Die Stadt des Löwen

Von Kersten Knipp · 09.08.2005
Singapur - die "Stadt des Löwen". So lautet im Malayischen der Name des Stadtstaats. Trotz seiner überschaubaren Größe gilt er heute als eine der ökonomisch dynamischsten Volkswirtschaften. Das war nicht immer so: Nach der Trennung vom übermächtigen Nachbarn Malaysia am 9. August 1965 wurde der Stadtstaat souverän. Und viele Singapurer fürchteten um die Zukunft ihrer Insel. Die Trennung erwies sich allerdings als Beginn einer ungeheuren Erfolgsgeschichte.
Ehrgeizige Ziele verfolgte das Vereinigungsabkommen, das Malaysia und Singapur im September 1963 unterzeichnet hatten. Vier Jahre zuvor hatte Singapur von den britischen Kolonisten die vollständige innere Selbstverwaltung erhalten. Seitdem planten die beiden an der Straße von Malakka gelegenen Staaten, sich fortan in einer Union den Herausforderungen der Zeit zu stellen; insbesondere hofften sie, von dem Zusammenschluss ökonomisch zu profitieren. Malaysia spekulierte zudem darauf, größeren Einfluss auf die in Singapur damals sehr starke kommunistische Strömung zu gewinnen.

Ebenso sollte die Vereinigung die Dominanz der eingewanderten Chinesen mildern, die in Singapur 70 Prozent der Gesamtbevölkerung stellten – eine Zahl, die im überwiegend von gebürtigen Malayen bevölkerten Malaysia als außerordentlich beunruhigend empfunden wurde. Als es nach der Vereinigung, im Herbst 1964, in Singapur zu größeren Ausschreitungen zwischen den Bürgern chinesischer und nicht-chinesischer Herkunft kam, fürchtete Malaysia, die Unruhen könnten von der Insel auch aufs Festland überspringen.

So kam es auf malaysische Initiative hin am 9. August 1965 zum Bruch zwischen den beiden Staaten. Auf einer Pressekonferenz konnte Lee Kuan Juh, der damaliges Ministerpräsident Singapurs, seine Bestürzung über die Auflösung der Union kaum verbergen. Der Bruch mit Malaysia löste in Singapur erhebliche Besorgnis aus. Alle Zukunftshoffnungen, erinnert sich Johari Bin Datuk, ein früherer Minister des Stadtstaats, schienen mit einem Mal zusammenzubrechen.

"Für mich war das ein sehr bedrückender Augenblick. Wir dachten ernsthaft, ein unabhängiges Singapur müsse zusammenbrechen, sei wirtschaftlich und politisch nicht lebensfähig. Wir glaubten an das Ende, an das Aus für Singapur."

Doch es kam anders. Um unabhängig vom malaysischen Markt zu werden, setzten die Politiker auf ein forciertes Investitionsprogramm, das die eigene Produktionskapazität erhöhte. Zudem öffnete sich der Stadtstaat ausländischen Investoren und Handelspartnern weltweit. Ganz entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg, so der Ökonom Mashita Santu, war der Verzicht auf die großen Ideologien.

"Ich glaube, das wichtigste für Singapur war, dass die Regierenden sich niemals mit einem so genannten "-Ismus" eingelassen haben. Sie waren weder überzeugte Konservative oder feuerspeiende Sozialisten oder blütenweiße Liberale. Stattdessen, um doch vom "-Ismus" zu sprechen, standen Pragmatismus und Realismus im Vordergrund. Alles, was die Führung anpackte, musste kosteneffizient und machbar sein."

Tatsächlich ist der in Singapur gepflegte Politik-Stil effizient - auch darum, weil er sich um die Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Standards wenig Sorgen machte. Im Jahresbericht 2004 informiert Amnesty International, dass im Zeitraum von 2000 bis 2003 insgesamt 86 Todesurteile vollstreckt wurden. Gemessen an seiner Einwohnerzahl, so Amnesty, weise Singapur eine der weltweit höchsten Hinrichtungsraten auf. Auch die Meinungsfreiheit sieht die Menschenrechtsorganisation durch ein restriktives Gesetzeswerk stark eingeschränkt. Das verhinderte aber nicht, dass Singapur zu einem der aktivsten Handels- und Produktionsplätze der Welt wurde - und zu einem Schnäppchenmarkt für Touristen.

"Und: irgendwas gekauft? Ja, ein bisschen Whiskey, nicht. Ist das am billigsten? Hier in Singapur ist dieser Whiskey günstig."

Erforderlich war aber auch, die multiethnische Bevölkerung zu einer Nation zusammenzuschweißen. Denn nur auf diese Art, so der ehemalige Minister Dal Nabale, lässt sich das Leben in dem kleinen Staat überhaupt organisieren.

"Das muss über Toleranz hinausgehen, ob in religiösen oder in Rassenfragen. Toleranz bedeutet für mich die unterste Stufe der Koexistenz. Das muss auf eine Ebene gebracht werden, wo man einander versteht, wo man bereit ist, einander zunächst als Singapurianer zu erkennen - und nicht primär als Angehöriger einer anderen Rasse oder Religion."

Auffälligstes Merkmal dieses multikulturellen Gemischs ist die Vielsprachigkeit - die auch dem Englischen, einer der vier Amtssprachen des Stadtstaats, einen ganz eigenen Klang gegeben hat, den der Sänger Dick Lee zum Thema eines seiner Lieder gemacht hat.

In Singapur muss alles vom Besten sein, singt Dick Lee über das Anspruchsdenken seiner Mitbürger. Und schlecht steht Singapur nicht da: Die im Sommer 1997 ausgebrochene Asienkrise hat der Stadtstaat vergleichsweise glimpflich überstanden. Zwar hatte auch er Einbrüche bei Umsätzen und Gewinnen zu verzeichnen, musste aber weder dramatische Kapitalabflüsse noch Spekulations-Angriffe gegen den Singapur-Dollar verkraften. 40 Jahre nach der Trennung von Malaysia präsentiert sich Singapur als wirtschaftlich stabiler Staat, bereit den Sprung in eine Ära zu tun, die man schon bald wohl als die asiatische bezeichnen wird.