Die USA nach der Präsidentschaftswahl

Matthias Rüb und Michael Werz im Gespräch mit Claus Leggewie · 23.11.2008
Matthias Rüb, Autor des Buches "Gott regiert Amerika", macht den Einfluss der Religion auf die Politik deutlich. Lob erhielt der "FAZ"-Korrespondent von Michael Werz vom German Marshall Fund in Washington.
Claus Leggewie: Heute kommt das politische Buchmagazin "Lesart Spezial", veranstaltet vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen mit der Buchhandlung Proust und der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" erstmals aus dem Schauspiel Essen, im Grillo-Theater. Ich bin Claus Leggewie, begrüße Sie herzlich hier im Café Central und an den Radiogeräten zu Hause.
Ich habe sehr kundige Gäste zum Thema von heute "Amerika nach den Präsidentschaftswahlen", zunächst den Journalisten und Korrespondenten der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Washington Matthias Rüb. Mit ihm sprechen wir über sein gerade erschienenes Buch "Gott regiert Amerika. Religion und Politik in den USA".

Mein zweiter Gesprächspartner ist ein ebenso guter Kenner des politischen ‚Raumschiffes Washington’, wo die politische Klasse gerade Kopf steht. Michael Werz ist Philosoph und Soziologe, kommt ursprünglich von der Uni Hannover, arbeitet jetzt für den German Marshall Fund in Washington. Vielleicht haben Sie ihn in der Nacht der Präsidentschaftswahl als einen der Kommentatoren im ersten Programm, in der der ARD, gesehen.

Dieses Jahr war das Interesse an den USA und an den Präsidentschaftswahlen noch größer als üblich. Das lag natürlich an der Kandidatur von Barack Obama. Herr Rüb, Ihr Buch trägt den Titel "Gott regiert Amerika". Sie wollen aber nicht sagen, dass Obama ein Stellvertreter Gottes auf Erden ist? Warum der Titel "Gott regiert Amerika"?

Matthias Rüb: Weil Amerika zeigt, dass eigentlich die Grundannahme der Religionssoziologie der letzten 100, 200 Jahre falsch ist, nämlich dass je moderner, je aufgeklärter, je fortschrittlicher eine Gesellschaft ist, desto weniger bedeutend ist Religion. Amerika ist die am stärksten religiös geprägte westliche Gesellschaft. Sie widerspricht dieser These von Émile Durkheim über Karl Marx bis Max Weber, dass je mehr wir über die Welt wissen, je mehr wir wissenschaftlich die Weltprozesse durchleuchten können, desto weniger brauchen wir als Erklärungskrücke gewissermaßen die Religion. Das ist in Amerika gerade nicht so. Amerika ist eine hochindustrialisierte postmoderne Dienstleistungsgesellschaft und die Religion floriert. Dieser Befund ist mir sehr wichtig, weil ich glaube, man muss, um Amerika zu verstehen und um die Andersartigkeit Amerikas zu verstehen, sich darüber Rechenschaft ablegen, dass Religion in Amerika sehr wichtig ist und warum sie so wichtig ist.

Ich erwähne nur noch ein konkretes Beispiel aus dem Wahlkampf: Wir in Deutschland könnten uns, glaube ich, nie vorstellen, dass sich Herr Steinmeier und Frau Merkel zu ihrer ersten Fernsehdebatte in einer Kirche treffen. Das war aber in Amerika genau der Fall. Die erste inoffizielle Fernsehdebatte zwischen Barack Obama und John McCain hat in der Saddleback Church von Rick Warren im Süden von Los Angeles stattgefunden. Und beide Kandidaten fanden das nicht anstößig, dass in einer Kirche der politische Diskurs geführt wird.

Um es etwas zuzuspitzen: So wichtig für die Amerikaner die Mauer zwischen Kirche und Staat ist, so wichtig ist es trotzdem für sie, dass über Religion und über religiöse Überzeugung auch im politischen Zusammenhang gesprochen wird. Also, die Trennung von Kirche und Staat ist nicht dasselbe wie die Trennung von Religion und Politik. Im Gegenteil, es gibt sehr starke Überschneidungen. Religiöse Überzeugungen spielen in der Politik eine große Rolle. 60 Prozent der Amerikaner wollen zum Beispiel, dass ihr Präsident offen über seine religiösen Überzeugungen spricht.

Claus Leggewie: Das tun ja dann die Präsidentschaftsbewerber auch immer wieder. Es gibt zwei Thesen in Deutschland. Die eine ist, man sagt, die Amerikaner sind – ich spitze es jetzt mal sehr stark zu – gewissermaßen allesamt durchgeknallte Fundamentalisten. Das heißt, die Religion ist geradezu in einem überbordenden Sinne bestimmend für das Alltagsleben, aber auch für die Politik, und das ist gefährlich. Und die andere Meinung ist: George W. Bush meint das alles nicht so. Er ist in Wirklichkeit jemand, der sich für die imperialistischen Interessen der Vereinigten Staaten einsetzt, der das Öl fließen lassen möchte. Und die Religion ist sozusagen nur der Zuckerguss oben drauf.

Was würden Sie zu diesen beiden, wie ich zugeben muss, jetzt etwas extrem beschriebenen Positionen sage, die man immer wieder hört, wenn in Deutschland über Religion und Politik und USA gesprochen wird?

Matthias Rüb: Ich bin der Überzeugung, dass Bush wirklich glaubt. Er stellt ja sein Leben so dar, dass er bis zum 40. Lebensjahr ziemlich lotterhaft gelebt hat, auch – auf Deutsch gesagt – ein Säufer war und das schwarze Schaf in der Familie, nicht so erfolgreich wie der jüngere Bruder und gar nicht nach dem Bilde, wie sich das der Vater Bush, H.W. Bush, von ihm gemacht hat, sich entwickelt hat.

Dann kam ein wirkliches Epiphanie-Erlebnis. Er hat den Weg zu Gott gefunden durch Amerikas Pastor Billy Graham. Mit dem hat er ein eindringliches ausführliches Gespräch geführt. Und dann ist er ein Gottesmann geworden. Er trinkt nicht mehr, keinen Tropfen seither, und hat sein Leben sehr stark fokussiert. Das ist das eine. Also, ich glaube, er glaubt wirklich, was er sagt. Das ist kein bloßer Diskurs.

Und man darf nicht vergessen, für die Gründerväter wie für die Pilgerväter waren Religion und Freiheit immer Zwillingsgeschwister. Also, anders als in Europa, wo der bürgerliche Freiheitsimpuls immer gegen die Kirche gerichtet war, war das in Amerika nicht der Fall. Im Gegenteil, die Pilgerväter sind nach Amerika gekommen, nicht um frei von der Religion zu sein, sondern um frei für die Religion zu sein. Das ist ganz wichtig.

Natürlich gibt es die durchgeknallten Fundamentalisten in Amerika. Es gibt ein Dutzend Schöpfungsmuseen, wo die Entstehung der Erde in 5.000 Jahren dargestellt wird. Die gibt es, aber das ist nicht entscheidend und vielleicht auch nicht so interessant. Interessanter ist, dass es diese Bewegungen gibt, sowohl wissenschaftlich ernsthaft zu denken, nämlich zu sagen, natürlich stimmt die Evolutionstheorie, natürlich ist Darwin richtig, aber Darwin erklärt nicht, warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts. Diese Effekte oder der Versuch, wissenschaftlich ernsthaft zu denken, um zugleich die Religion nicht auszuschließen, ist eigentlich bestimmend. Und das ist das Interessante.

Claus Leggewie: Herr Werz, Sie haben das Buch von Matthias Rüb gelesen. Mit Vergnügen, mit Erkenntnis, mit Kritik? Können Sie uns ein bisschen darstellen, was in seinem Buch alles behandelt wird?

Michael Werz: Es ist ein sehr interessantes, sehr gutes Buch. Ich habe es gelesen mit Vergnügen, mit Erkenntnis und auch mit ein wenig Kritik. Ich glaube, er berührt wirklich den Kernbestand dessen, was die amerikanische Gesellschaft ausmacht, und hat sich in bester journalistischer Tradition auf eine Spurensuche gemacht, eine fast schon anthropologische Spurensuche nach den religiösen Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten, die man sonst so nicht zu sehen bekommt. Dieses Buch steht in der Tradition aufklärerischen Journalismus bis hin zurück zu Egon Erwin Kisch und Karl Kraus.

Ich glaube, die Beschreibungen, die er in der Lage ist dort zusammenzustellen über orthodoxe jüdische Gemeinschaften in New York, über die Latino Communities in Los Angeles und eine ganze Reihe von anderen Polaroid- und Momentaufnahmen ist wirklich beeindruckend. Und er unterfüttert das auch mit historischen Daten, die die ganze Sache verständlicher und plausibler machen.

Wo ich vielleicht eine Frage anbringen würde, und das kam auch gerade hier in dem Gespräch sofort wieder zum Tragen, ist an zwei Punkten: Die Rede vom gottfernen Europa und dem Gott so nahen Amerika ist vielleicht ein wenig trügerisch. Wenn man genauer hinsieht und genauer hinhört, fällt einem schnell auf – und es gibt auch Untersuchungen, die das belegen –, dass Leute in der Regel auf diese sehr intimen Fragen des persönlichen Glaubens so antworten, wie das von ihrem Umfeld erwartet wird. Das heißt, Amerikaner erklären sich für gläubiger als sie sind. Und Europäer erklären sich für säkularer als sie sind.

Ich denke, das ist ein wichtiges Moment, auf das man immer wieder hinweisen muss. Denn in keiner westlichen Gesellschaft ist die Trennung von Kirche und Staat so radikal durchdekliniert wie in den Vereinigten Staaten, wo ja durch den Genius des ersten Verfassungszusatzes, der jedes Gesetz über Religion verbietet, Religion sozusagen in Privatwirtschaft verwandelt worden ist. Es ist auch leichter eine Kirche zu gründen in den USA als eine Firma zu eröffnen.

Dort von Religion im europäischen Sinne zu sprechen – und das wäre mein zweiter Punkt oder meine zweite Anregung, über die Kategorien stärker nachzudenken –, geht am Kern der Sache vorbei. Ich glaube, wir müssen sehr klar darauf achten, dass in diesen Diskussionen, wie wir sie hier führen, häufig Religion im europäischen Sinne in Korrelation mit Territorialität und politischer Herrschaft, mit individualisiertem Glauben oder "Privatreligion", wenn Sie das schöne Hegelsche Wort benutzen wollen, Privatreligion im ernsthaftesten Sinne in Amerika gesprochen wird. Denn in den USA ist ja Religiosität nur unter einer doppelten Toleranzvoraussetzung lebbar, dass nämlich Religion frei ist von jeder politischen Einflussnahme, aber dass sie zugleich per definitionem immer nur eine Religion unter anderen Religionen sein kann. Das heißt also, in die Religiosität und in den individuellen Glauben ist der gelebte Pluralismus immer schon mit eingeschrieben. Darum ist eigentlich das Problem der unmittelbaren politischen Einflussnahme so nicht gegeben.

Vielleicht noch eine letzte Bemerkung: Es gab Leute in John Kerrys Wahlkampfteam, die verzweifelt versucht haben, Video-Clips zu finden, wo er von Jesus Christus spricht. Und sie haben keinen Video-Clip von ihm gefunden. Weil, wenn von Religion gesprochen wird in politischen Zusammenhängen, ist immer von der größtmöglichen Universalabstraktion, nämlich von "dem" Gott, den alle respektieren, in seinen unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen die Rede. Das ist ein qualitativer Unterschied zu Europa, wo natürlich Religionszugehörigkeit blitzschnell über Zugehörigkeit zu Gesellschaft, Rechten und Anerkennung kurzgeschlossen wird. Das ist ja auch der Kern des europäischen Problems.

Matthias Rüb: Ganz wichtiger Punkt! Es ist tatsächlich so, dass auch in religiösen Geschäften Konkurrenz offenbar das Geschäft belebt. Der Marktplatz für religiöse Angebote ist in Amerika vollkommen unübersichtlich. Und Untersuchungen zeigen, dass 40 Prozent der erwachsenen Amerikaner in ihrem erwachsenen, bewussten Leben die Religionsgemeinschaft, also die Denomination oder sogar die Konfession gewechselt haben.

Man sieht auch, dass in der Entwicklung die klassischen sogenannten Mainline Religionen, also, die Episkopalkirche, die Methodisten, die Baptisten, dass die Gläubige verlieren und dass die Pfingstlergemeinden und die Megakirchen mit sehr charismatischen Pfarrern Gläubige gewinnen.

Claus Leggewie: Warum ist das so?

Matthias Rüb: Weil, es muss etwas geboten werden. Die Kirche muss eine ordentliche Showveranstaltung sein. Das ist sie ja auch oft in diesen Megakirchen. Und es ist eigentlich immer dieser antiinstitutionelle Effekt. Die Kirche, meine Gemeinde darf nicht eine Institution sein, sondern sie beruht allein auf dem freiwilligen Zusammenschluss der Individuen, die sich dazu entschließen, in diese Kirche zu gehen. Es wäre in Amerika völlig undenkbar, dass der Staat, wie bei uns, die Kirchensteuer für die Katholische oder die Evangelische Kirche eintreibt. Die Amerikaner sind sehr spendenfreudig. Die spenden 90 Milliarden Dollar pro Jahr für ihre Kirchen und Glaubensgemeinschaften, aber alles komplett auf freiwilliger Basis. Das ist ganz wichtig, dass es eine Grassroot-, eine Graswurzelbewegung ist, die die Menschen in die Kirche führt oder in ihre Glaubensgemeinschaft.

Noch ein letzter Satz: George W. Bush sagt immer: Ich verteidige das Recht jedes Menschen in Amerika, seine Religion auszuüben oder keine Religion auszuüben. Also, ich setzte mich ein auch für die Atheisten. Und eine Debatte, wie jüngst in Köln, ob eine Moschee gebaut werden soll, wenn ja, wie groß darf das Minarett sein, ist in Amerika eigentlich undenkbar. Es gibt in Dearborn in Michigan in der Nähe von Detroit, eine so genannte Altar Allee. Da gibt es sehr viele Kirchen und eben nicht nur Kirchen, sondern auch eine große, die größte Moschee in Nordamerika, stehen einträchtig nebeneinander. Das ist, glaube ich, klassische amerikanische Tradition, dass jedes Gotteshaus dort gebaut werden darf, wo die Gläubigen das wollen und das nicht gegen irgendwelche Bauvorschriften verstößt.

Claus Leggewie: Dieses eben angesprochene Säkularisierungsgebot, Trennung von Staat und Kirche, wird in den USA, wie wir gerade gehört haben, dadurch gewissermaßen konterkariert, dass es eine sehr hohe private Frömmigkeit, Ausübung von Religion, von Glauben gibt, der wenig institutionell ist, sondern sozusagen gelebte Religion ist, und zweitens dadurch, dass Religion im öffentlichen Raum so präsent ist, wie wir das sehen.

War das bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen auch so, wie zum Beispiel 2004 und 2000, als George W. Bush angetreten ist? Oder war diesmal nicht, wie man viel gehört hat, dann doch die so genannten "Bred-and-butter issues", also da, wo es um das eigene Portemonnaie geht, da, wo es darum geht, dass es ökonomische Probleme gibt, und zwar schwerwiegende, am Ende dann doch wichtiger? Dass wir jetzt ein bisschen diesen religiösen Faktor in der Politik einordnen und relativieren in Bezug auf andere Größen, die in der Politik eine Rolle spielen.

Michael Werz: Eine sehr gute Frage. Also, das gängige Argument lautet wie folgt: Die Wiederwahl George Bushs im Jahr 2004 war eine große Überraschung. Er hat in ländlichen und Vorortgebieten hervorragende Ergebnisse erzielt, unter anderem in Florida und Ohio, was ihm den Wahlsieg gebracht hat. Und dann versuchten die Demoskopen und auch Politikwissenschaftler zu erklären, wie das denn zustande kam. Und weil sie meiner Meinung nach relativ wenig Ideen hatten, was die gesellschaftliche Dynamik anging, und analytisch vielleicht nicht die Begabtesten waren, haben sie das gemacht, was Demoskopen und Politikwissenschaftler häufig tun. Sie haben ein Etikett erfunden, nämlich das des evangelikalen Protestantisten. Von denen waren dann plötzlich 25 bis 30 Millionen da, die George Bush angeblich zum Wahlsieg verholfen haben.

Jetzt haben wir eine zweite Wahl 2008. In den Gebieten, die damals zum evangelikalen Kernland gehörten, in Ohio und Florida, hat Barack Obama hervorragend abgeschnitten - in den meisten zumindest. Plötzlich sind diese 30 Evangelikalen weg. Alle fragen sich: Wo sind die denn hin?
Meine Antwort wäre: Lassen Sie uns überlegen, ob die überhaupt jemals da gewesen sind, denn ich halte das für eine vorschnelle Zuordnung. Das war eine politische Situation im Jahr 2004, die gekennzeichnet war von einer sehr zynischen Angstkampagne der Regierung. Condoleezza Rice war in den Talk-Show, redete von nuklearen Atompilzen über den Städten. Wir hatten ein farbcodiertes Bedrohungssystem, wo alle zwei Wochen von Orange nach Gelb und zurück gewechselt wurde. Und es gab eine Situation stiller Hysterie. Ich glaube, das hat viele Leute in die Arme der Republikaner getrieben und hat auch den Wahlerfolg sichergestellt. Mit Religion hat das wenig bis gar nichts zu tun. Denn die Demoskopen haben auch gleich die Evangelikalen neu definieren müssen, damit da überhaupt 30 Millionen bei raus kamen. Und die Definition ist: weiß, ländlich, protestantisch, geht einmal in der Woche in die Kirche. Das sagt natürlich über politische Einstellung überhaupt nichts und ist soziologisch in keiner Weise tragfähig.

Das heißt also: Ich denke, man muss sich sehr genau überlegen, ob man nicht vorschnell religiöse oder - sagen wir - kulturelle Erklärungsmuster heranzieht, um gesellschaftspolitische Veränderungen und Prozesse zu beschreiben, die unter Umständen ganz anderen Kriterien gehorchen.

Claus Leggewie: Oder, Herr Rüb, ist Barack Obama deswegen gewählt worden, weil er nun selber sich einen religiösen Anstrich gegeben hat oder, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, eben selbst ein religiöser Mensch ist, der also auf der anderen Seite, auf der so genannten evangelikalen Seite eben seinerseits Punkte gemacht hat?

Matthias Rüb: Das ist nach Wählerbefragungen statistisch nachweisbar. Er hat deutlich mehr Stimmen zum Beispiel der katholischen Wähler bekommen als John Kerry vor vier Jahren. Und da die Wahlen normalerweise knapp ausgehen - ich glaube, dieses Jahr war die Ausnahme -, macht das sehr viel aus. Er hat viel mehr Stimmen der katholischen Latino-Wähler bekommen. Er hat auch mehr Stimmen der jungen evangelikalen Wähler bekommen, weil es innerhalb dieser evangelikalen Bewegung, die nach meiner Überzeugung immer noch sehr bedeutend ist, einen Generationswechsel gegeben hat - Gott sei dank. Die ist nicht mehr gar so rechtskonservativ.

Also, erstens sind sie immer gegen Washington, weil das der Moloch ist, und zweitens sind sie überzeugt, dass sie durch Gottes Wort, der unmittelbar zu ihnen spricht, wissen, dass Homosexuelle und Abtreibungsbefürworter gewissermaßen Agenten des Teufels sind. Diese krasse Position hat einer neuen Generation von evangelikalen Pastoren und Gemeinden Platz gemacht, die zum Beispiel auch den Umweltschutz als Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung verstehen, die also viel mehr jetzt eine moderne, eine aufgeschlossene Weltsicht haben als diese alte Generation, die allmählich abtritt.

Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Dieses Jahr war der Wahlkampf durch drei Themen geprägt. Das war die Wirtschaft, die Wirtschaft und die Wirtschaft. Das hat die Leute sehr bewegt. Und zum letzten Mal, dass in Amerika ein regierender Präsident die Wiederwahl gewonnen hat zu Zeiten einer Rezession, war 1900. Das war William McKinley, ein Republikaner. Seither hat immer die regierende Partei verloren, wenn das Land in einer Rezession war. Das war in diesem Jahr auch so.

Also musste eigentlich Obama gewinnen. Er hat deutlich gewonnen. Er hat einen großartigen Wahlkampf gemacht. Aber vergessen wir nicht, am Wahltag wurde im liberalen Kalifornien auch über einen Verfassungszusatz abgestimmt, der die Homosexuellen-Ehe verbietet.
Dieser Verfassungszusatz wurde in einem Bundesstaat, der mit deutlicher Mehrheit für Obama gestimmt hat, mit 52 Prozent angenommen. Das heißt, in Kalifornien ist die Homosexuellen-Ehe jetzt wieder verboten. Und raten Sie mal, wer zu 70 Prozent für das Verbot der Homosexuellen-Ehe gestimmt hat? Das waren die schwarzen Wähler, die zu 95 Prozent für Obama gestimmt haben. Und viele dieser schwarzen Wähler haben von ihren baptistischen Pastoren in der Kirche gehört:

Ihr müsst für dieses Verfassungsverbot der Homosexuellen-Ehe stimmen.
Großen Einfluss hatten auch die Mormonen, die bis zu 20 Millionen Dollar nach Kalifornien hineingepumpt haben, um dieses Verfassungsverbot der Schwulen- und Lesbenehe durchzusetzen. Da zeigt sich, wie bedeutsam und wie gewichtig immer noch religiöse Überzeugungen in solchen Streitfragen wie Homosexuellen-Ehe und Abtreibung ist, auch in einem Wahljahr, wo das Pendel eigentlich deutlich zu den Liberalen und zu den Demokraten schwenkt.

Claus Leggewie: Wenn Sie dann noch mehr wissen wollen, was die Pfingstler alles glauben oder wo Barack Obama sozusagen spirituell herkommt oder was die schon angesprochene Öko-Kirche von Rick Warren in Kalifornien sagt oder was auch mit Dearburn, der arabischen Hauptstadt der USA, ist, dann lesen Sie das Buch von Matthias Rüb über "Gott regiert Amerika".

Wir haben jetzt gerade über Obama gesprochen. Ich würde gerne Herrn Werz noch mal die Frage stellen: Ist er eigentlich gewählt worden, obwohl er ein Schwarzer ist oder weil er ein Schwarzer ist? Ist er Präsident geworden, weil er schwarz ist oder obwohl?

Michael Werz: Er ist ja gar kein Schwarzer, sondern er hat ja einen gemischten Familienhintergrund. Ich glaube, das ist die Lösung des Rätsels, weil er nämlich so undefinierbar ist mit der weißen Mutter und dem kenianischen Vater, der eingewandert ist, dem Aufwachsen in Indonesien, die Schulzeit in Hawaii bei der Großmutter, die Zeit in Harvard und dann die Zeit in Chicago, dass er eigentlich nur mit einem Begriff beschrieben werden kann, nämlich als "Amerikaner". Damit gibt es eine Überschneidung von individueller und Familiengeschichte mit der Gesellschaftsgeschichte der Vereinigten Staaten. Das hat ihn zu einem so attraktiven Kandidaten gemacht.

Ich würde sagen, die Frage muss man richtig rum anders stellen. Die Frage müsste lauten: Wäre er ein gleich begabter weißer State Senator aus Illinois gewesen, wäre er dort, wo er heute ist? Ich denke, die Antwort lautet: nein.

Claus Leggewie: Es gibt ein Buch über Barack Obama. Das ist auch von einem Journalisten, Christoph von Marschall, geschrieben worden. Es heißt "Barack Obama, der schwarze Kennedy". Herr Werz, Sie haben das Buch gelesen. Wie finden Sie es? Soll man es eigentlich nach den Wahlen noch lesen oder ist es eigentlich schon eine dieser schnell geschriebenen Sachen, die für die Wahl ganz informativ sind, aber danach nicht mehr so viel austragen?

Michael Werz: Na ja. Bücher, die vor Wahlen über Personen geschrieben werden, die dann zum Präsident werden, haben natürlich eine kurze Halbwertszeit. Das merkt man dem Buch auch an. Aber es ist eine interessante Rekonstruktion eigentlich der politischen Geschichte Barack Obamas während der vergangenen zwei Jahre. Die interessanten Passagen waren für mich die, wo Christopher von Marschall, der als Kollege und Journalist von Herrn Rüb in Washington auch arbeitet, wo er beschreibt, dass Barack Obama eine bewusste Entscheidung getroffen hat, sich selbst zu einem Schwarzen zu erziehen, dass er, als er nach Chicago kam, sagte: Auch wenn niemand in meiner Umgebung genau zu wissen schien, was das bedeutete, abgesehen von meiner Hautfarbe, habe ich mich entschieden zum Schwarzen zu werden.

Das ist eine faszinierende Dimension, die auf das auch hinweist, was ich gerade versucht habe anzudeuten. Er ist eben einer, der nur von 20 Prozent der schwarzen Amerikaner unterstützt wurde zu Beginn des demokratischen Nominierungsverfahrens und Hillary Clinton von über 60 Prozent.

Also, es gibt diese fast schon paradox anmutende Dimension, dass er eigentlich ein lebendes Fragezeichen ist, was Hautfarbe und was Herkunft bedeutet. Das macht ihn so interessant. Und das macht ihn auch zu einer so attraktiven Identifikationsfigur, weil jeder und jede in den USA in ihm erkennen kann, was uns selbst betrifft, egal, ob man aus einer weißen jüdischen Community aus Florida kommt oder aus einer schwarzen in Chicago oder aus einer Latino-Community in Kalifornien oder ob man zur weißen noch Mehrheitsbevölkerung gehört, die ja Barack Obama in massiven Zahlen überhaupt erst unterstützt hat in den frühen demokratischen Auseinandersetzungen und die ihm so das Überleben gegenüber Hillary Clinton in diesem hart ausgefochtenen Wahlkampf überhaupt ermöglicht hat.

Und die Tatsache, dass Barack Obama überhaupt die Frage aufwirft, was bedeutet es schwarz zu sein und weiß zu sein in den Vereinigten Staaten, hat eine interessante und erstaunliche Diskussion darum ausgelöst, ob er ein Schwarzer ist. Das Argument dagegen war, er ist von einer weißen Mutter und einer weißen Großmutter aufgezogen worden und hat in Harvard studiert und hat eine elitäre Ausbildung genossen und hat eine steile politische Karriere, die nur den Weg nach oben kannte. Das Gegenargument war, er hat eine schwarze Frau geheiratet, schwarze Kinder gezeugt und geht in eine schwarze Kirche.

Das Interessante ist, dass in all diesen Diskussionen immer vollkommen klar geworden ist, dass Herkunftsbestimmungen, selbst wenn sie mit Hautfarbe in Verbindung gebracht werden, etwas völlig Artifizielles sind, das sie konstruiert sind. Das ist eigentlich das Aufklärerische, was er qua Anwesenheit als Person freisetzt, das weit über die Bedeutung des Politikers Barack Obama hinausgeht.

Matthias Rüb: Barack Obama hat selbst die Formulierung geprägt, er sei eine Projektionsfläche, auf welche alle verschiedenen Gesellschaftsgruppen genau das projizieren, was sie in ihm sehen wollen. Ich glaube, das ist eine ziemlich kluge Selbstdarstellung und Selbstbeschreibung. Und wenn wir schon dabei sind Bücher zu empfehlen: Barack Obama selbst ist ein ausgezeichneter Schriftsteller. Seine Autobiografie, im zarten Alter von 35 Jahren geschrieben, mit dem deutschen Titel "Ein amerikanischer Traum", ist ein hochgradig interessantes, sehr kluges, hoch selbstreflexives Buch, das stilistisch brillant geschrieben ist.

Also, das wäre auch ein Angebot: Wenn man über den Politiker, über den Menschen Obama etwas Bleibendes erfahren möchte, findet man es da in dem Buch von ihm selbst und auch in seinem zweiten Buch, das etwas schwächer ist: "Verwegene Hoffnung wagen" heißt es, glaube ich, auf Deutsch. Aber das erste Buch, wo er seine Herkunft, seinen Vater, die abwesenden Vaterfiguren beschreibt, ist psychologisch und politisch hochinteressant.

Claus Leggewie: Unsere beiden Gäste empfehlen auch immer noch zwei weitere Bücher. Das sind im Falle heute zwei englischsprachige. Herr Werz, welches möchten Sie uns noch ans Herz legen?

Michael Werz: Ich möchte Ihnen ein politisches Buch von John Podesta ans Herz legen. John Podesta ist der ehemalige Stabschef unter Bill Clinton gewesen, hat dann nach dem Ende der Clinton-Regierung einen der wichtigsten Think Tanks in Washington aufgebaut, das "Center For American Progress", eine linksliberale Denkfabrik, die darauf ausgerichtet ist, die Vorherrschaft der eher konservativen großen Think Tanks in Washington zu brechen, das auch erfolgreich getan hat. John Podesta ist jetzt zum Chef des Übergangsteams von Barack Obama ernannt worden, eine der wichtigsten Figuren in Washington. "The New Republic" hatte neulich einen vierseitigen Text über John Podesta veröffentlicht, in der sie ihn "the shaddow president" getauft hatte, also den Schattenpräsidenten, der - was Personal und politische Entscheidungen angeht - in der Übergangsphase zwischen den Wahlen bis zur Einschwörung des Präsidenten am 20. Januar eine wichtige Rolle spielen wird.

John Podesta hat dieses Jahr ein Buch veröffentlicht. Das heißt "The Power of Progress", die Macht des Fortschritts. Und es ist im Prinzip ein politisches Programm einer linkliberalen Politik für das 21. Jahrhundert. Zentraler Punkt in diesem Buch sind Umweltfragen. John Podesta ist einer der interessantesten Politiker in diesem Feld, nicht nur, weil er Deutschland häufig als Vorbild lobt und sagt, wir müssen uns an den politischen Gegebenheiten in Deutschland orientieren, wenn wir eine Energierevolution in den Vereinigten Staaten einleiten wollen, und wir müssen dies tun, sondern auch, weil er gewichtige Personalentscheidungen wird treffen können und treffen, auch diese Entscheidung mit treffen wird, was die zukünftige Ausrichtung der Umwelt- und Energiepolitik in den Vereinigten Staaten angeht. Ein sehr lesenswertes Buch auch deshalb, weil John Podesta in der Southside von Chicago aufgewachsen ist. Seine Mutter kommt aus einer griechischen Familie, sein Vater aus einer italienischen. Der Vater hat vier Jahre Schulbildung und 50 Jahre in der Fabrik gearbeitet. Also, John Podesta weiß auch, was die südlichen Stadtteile in den Großstädten der USA so zu bieten haben.

Eine ungeheuer interessante Figur, er sagt auch einiges zu seiner Biographie in diesem Buch, und darum ein lesenswerter Text, wenn man sich auf dem Laufenden über die Entwicklungen der kommenden Jahre halten will.

Claus Leggewie: Bitte eine kurze Antwort auf eine komplizierte Frage: Wird denn Obama diese in ihn gesetzten Erwartungen, gerade in Bezug auf Umwelt und Klimapolitik, erfüllen können oder wird er dann doch am Ende sozusagen für Detroit kämpfen?

Michael Werz: Er muss beides tun. Detroit ist sozusagen der Kernbestand der Swing-States, die er gewonnen hat, die für seine Wiederwahl auch wichtig sein werden. Im Umweltbereich hat er sich trotzdem so exponiert während des Wahlkampfes, dass er dort versuchen wird, alle möglichen Initiativen auf den Weg zu bringen. Es gibt ja auch einige, die nicht so viel Geld kosten. Und es ist auch vollkommen klar, dass die amerikanische Wirtschaft nur bestehen kann in den nächsten 30, 40, 50 Jahren, wenn sie sich selbst neue Grundlagen schafft. Der erste Schritt dorthin ist - glaube ich - schon getan.

Claus Leggewie: Herr Rüb, Sie haben auch noch eine Buchempfehlung.

Matthias Rüb: Neben Barack Obamas Buch "Ein amerikanischer Traum" möchte ich auf Rick Warrens Buch hinweisen. Das heißt auf Deutsch: "Leben mit Visionen". Die amerikanische Originalfassung heißt "The Purpase Driven Life", also, das Leben, dass durch einen Sinnzweck vorangetrieben wird. Die amerikanischen Buchverleger, die Verlegervereinigung will herausgefunden haben, dass das das erfolgreichste, am meisten verkaufte Buch der Menschheitsgeschichte, der Buchdruckgeschichte ist, sieht man von der Bibel ab, zu der dieses Buch führen will. Das ist nämlich ein Buch, das in 40 Schritten dem Christenmenschen zeigt, wie er zu einem Leben voller christlichem Sinnzweck kommt.

Ich finde das Buch interessant, nicht nur, wenn man selbst gläubig ist, sondern als religionssoziologisches Phänomen. Wie kann ein Pastor, der eine Kirche - nicht in der Southside von Chicago, sondern im Süden von Los Angeles gegründet hat mit einigen Gemeindemitgliedern, gerade einer Handvoll, wie kann der innerhalb von 20 Jahren eine Kirche jetzt mit 20.000 Gemeindemitgliedern gründen? Er hat 400.000 Pastoren selbst unterrichtet in dieser neuen jungen evangelikalen aufgeklärten Glaubensrichtung. Und er es hat sogar dazu gebracht, dass der Präsident von Ruanda, Paul Kagame, diese Prinzipien, des Lebens mit Visionen sozusagen, auf sein Staatswesen, auf sein Gemeinwesen anwenden will.

Und diese kleine Gemeinde ist zu einer großen Kirche, Megakirche herangewachsen, die selbst missioniert, die also alles das tut, was große konfessionelle Organisationen machen, und das alles nur aus dieser Überzeugungskraft und aus dieser Vision dieses Pfarrers, der diese Kirche aufgebaut hat. Als religionssoziologisches Phänomen hochgradig interessant.

Claus Leggewie: Das führt auch noch mal zurück zu dem Buch, über das wir heute geredet haben: Matthias Rüb, "Gott regiert Amerika". Wir haben auch gesprochen über Christopher Marschall "Barack Obama". Ein anderer Gast war Michael Werz vom German Marshall Fund. Das war die Sendung "Lesart Spezial". Sie können alle unsere Buchtipps noch mal nachlesen auf den Webseiten erstens des Deutschlandradios, www.dradio.de, und der Seite des Kulturwissenschaftlichen Instituts, www.kulturwissenschaften.de. Mein Name ist Claus Leggewie, und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.