Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft: Keine Angst vor Zuwanderung

Margret Mönig-Raane und Michael Hüther im Gespräch mit Ulrich Ziegler · 07.05.2011
Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Michael Hüther, sieht die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Arbeitnehmer aus den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten nicht als Bedrohung. Schweden und Großbritannien hätten bereits gute Erfahrungen gemacht, sagt der Wirtschaftsexperte.
Deutschlandradio Kultur: Seit dem 1. Mai können Bürger aus acht osteuropäischen EU-Staaten ebenso selbstverständlich einen Job in Deutschland annehmen wie Franzosen oder Spanier. Endlich, sagen die einen, denn diese Zuzügler werden unsere alternde Gesellschaft und auch unseren Arbeitsmarkt beleben. Vorsicht sagen die anderen und warnen vor Lohndumping und Billigkonkurrenz.

"Arbeitnehmerfreizügigkeit – Fluch oder Segen?", unser Thema heute in Tacheles. Im Studio begrüße ich Margret Mönig-Raane, die stellvertretende Bundesvorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Guten Tag, Frau Mönig-Raane.

Margret Mönig-Raane: Guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Und aus Köln zugeschaltet ist Prof. Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Köln. Guten Tag.

Michael Hüther: Schönen guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Mein Name ist Ulrich Ziegler. Frau Mönig-Raane, sieben Jahre nach ihrem Beitritt zur Europäischen Union dürfen EU-Bürger aus Ländern wie Polen, Ungarn oder Tschechien ohne Einschränkung zum Arbeiten nach Deutschland kommen – eigentlich ein guter Tag für die europäischen Arbeitnehmer, oder nicht?

Margret Mönig-Raane: Das könnte er sein, wenn der Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen in Deutschland nicht so dramatisch verschlechtert worden wären – für deutsche, wie für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und dadurch, dass wir eben keinen gesetzlichen Mindestlohn haben, dadurch, dass wir so viele prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben – von Werkverträgen über dauernde Befristungen, sachgrundlos –, wird die Arbeitnehmerfreizügigkeit für uns ein Problem, nicht an sich, dass die Grenzen geöffnet werden, sondern weil die Bedingungen in Deutschland so schlecht sind.

Michael Hüther: Mein Bild ist ein gegenteiliges: Öffnung der Grenzen und damit die Herstellung der europäischen Integration in vollem Maße, das heißt, alle vier Grundfreiheiten. Auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit hätte zu keinem besseren Zeitpunkt stattfinden können. Denn wenn es so ist, wie Sie sagen, dass die Bedingungen sich verschlechtert haben, dann wird ja wahrscheinlich keiner kommen.

Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben den historischen Höchststand der Beschäftigung seit der Wiedervereinigung – 41 Millionen. Und wir haben den Weg aus der Krise schnell gefunden, schneller als andere. Wir haben erkennbare Mängel im Bereich der Fachkräfteversorgung. Das heißt, wir haben eine Situation, wo der Arbeitsmarkt dynamisch ist und die Konjunktur auch in ihren Perspektiven trägt. Das gibt die Chance, dass wir diese Zuwanderung aus mittelosteuropäischen Ländern in diesem Sinne als einen positiven Impuls erleben können.

Margret Mönig-Raane: Wir haben beobachtet – jetzt einmal am Beispiel der Bauindustrie und des Bauhandwerk –, dass die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland von 1,2 Millionen auf weniger als die Hälfte gesunken ist, und zwar nicht deshalb, weil weniger gebaut wird, sondern weil über die Möglichkeit von Werkverträgen zum Beispiel auch Mindestlöhne im Baubereich unterschritten und sozusagen umgangen werden können.

Das Thema ist nicht, dass Menschen kommen und hier arbeiten wollen, sondern das Thema ist, dass sie kommen und es keine Begrenzung nach unten gibt in vielen Branchen, was Löhne und Gehälter angeht.

Deutschlandradio Kultur: Über welche Größenordnung reden wir eigentlich, wenn wir jetzt von der Öffnung reden? Die Bundesregierung sagt, 100.000 Menschen. Sie, Herr Hüther, sprechen von 800.000 Menschen. Wir haben aber schon drei Millionen in den letzten Jahren bekommen. Ist das wirklich das Thema, das uns im Moment auf den Nägeln brennt?

Michael Hüther: Na ja, es ist schon spannend zu sehen, was denn tatsächlich passiert.
Diese 800.000, die Sie als Zahl erwähnen, bezieht sich auf 2011 und 2012. Wir haben gesagt, nach unserer Einschätzung gibt es so eine Bugwelle am Anfang. Auf die gesamte Dekade bezogen liegen die Schätzungen bei etwa einer Million Nettozuwanderung. Es gibt unterschiedliche Methoden das zu erheben. Es gibt ökonometrische Studien. Wir haben Befragungen genutzt. Und das, was mit diesen 800.000 beschrieben ist, ist das maximale Potenzial.

Damit ist nicht gesagt, dass die kommen, sondern das reflektiert eine relevante Wanderungsbereitschaft, eine bedeutsame Wanderungsbereitschaft, wie sie von den Menschen in Mittel- und Osteuropa bekundet wird. Das sind dann aufs Jahr bezogen: 360.000 dieses Jahr, 430.000 etwa nächstes Jahr – keine Zahlen, die uns, verglichen mit dem, was wir in den Neunzigerjahren und früher erlebt haben, schrecken müssen.

Margret Mönig-Raane: Die Gründe, warum überhaupt Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Ausland überlegen auszuwandern, zumindest zeitweise, sind ja überhaupt noch nicht beleuchtet. Menschen verlassen ja nicht gerne ihre Heimat, sondern sie verlassen sie, weil sie zu Hause keine adäquate Beschäftigungsmöglichkeit haben. Und ein gemeinsames Europa beinhaltet doch wohl auch, dass die Entwicklungen – die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung – in dem Sinn harmonisiert werden muss, dass man dort, wo sie noch sehr entwicklungsbedürftig ist, guckt, dass die Wirtschaftsbeziehungen untereinander so sind, dass sich dort auch Industrie und auch Dienstleistung für den eigenen Bereich entwickeln können. Das ist der zweite Aspekt, den ich für ganz wichtig halte.

Für uns hier in Deutschland ist natürlich der erste Aspekt das Lohn- und Gehaltsgefälle und der Druck auf die Löhne und Gehälter über diesen Weg – und gar nicht mal über real dann auftauchende Menschen, sondern alleine das Gerede da drüber und die Bedrohung, die Menschen empfinden, haben ja schon Wirkung. Das finden wir schädlich und das finden wir schlecht. Da ist insbesondere die deutsche Regierung gefragt, natürlich sind auch die Arbeitgeber gefragt, hier wieder ordentliche Verhältnisse herzustellen.

Michael Hüther: Ich weiß nicht, wo wir unordentliche Verhältnisse haben.

Margret Mönig-Raane: Oh, das sage ich Ihnen gleich.

Michael Hüther: Ja, natürlich gibt’s immer Randerscheinungen, aber es ist doch nicht so, dass wir in Deutschland Anlass hätten, die Zuwanderung als etwas Bedrohliches zu beschreiben. Mir ist auch nicht bekannt, dass in irgendeiner Weise Kampagnen gefahren werden – so nach dem Motto: Wir holen dann die ArbeitnehmerInnen von dort, wenn das hier nicht funktioniert.

Wir haben eine völlig andere Arbeitsmarktsituation als vor drei, vier oder fünf Jahren. Und in der Tat, wir wissen natürlich nicht genau, was sind das für Personen, was sind das für Qualifikationen. Es gibt aber zwei Länder, die haben Erfahrung. Das sind nämlich Schweden und Großbritannien. Die haben schon 2004 mit dem Beitritt der mittel-ost-europäischen Länder ihre Grenzen komplett geöffnet.

Und was wir sehen, ist im Schnitt eine höher qualifizierte Zuwanderung als wir sie in Deutschland hatten. Und wir haben in Schweden auch eine Reaktion im Grunde auf eine spezifische Bedarfssituation am Arbeitsmarkt, nämlich insbesondere im Bereich der Pflege. Das ist ja ein Problem, das sich auch aufgrund demographischer Veränderungen nicht nur in Schweden zeigt. Wir haben die Diskussion. Eine ganz ähnliche Diskussion gibt’s in Österreich, die mit uns jetzt zeitgleich die Grenzen öffnen.

Wenn Wanderungsbewegungen auf Signale von Knappheiten am Arbeitsmarkt reagieren, also dort, wo es sich lohnt zuzuwandern, dann besteht ja die begründete Vermutung, dass wir in technische Qualifikation – dort, wo wir auch im Facharbeiterzusammenhang im Augenblick Schwierigkeiten haben, die Arbeitsplätze zu besetzen, wo auch der Arbeitsmarkt in vielen Fällen geräumt ist –, dann eine Bewegung in solche Qualifikationen haben, die aber durch Flächentarifverträge oder durch Haustarifverträge weitgehend definiert sind.

Das heißt, wir haben ja gerade in der Industrie eine hohe Durchdringung der Sozialpartnerschaft und der Tarifverträge. Und mir ist nicht einleuchtend, wie das durch Zuwanderung infrage gestellt werden kann. Sondern wir werden dann ja gerade eine Stabilisierung von Beschäftigung, eine Ausweitung von Beschäftigung haben, die auch wirtschaftliche Dynamik mobilisiert.

Margret Mönig-Raane: Sie haben vorhin die Länder Großbritannien und Schweden genannt. Die unterscheiden sich von Deutschland dadurch, dass England oder Großbritannien einen gesetzlichen Mindestlohn hat, der über 8,50 Euro liegt, und dass Schweden eine flächendeckende Abdeckung mit Tarifverträgen hat, die die Wirkung des Mindestlohns sowieso hat und darüber hinaus. Das ist schon ein ganz gewaltiger Unterschied.

Und die Erwartung, dass hier insbesondere Menschen zuwandern würden, die in den gesuchten Mangelberufen, wo Fachkräftemangel erwartet oder unterstellt wird, kommen, ist genauso eine Hypothese wie andere, weil, in der Tat wissen wir es am Ende.

Ich habe vorhin das Beispiel der Bauindustrie ja nicht aus Zufall genannt, weil hier auch ein Bereich ist, der sogar hoch organisiert und mit Tarifverträgen abgedeckt ist. Und trotzdem werden riesengroße Schlupflöcher in der Größe von Scheunentoren gefunden, wo durch Sub-Sub-Sub-Unternehmer- und Werkauftragsnehmer-Unwesen alle sozialen Standards hier bei uns umgangen werden.

Da gibt es andere Branchen, ich denke zum Beispiel an die Personaldienstleister, die Werkarbeitnehmer vermitteln – in Lager zum Beispiel, wo es sich nicht um hoch qualifizierte technische Berufe handelt, wo man möglicherweise nicht mal Deutsch können muss, sondern wo ein Dolmetscher sie einweist und sie dann für drei, vier Euro Stundenlohn, von dem dann noch die Unterkunft abgezogen wird, arbeiten können. – Das können Sie mit der derzeitigen Gesetzeslage in Deutschland nicht ausschließen.

Und dass hier Sorge besteht, denke ich, das ist doch nachvollziehbar – auch für Sie, Herr Hüther.

Michael Hüther: Also, dass die Sorge besteht, vor allen Dingen, wenn sie dann auch immer breit artikuliert wird, muss einen nicht wundern. Wir haben typischerweise – das ist aber kein deutsches Phänomen – eher Befürchtungen, wenn eine Zuwanderungsoption entsteht für andere ins eigene Land. Und erst wenn man sieht, dass sich Integrationserfolge zeigen, wird das dann anders gewertet.

Natürlich ist das eine Hypothese, dass man in die qualifizierten Berufe hineingeht, aber es gibt Werbekampagnen der Industrie, gerade in der Metall- und Elektrobranche, weil sie die Probleme haben, in den Aufschwung hinein jetzt die Beschäftigung weiter auszubauen. Und für die Baubranche gilt: Da haben wir allerdings seit 95 durch das Entsendegesetz, das war ja damals die Diskussion, einen Mindestlohn. Was hier passiert ist, dass es in bestimmten Phasen mit dem Stichwort "Scheinselbständigkeit" eine entsprechende Ausweichreaktion gegeben hat.
Wir haben aber heute auch entsprechende Kontrollmaßnahmen.

Das heißt, das, was Sie auch an Beschäftigungsschwund beschreiben, ist nicht diesen Effekten geschuldet, sondern einer Strukturbereinigung. Wir haben in der Bauwirtschaft durch die Nachwirkungen der Wiedervereinigung von Mitte der 90er Jahre an eine laufende Reduktion gehabt. Wir sind jetzt so auf einer mit 700.000 stabilen Beschäftigung. Aber das ist ein besonderer Strukturwandel.

Natürlich gibt es Ängste. Und da muss man mit diesen Ängsten auch umgehen. Nur die Bereiche, die insbesondere Signale senden, sind durch Tarifverträge gestaltet. Und es gibt bei uns auch die Regeln der sittenwidrigen Löhne. Sie können nicht einfach drei, vier Euro in normalen etablierten Berufen zahlen, für die es auch Lohnorientierungen gibt.

Margret Mönig-Raane: Herr Hüther, Sie unterstellen immer, dass es Arbeitsverhältnisse sind. Aber Werkauftragnehmer sind keine Arbeitnehmer in dem Sinn. Und die können in Polen, in Tschechien angesiedelt sein und arbeiten für dortige Löhne in Konkurrenz zu uns.
Und um das klar zu machen: Wir haben nicht Angst oder Abwehr gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die aus diesen Ländern kommen, sondern wir kritisieren die Verhältnisse hier bei uns und sagen: Die werden in bestimmten Branchen enorm verschärft und – ich behaupte – auch politisch bewusst verschärft, weil, sonst hätten wir andere Gesetzeslagen.

Michael Hüther: Aber das ist ja gerade in den letzten Jahren nicht so gewesen. Wir haben seit der Großen Koalition eine Reihe von Ausweitungen von Mindestlohnregelungen durch die Kombination Entsendegesetz auf der einen Seite und Mindestarbeitsbedingungsgesetz auf der anderen Seite. Gerade im Bereich der Zeitarbeit – das war ja immer auch befürchtet worden, die Frage, gründet man Zeitarbeitsfirmen in Polen beispielsweise aus und dann mit dortigen Konditionen hierher entliehen – hat man ja jetzt mit den Vereinbarungen einen Mindestlohn, der das ausschließt. Und der liegt ja auch nicht weit von dem, was Gewerkschaften für angemessen halten.

Deutschlandradio Kultur: Wir reden von einem europäischen Arbeitsmarkt. In Berlin gibt es beispielsweise 14 Prozent Arbeitslose. In Breslau, 300 Kilometer südöstlich in Polen, herrscht Vollbeschäftigung. Könnte man sich nicht auch vorstellen, dass man einen europäischen Markt findet, wo die Bewegungen in beide Richtungen gehen und man aber dafür gleiche Regeln braucht und nicht immer nur dieses nationalstaatliche Denken?

Margret Mönig-Raane: Ja. Also, natürlich ist das das Ideal, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in ganz Europa, wo sie es hinzieht aus beruflichen oder sonstigen Gründen, dort auch ein Auskommen mit ihrem Einkommen haben. Klar ist das das Ziel. Aber wir haben halt in Deutschland Bedingungen, die so prekär sind wie eigentlich in kaum einen anderen europäischem Land.

In keinem vergleichbaren Industrieland gibt es – außer in den USA – einen so hohen Anteil von Niedriglohnbereich, über 23 Prozent. Und das bedeutet, hier gibt es Millionen Menschen, die als geringfügig Beschäftigte arbeiten, die befristet arbeiten, die als Werkarbeitnehmer arbeiten, als Scheinselbständige arbeiten, die wirklich gar nicht oder kaum über die Runden kommen.
Wenn wir solche Verhältnisse hier haben und sie bekommen dann noch Konkurrenz von Menschen, deren jeweiliges nationales Lohnniveau natürlich noch mal deutlich drunter liegt, dann – denke ich – ist das doch nachvollziehbar, dass wir uns Sorgen machen und fragen: Wohin soll diese Lohndrückerei noch führen?

Und dass es benutzt wird, ob das im Bewachungsgewerbe ist oder ob das im Bereich der Logistik ist, an den nicht hoch anspruchsvollen Arbeitsplätzen, auch im Bereich der Pflege so sein kann, dass es zu weiteren Verwerfungen kommt, weil die Bedingungen hier in Deutschland so ungeregelt sind und die Arbeitgeber geradezu zu prekären Beschäftigungsverhältnissen einlädt – das ist meine Kritik.

Michael Hüther: Aber Sie geben da schon eine ziemlich schräge Skizze des deutschen Arbeitsmarktes ab. Also, erstens Mal Pflege, da haben wir einen gesetzlichen Mindestlohn. Es ist ja nicht so, dass diese Bereiche völlig unjustiert sind. Da kann man ja lange drüber diskutieren, ob das alles sinnvoll ist, aber da hat es ja eine Reihe von Veränderungen gegeben.
Ich will noch auf eins hinweisen, weil Sie immer so sagen, "dieser Niedriglohnsektor". Es ist zwar richtig, der ist ausgeweitet worden, aber nicht zu Lasten von Normalarbeitsverhältnissen. Das Normalarbeitsverhältnis hat einen Anteil an allen Erwerbspersonen in den letzten zwei Jahrzehnten um die 38/ 39/ 40 Prozent. Das schwankt minimal.

Das, was passiert ist seit Mitte des letzten Jahrzehnts ist, dass wir mehr Menschen in den Arbeitsmarkt integriert haben. Die sind hinzugekommen und die sind zunächst einmal vor allen Dingen auch über solche flexiblen Beschäftigungsverhältnisse, wie Sie sie erwähnt haben – das sind Teilzeitbeschäftigungen, das sind auch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, Zeitarbeit –, in den Arbeitsmarkt hineingekommen.

Was glauben wir denn, wie uns das gelingen kann, die Massenarbeitslosigkeit zurückzubauen? Ich darf daran erinnern: Wir hatten 2005 im Frühjahr über fünf Millionen registrierte Arbeitslose, mal die verdeckten gar nicht mit bedacht. Wir sind jetzt bei drei Millionen. Wir haben die Chance, im Jahresdurchschnitt unter die drei Millionen zu kommen. Das kann ja nicht einfach alles nur in Normalverhältnisse in der ersten Stufe hineingehen. Das heißt: Was uns gelingen muss, ist, aus der Einstiegsmobilität, die gestiegen ist, eine Aufstiegsperspektive zu machen.

Margret Mönig-Raane: Oh, Herr Hüther! Also, von den knapp 40 Millionen Erwerbstätigen sind über sieben Millionen geringfügig beschäftigt, und davon die ganz, ganz große Zahl als einzige Erwerbsquelle. Wir haben wirklich viele Beispiele, dass Unternehmen geringfügig Beschäftigte einstellen, keineswegs in der Absicht, zunächst mal geringfügig beschäftigt und dann wird das mindestens mal eine sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung, sondern da wird gesagt: Ach, Sie waren arbeitslos? Oder wenn nicht, 160 Euro dürfen Sie dazuverdienen und den Rest holen Sie sich bitte bei Hartz IV. – Und das ist kein Einzelfall. Das frisst sich langsam durch.
Wir haben im Einzelhandel von 2,7 Millionen Beschäftigten knapp eine Million, die geringfügig beschäftigt sind.

Da können Sie mir doch nicht ernsthaft erzählen, das sei eine Einstiegsveranstaltung, sondern hier sind nachweisbar versicherungspflichtige Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse abgebaut worden. Es ist in einer Reihe von nicht kleinen Firmen eher das Regelarbeitsverhältnis als die Ausnahme. Und das frisst sich durch.

Wenn bei jungen Wissenschaftlern 80 Prozent nur noch befristet eingestellt werden, und zwar ohne Sachgrund befristet – es kann ja einen Grund geben, gerade im Bereich der Wissenschaft Befristungen zu mache, aber es ist scheinbar auch im öffentlichen Dienst eher die Regel als die Ausnahme –, und wenn über 40 Prozent der jungen Leute nur noch befristete Arbeitsverträge bekommen, dann können Sie mir nicht ernsthaft erzählen, das glaube ich Ihnen auch nicht, dass Sie das finden, dass das normal ist. Sondern normal ist, dass man eine gewisse Flexibilität braucht, auch von Seiten der Arbeitgeber – d'accord –, aber was wir in Deutschland inzwischen haben, ist ein schwer in Unordnung geratener Arbeitsmarkt.

Und darauf trifft jetzt die Osterweiterung der Arbeitsmöglichkeiten und der Wanderungsmöglichkeiten zu. Das betrifft im Vorwurf überhaupt nicht die Menschen, die hier Arbeit suchen, sondern das betrifft die Bundesregierung, das betrifft auch Landesregierungen und betrifft die Arbeitgeber. Und wir haben eine Reihe schon von Vorschlägen und Forderungen entwickelt, wo wir sagen, da kann man diese Dinge in Ordnung bringen.

Und der allgemeine gesetzliche Mindestlohn gehört dazu, diese Dinge mal sichtbar in Ordnung zu bringen und klarzumachen: Wer sich hier betätigen will – ob als Unternehmer oder hier arbeiten will –, der hat diese Mindestbedingungen und die sind auch einzuhalten.

Deutschlandradio Kultur: Herr Hüther, was spricht denn dagegen – flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, auch in der Leiharbeit, und die Aufnahme aller Branchen in das Entsendegesetz? Dann wäre doch Ruhe an der Front und die Menschen könnten vielleicht von ihrer Arbeit leben? Was spricht aus ordnungspolitischen Gründen aus Ihrer Sicht dagegen?

Michael Hüther: Nun, ein Mindestlohn ist ja ein verteilungspolitisches Instrument. Man versucht Einkommenssicherung dadurch zu organisieren. Er ist dadurch schon einfach nicht effektiv, weil ich mir unterschiedliche Lebenssituationen anschauen muss. Deswegen ist das, was wir als verteilungspolitisches Instrument nutzen, die Grundsicherung und das, was darauf baut. Die berücksichtigt nämlich beispielsweise die Einkommenssituationen, die es sonst noch gibt. Es gibt ja häufig nicht nur ein Arbeitseinkommen. Es kann auch anderes geben. In einem Haushalt habe ich unterschiedliche Bedarfslagen. Auch das kann ich damit nicht berücksichtigen.

Das heißt also, mit einem einheitlichen Mindestlohn wird ja das, was immer als Problem angeführt wurde, nämlich dass es Aufstockersituationen bei Hartz IV gibt, dass sie also ein Erwerbseinkommen haben und zusätzlich Arbeitslosengeld II, in vielen Fällen, wo das in Familien ist, weil dann 10,50 Euro bis 11,00 Euro sich als impliziter Stundenlohn ergibt, dann gar nicht wirksam. Das heißt, man muss eigentlich wissen: Was will man eigentlich damit?
Und dann muss man schauen, was ist der schlüssige Mindestlohn. Was ist das Niveau? Wenn ich mir die Engländer anschaue, das entspricht der Mindestlohn derzeit etwa 45 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das, was wir mit dem jetzt vom DGB diskutierten 8,50 Euro anpeilen, liegt deutlich über 50 Prozent oder führt dazu, dass es über 50 Prozent liegt.

Und schlüssig zu unserem Arbeitslosengeld II passt implizit ein Stundenlohn bei Vollzeiterwerbstätigkeit eines Alleinstehenden bei ungefähr 5,00/ 5,50 Euro. Das kann man ja als einen schlüssigen Bestandteil ansehen, aber darüber wird ja nicht diskutiert, sondern was wir machen, sind branchenspezifische Einzellösungen. Da kann man für viele einen Grund finden, aber es heißt natürlich auch, dass es uneinheitlich ist, dass es ein Flickenteppich ist und dass ich in jeder Branche noch mal eine ganz eigene Definition habe nach ihren Bedingungen.
Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn würde eine völlig andere Perspektive zugrunde legen. Er fragt nicht nach Branchenbedingungen, sondern er fragt allgemein nach der Logik des Absicherungssystems.

Margret Mönig-Raane: So ist das. Ja. Also, der allgemeine gesetzliche Mindestlohn heißt: Da drunter gibt es in Deutschland nichts mehr. Und dann kann man noch immer branchenspezifische Spezialregelungen machen, aber dieser gesetzliche einheitliche Mindestlohn gilt vor allen Dingen auch für die Branchen, wo weit und breit kein Tarifvertrag in Sicht ist.

Und da es dann auch keine Wettbewerbsverzerrung geben würde, weiß ich überhaupt nicht, was da ordnungspolitisch gegen sprechen sollte.

Wofür ich vehement plädiere, ist, dass die einzelnen Menschen – Männer wie Frauen – einen Anspruch darauf haben, einen existenzsichernden Mindestlohn wirklich als Mindesteinkommen zu bekommen, mit dem sie also am Leben, am gesellschaftlichen Leben auch teilhaben können. Hier auf Familieneinkommen zu verweisen, das ist eine verdeckt frauenfeindliche Veranstaltung, weil, dann sind wir wieder bei dem Familienernährer, bei der Bedarfsgemeinschaft. Und die eigenständige Sicherheit und Sicherung von Frauen ist wieder in weite Ferne gerückt.

Wir brauchen in Deutschland eine bessere, verlässlichere soziale Sicherung auf dem Arbeitsmarkt. Das sind in der Regel unbefristete Arbeitsverhältnisse. Das ist ein gesetzlicher Mindestlohn, auf dem ja allerhand aufbauen kann, je nach Branche. Und das bedeutet auch, dass die Arbeitsverhältnisse – auch Scheinarbeitsverhältnisse –, die dann als Werkaufträge, ich sage mal, kaschiert sind und damit übrigens auch Tarifverträge unterlaufen, das alles führt nicht dazu, dass die Menschen hier mit Zuversicht drauf gucken könne: Wer kommt denn noch dazu und wer konkurriert mit uns mit noch niedrigeren Löhnen und Gehältern um Arbeitsplätze?

Deutschlandradio Kultur: Jetzt sind wir schon fast am Ende der Sendung, deshalb eine kurze Antwort auf die Frage: Fährt denn die schwarz-gelbe Bundesregierung einen richtigen ordnungspolitischen Kurs?

Michael Hüther: Also, sie lässt am Arbeitsmarkt auf der einen Seite schon die Weiterentwicklung der Instrumente des Förderns und Forderns zu, versucht das auch in den Blick zu nehmen. Sie ist da natürlich getrieben durch auch Einsparvorgaben. Das andere Thema ist, man hat sich, und da arbeitet sie nicht anders als die Große Koalition voran, auf den Weg gemacht, branchenspezifische Mindestlöhne im Falle einer Beantragung aus den Branchen zu prüfen. Aus dieser organisatorischen Form kommen wir jetzt auch nicht mehr raus. Die hat, wie ich finde, weitreichende Konsequenzen für das Tarifvertragssystem. Insofern sehe ich die eher skeptisch.

Man kann das in Einzelfällen begründen – wir haben über die Zeitarbeit, wir haben über die Pflege gesprochen –, aber es ist im Augenblick nicht der große ordnungspolitische Wurf. Denn die Klage über die Befristung, die eben angesprochen wurde, reflektiert ja nur, dass man ansonsten beim Kündigungsschutz keine Mobilisierung, keine Flexibilisierung hat. In einem Land mit rigidem Kündigungsschutz ist das Befristungsrecht nun als Antwort auch notwendig. Die Befristung an sich ist nicht das Problem. Ich meine, es ist absurd, wenn Sie sagen, dass die Uni-Absolventen, die sind in der Regel immer anfangs befristet beschäftigt, weil sie an der Uni sind oder in der Einstiegsbeschäftigung. Das sind keine Wege in prekäre Verhältnisse.

Margret Mönig-Raane: Ich habe nicht nur von Einstiegsleuten gesprochen. Also, dass der gesetzliche Mindestlohn von dieser Bundesregierung und der Kanzlerin abgelehnt wird, das wissen wir. Dass branchenbezogene Mindestlöhne von einem Teil der Regierung, dem größeren Teil, ja durchaus als eine sinnvolle Lösung angesehen werden, ist das eine. Dass der kleine Koalitionspartner sich vor die Tür legt und sagt, nur über unsere Leiche, ist das andere. Was im Zusammenhang auch mit Lohnungleichheit – jetzt mal nicht zwischen ausländischen und deutschen Arbeitnehmern, sondern zwischen Männern und Frauen – ja durchaus ein interessanter Teil ist, sind die Prekarisierungsfaktoren, die ich vorhin genannt habe – mit geringfügiger Beschäftigung, mit Befristung, insbesondere mit Werkverträgen dann auch noch mal. Die müssen in der Tat mit angepackt werden.

Und ich habe Hoffnung, dass die CDU-CSU-Fraktion auch sieht, was mit der enormen Ausweitung dieser Art von Arbeitsverhältnissen für ein Schaden für die Gesellschaft, für die Finanzierung der Sozialversicherungen, für Steuereinnahmen entsteht, welche Folgen das hat und wo am Ende diejenigen, die Sozialversicherungsbeiträge zahlen, die Steuern zahlen, und zwar Unternehmen wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die subventionieren, die von diesen Instrumenten in einem Ausmaß Gebrauch machen, wo ich sage, das ist sozial schädlich und gehört abgestellt.

Deutschlandradio Kultur: Wir müssen auf die Uhr schauen. Deshalb nehmen wir das als Schlusswort. – Arbeitnehmerfreizügigkeit und auch die Diskussion über Mindestlöhne, das war unser Thema heute in Tacheles. Gesprächspartner waren Margret Mönig-Raane, die stellvertretende Bundesvorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, und Prof. Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Köln.

Vielen Dank für die klaren Worte. Ihnen allen noch einen schönen Samstagnachmittag.