auch immer notwendig ist. Und da muss er natürlich noch sehr, sehr üben, weil das ein sehr hoher Anspruch ist, den er allerdings auch an sich selbst hat."
Ein unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling kann nur mit Hilfe des Vormunds einen Asylantrag stellen. Er hat dabei, so heißt es im Gesetz, eine Mitwirkungspflicht.
"Wir mussten ja am Anfang erst mal seine Fluchtgeschichte als Bericht aufarbeiten. Das heißt, das man sich schon darüber klar sein muss, warum man einen Asylantrag stellt und dazu muss man seine eigene Geschichte erzählen können und auch widerspruchsfrei und plausibel erzählen können. Und das ist ein mühseliger Prozess, weil man sich an alles Mögliche erinnert. Hinterher erstaunt man, wie viel man zusammenbekommt, woran man sich alles erinnert, das hätte ich auch nicht gedacht, aber es ist ein mühseliger Prozess."
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Trotz der frustrierenden ersten Erfahrung - für den pensionierten Ingenieur Klaus Purwin ist es nicht ausgeschlossen, dass er noch einmal eine Vormundschaft übernimmt. Aber die Bedingungen müssten andere sein.
"Ich würde schon eine übernehmen wollen, aber wie gesagt, nicht die letzten drei Monate, sondern wenn, dann muss es ein Zeitablauf sein, wo ich was bewirken kann."
Und für Antje ist klar, dass für sie als Alleinerziehende mit Fulltimejob ein so intensives Engagement dauerhaft nicht zu leisten ist.
"Es gab auch bei mir schon so Momente, wo ich auf so Treffen war, wo ich so dachte, oh, das zerreißt einem das Herz. Wenn so ein Jugendlicher … man merkt, der ist einem sympathisch und der erzählt seine Geschichte und man weiß einfach: Wenn die einen Paten und einen Vormund an die Seite kriegen, dann ist einfach die Chance, reinzukommen in die Gesellschaft, viel, viel besser. Das wissen wir ja alle. Aber ich hab die Entscheidung getroffen, einen und nicht mehr. Also, das geht nicht mit Beruf und Kind. Nein, es muss dabei bleiben."
(abr)

In der Sendung "Studio 9" sprachen wir mit Tina Weber, die seit zwei Jahren Vormund für einen 16-jährigen Armenier ist:
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