Egon Schiele in der Wiener Albertina

Spiritualität statt Sex

Egon Schiele Weibliches Liebespaar, 1915 (Ausschnitt)
Egon Schiele Weibliches Liebespaar, 1915 (Ausschnitt) © Albertina Wien
Von Ralf Borchard · 22.02.2017
Vielfach wurden Egon Schieles teils drastische Darstellungen als Ausdruck von Erotik gesehen. Eine Ausstellung in der Wiener Albertina wagt eine andere Deutung: Schiele war Anhänger des heiligen Franziskus und die Nacktheit sei ein Zeichen gegen den weltlichen Luxus.
Gibt es an Egon Schiele, fast hundert Jahre nach seinem frühen Tod, überhaupt noch Neues zu entdecken? Oh ja, sagt Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder, gerade hat die Schiele-Forschung eine ganze Werkgruppe neu interpretiert – als Ausdruck der Verehrung des Heiligen Franziskus:
"Egon Schiele hat sich zutiefst mit Franz von Assisi identifiziert, mit seinem asketischen Armutsideal, mit seinem Anti-Materialismus. Und seine Kunst kann vielfach gelesen werden geradezu als ein Aufschrei und Protest gegen jene Oberflächlichkeit und den Luxus der Klimt-Epoche oder der Wiener Werkstätte."
Die Epoche in Wien um 1900 wird meist als Blütezeit dargestellt, aber es war auch eine Zeit sozialen Elends. Das will Schröder durch großformatige Schwarz-Weiß-Fotos von damals deutlich machen, die parallel zu den 160 Schiele-Werken in der Albertina ausgestellt sind.
"Wenn man plötzlich die Kinder sieht, barfuß im Elend, wenn man 25.000 Obdachlose, die in den Kanälen unter Wien leben müssen, sieht, dann sieht man wie sehr er in einer Zeit tätig war, die nicht die unsere ist, wie sehr er seiner Zeit voraus war, und diese Fallhöhe zwischen seiner aktuellen Kunst und seiner weit zurückliegenden Epoche verdeutlichen diese Fotografien."

Nacktheit als Zeichen gegen Luxus

Die Wiener Ausstellung bezieht sich auf den Schiele-Forscher Thomas Ambrozy. Er deutet auch Schiele-Zeichnungen, die explizit Nacktheit zeigen, das entblößte männliche Gesäß etwa, als Auseinandersetzung mit den Spiritualen, einer radikalen Gruppe der Franziskaner, die sich völlig entkleideten, förmlich ihr letztes Hemd ablegten, als Zeichen gegen weltlichen Luxus:
"Egon Schiele kennt offensichtlich die berühmtesten Bücher, es gibt eine Blütezeit der Franziskusrezeption und -literatur um 1900, 1910, auch in Wien. Und diese Bücher sind illustriert mit alten Gemälden. Und daraus nimmt er sich die Gestalten, die er nun in seine Grammatik, in seinen Stil, in seine Figuren übersetzt. Und die Titel sind wörtliche Zitate aus diesen Franziskus-Büchern – das ist jüngst erst entdeckt worden."
Dennoch – Schiele ganz die erotische Obsession abzuschreiben, die sich etwa in seinen Mädchen- und Frauenakten zeigt, ist wohl etwas zu gewagt. Zumindest bleibt vieles ambivalent. Schröder sagt dazu:
"Ich glaube, wenn wir einen nackten Körper sehen, so haben wir heute immer noch und früher noch sehr viel stärker sofort die erste Assoziation Erotik, Sexualität, Entblößung. Wenn wir genauer hinsehen, bei Egon Schiele ist das Motiv als solches, eine nackte Frau, immer noch ein erotisches Motiv.
Aber durch seine nachträgliche Kolorierung, wenn das Mädchen plötzlich aschgrau wird, giftig grün, orange, ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale akzentuiert werden, verlieren sie diese erotische, stimulierende Seite – und werden etwas ganz anderes: Sie werden eine Aussage über die Existenz des Menschen. Für Egon Schiele ist dieses Weltbild, dass der Mensch in die Welt geworfen ist und am Ende des Tages allein ist, das dominante."

Viele Fälschungen im Umlauf

Gibt es für die Schiele-Forschung auch in Zukunft noch Neues zu entdecken? Ja, vor allem was Fälschungen betrifft:
"Im ersten wichtigen Gründungsjahr des Expressionismus, 1910, hat Egon Schiele fast so etwas wie eine Arbeitsgemeinschaft gebildet mit seinem späteren Schwager, Peschka und seinem Freund Dom Osen, einem Pantomimen. Und vieles, was wir Egon Schiele zugeschrieben haben, stammt wohl von diesen Künstlern. Und der späte Schiele wurde vielfach nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Nachfrage nach erotischen Zeichnungen von Studenten an der Akademie in Wien gefälscht."
Das heißt, auch Schiele-Sammler, wie Schauspielstar Brad Pitt, der vor kurzem privat in der Albertina war, müssen sich auf dem Kunstmarkt vorsehen. Dort werden Zeichnungen für mehrere hunderttausend, Hauptwerke mit bis zu 15 Millionen Euro gehandelt. Nicht nur die inhaltliche Deutung zwischen Spiritualität und Sexualität, auch die Herkunft bleibt bei manchem Schiele-Werk umstritten.

Info: Die Ausstellung "Egon Schiele" ist vom 22. Februar bis 18. Juni 2017 in der Albertina Wien zu sehen.

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