Die Zukunft von gestern

21.05.2010
Was wäre, wenn - das ist eine der Urfragen der Literatur und einer der Gründe, warum Mächtige Literatur fürchten, denn: "Was wäre wenn" stellt immer auch die Machtfrage.
Vor genau 100 Jahren lud der damals bekannte deutsche Journalist Arthur Brehmer eine Handvoll Fachleute für Technik, Politik, Kunst und Kultur dazu ein, sich Gedanken zu machen über "Die Welt in hundert Jahren". Unter diesem Titel erschien Arthur Brehmers Anthologie 1910, wurde ein veritabler Bestseller und zählte lange zu den meistgesuchten Raritäten der Was-wäre-wenn-Literatur, die, wer will, auch Science-Fiction oder utopische Literatur nennen mag.

Der Georg Olms Verlag hat nun, ein Jahrhundert später, Arthur Brehmers "Die Welt in hundert Jahren" neu aufgelegt und Georg Ruppelt ein kluges und erhellendes Vorwort dazu schreiben lassen. Die Lektüre zählt zum Anregendsten und Aufregendsten, die man sich vorstellen kann, denn: Nichts macht so nostalgisch wie die Zukunft von gestern. Da werden ungeheure Luftflotten von Zeppelinen prognostiziert, Berta von Suttner sieht den Weltfrieden voraus, Rudolf Martin den Krieg Europas gegen Asien, erstaunlich einig ist man sich über die Emanzipation der Frau und des Arbeiters und darüber, dass im Jahr 2010 die Erdbeeren so groß wie Orangen sein werden - mindestens.

Außerdem weiß man genau, dass es im Jahr 2010 keine Literatur mehr geben wird, denn bis dahin können wir alle selber schreiben und niemand bedarf mehr eines Dolmetschers dafür, wie es in seinem Herzen aussieht. Na ja, das ging daneben.

Aber dafür sah man immerhin die Erfindung des Handys voraus. "Die Bürger der drahtlosen Zeit werden überall mit ihrem 'Empfänger' herumgehen", lese ich in "Die Welt in 100 Jahren", "einerlei, wo er auch sein wird, er wird bloß den 'Stimm-Zeiger' auf die betreffende Nummer einzustellen brauchen, die er zu sprechen wünscht, und der Gerufene wird sofort seinen Hörer vibrieren oder das Signal geben können, wobei es in seinem Belieben stehen wird, ob er hören oder die Verbindung abbrechen will."

Nicht vorausgesehen hat man nur den Verdruss über das ständige Gebimmel und ungezogene Gequatsche allüberall. Eigentlich höchste Zeit, sich einmal Gedanken über die Welt in hundert Jahren zu machen. Im Jahr 2110 – da werden sich immer noch viele Menschen nach guter Literatur sehnen – und kein Mensch nach Erdbeeren groß wie Orangen. Wetten?

Arthur Brehmer: Die Welt in 100 Jahren
Olms Verlag, Hildesheim 2010
319 Seiten, 19.80 EUR