Edney Silvestre: "Der stumme Zeuge"

Die Übeltäter kommen aus der Elite

Demonstranten ziehen in Belo Horizonte in Brasilien durch die Stadt, um gegen die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff zu demonstrieren.
In Brasilien haben kürzlich Hunderttausende Menschen gegen die Regierung von Präsidentin Dilma Roussef demonstriert. © picture alliance / EFE / Paulo Fonseca
Von Maike Albath · 18.07.2016
"Der stumme Zeuge" des brasilianischen Autors Edney Silvestre beginnt mit einer Entführung, die für die Verbrecher im Buch einen Wandel darstellt. Der Krimi beschäftigt sich mit der Vetternwirtschaft unter dem einstigen brasilianischen Präsidenten Collor de Mello.
Zwei gezielte Schüsse und der Chauffeur ist außer Gefecht gesetzt. Gerade hatte er die Versunkenheit seines kleinen Fahrgastes bewundert, der auf der Rückbank des Mercedes mit Buntstiften ein Blatt Papier bemalte. "Das sind Profis", denkt der ehemalige Militär noch, als ihn die Kugeln in die Schulter treffen. Dann wird er exekutiert, die Angreifer schnappen sich das hellhäutige Kind und verschwinden. Mit dieser rasanten Szene beginnt der perfekt konstruierte Krimi des Brasilianers Edney Silvestre.
Wer die handelnden Personen sind, wie sie miteinander zusammenhängen und wo sich das Ganze zuträgt, stellt sich erst nach und nach heraus. Kurze, pointierte Kapitel prasseln auf den Leser ein, immer wieder wird die Perspektive gewechselt. Das Ende bleibt offen – sicher ist nur, dass die Entführung für mehrere der Beteiligten einen Wendepunkt darstellt. Die Verbrecher wollen den ausufernden Nepotismus unter Präsident Collor ausnutzen, der in Brasilien ab 1990 an der Macht war und 1992 wegen Korruption seines Amtes enthoben wurde.

Silvestre kennt die Verwicklungen nach der Diktatur

Edney Silvestre, Jahrgang 1950, arbeitet mit einer Fülle von Realien. Er kennt die politischen Verwicklungen kurz nach dem Ende der Diktatur aus eigener Anschauung: Silvestre zählt zu den bekanntesten Journalisten Brasiliens, musste sich wegen seiner kritischen Haltung zehn Jahre lang mit Werbung über Wasser halten und machte sich anschließend wieder als Reporter und TV-Moderator einen Namen. Er erfand Fernsehformate und führt bis heute Gespräche mit Schriftstellern. "Der stumme Zeuge", im Original 2011 erschienen, ist sein zweiter Roman.
Ein klassischer Krimi ist es nicht: Es gibt weder einen Ermittler noch einen eindeutig konturierten Verbrecher. Zwar tritt eine Gruppe von Gangstern in Aktion, aber im Grunde sind die Vertreter der Elite die größeren Übeltäter. Silvestre liefert eine ebenso unterhaltsame wie knallharte Analyse der Seilschaften unter Politikern und Unternehmern und stellt dabei nicht nur sein handwerkliches Geschick unter Beweis, sondern auch seine Fähigkeiten als Soziologe: Sein Roman führt quer durch alle Milieus und vermittelt unterschiedliche Perspektiven und Sprechweisen.

Brasilien in einem anderen Licht

Da gibt es den eiskalt agierenden Geschäftsmann Olavo Bettencourt, Inhaber einer Werbeagentur, der als Strohmann dient, im Namen von Regierungsmitgliedern in New York Bankkonten eröffnet und zum Dank lukrative Aufträge bekommt. Es gibt seine blonde Frau Mara, die früher ein Callgirl war und sich vor ihrem Mann ekelt. Es gibt die Hausangestellte Irene, deren taubstummer Sohn wegen eines Irrtums Opfer der Entführung wird, und die Tochter des Chauffeurs Barbara, die durch den Mord an ihrem Vater einen nie gekannten Kampfgeist an den Tag legt.
Anschaulich vermittelt Silvestre die allgemeine Verkommenheit, die Polizei agiert im Sinne der Politik und vertuscht. Es gilt das Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip. Nach der Lektüre von "Der stumme Zeuge" sieht man auch die aktuellen Geschehnisse in Brasilien in einem anderen Licht. Edney Silvestre erzählt von einem Kriminalfall und denunziert gleichzeitig die Mechanismen eines perfekt funktionierenden Systems.

Edney Silvestre: Der stumme Zeuge.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Kirsten Brandt. Limes Verlag, München 2016
223 Seiten, 19,99 Euro

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