Die Russen kommen

Zweisprachiges Schild an der Grenze von Finnland und Russland in Lappeenranta.
Zweisprachiges Schild an der Grenze von Finnland und Russland in Lappeenranta. © picture alliance / dpa / Markku_Ulander
Von Michael Frantzen · 28.08.2012
Das Verhältnis zwischen Russland und Finnland war jahrzehntelang belastet. Inzwischen entdeckt die russische Bevölkerung den Nachbarn. Zum Beispiel in Lappeenranta im südöstlichen Zipfel Finnlands, wohin immer mehr Touristen aus dem Nachbarland reisen. Die Finnen sind begeistert.
Das Verhältnis zwischen Russland und Finnland war jahrzehntelang belastet. Inzwischen gehen nicht nur Politiker entspannter miteinander um. Auch die russische Bevölkerung entdeckt den Nachbarn. Zum Beispiel in Lappeenranta im südöstlichen Zipfel Finnlands, wohin immer mehr Touristen aus dem Nachbarland reisen.

Russische Töne in Finnland - in Lappeenranta am Ufer des stillen Saimaa-Sees ganz im Osten des Landes, in Karelien, nichts Ungewöhnliches. Schon gar nicht in der Touristeninformation am Ende der Fußgängerzone. Im Erdgeschoss eines unscheinbaren 60er Jahre Hauses bekommt man neben Aufklebern mit dem Motiv des Stadtwappens, einem Keule schwingenden bärtigen Urmenschen, auch zweisprachige blaue Parkscheiben. Kiirsti Rautio, die Chefin hier, nimmt eine Scheibe aus dem Regal. Ganz einfach - das Prinzip, meint die Frau mit den funkelnden Augen und den kleinen Lachfalten: Vorne Finnisch, hinten Russisch:
"Lappeenranta unterscheidet sich von anderen finnischen Städten schon allein dadurch, weil wir direkt an der russischen Grenze liegen. Das sind keine 15 Kilometer. Wir haben vier Grenzstationen. Letztes Jahr haben unsere Stadt gut 1,2 Millionen Russen besucht - die meisten davon Tages-Ausflügler, die bei uns zollfrei einkaufen können. Das waren 200.000 mehr als 2010 - und zehn Mal so viele wie noch zehn Jahren. Sie spüren den russischen Einfluss einfach überall."

Rautio schaut auf ihre Chrom-Armbahnuhr: Zehn vor eins! Dann müsste Ala, ihre russische Kollegin, gleich von der Mittagspause zurück kommen. Normalerweise sorgt die Leiterin der Tourismusbehörde, die neben Finnisch fließend Russisch spricht, von ihrem ganz in weiß gehaltenen Büro aus dafür, die selbsternannte "internationale Universitätsstadt" ins rechte Licht zu rücken: Viele Telefonate, Besprechungen mit den Kollegen der städtischen Entwicklungsfirma, Organisatorisches. Sie hebt die Hände: Ganz schön viel Bürokratie! Deshalb freut sie sich auch immer darauf, einmal am Tag Ala oder die zwei anderen Kolleginnen in deren Mittagspause zu vertreten, um Touristen zu beraten:

"Lassen sie es mich so sagen: Die russischen Touristen sind ziemlich anspruchsvoll. Sie wissen ganz genau, was sie wollen. Das Preis-Leistungs-Verhältnis muss stimmen - besonders beim Einkaufen. Wenn sie im Restaurant sind, erwarten sie perfekten Service. Sie genießen es einfach, gut bedient zu werden. Daran mussten sich einige in Lappeenranta erst einmal gewöhnen, die Finnen sind ja eher zurückhaltend. Deshalb hat die Stadt auch in Zusammenarbeit mit unserer Tourismus-Behörde mehrmals Kurse durchgeführt, um Kellnern oder Verkäuferinnen beizubringen, wie sie am besten mit russischen Kunden umgehen; damit die zufrieden sind. Wir arbeiten da noch dran."

Kurz nach eins! Wachablösung! Kiirsti Rautio läuft die paar Schritte vom Service-Bereich der Touristeninformation zu ihrem Büro weiter hinten, um sich an ihren Schreibtisch zu setzen. Hier, meint sie strahlend - und wedelt mit einem DIN A4 Blatt. Die neusten Zahlen für das erste Quartal 2012: Gleich um fünfzig Prozent ist die Zahl der russischen Übernachtungs-Gäste gestiegen. Eine weitere Erfolgsmeldung - genau wie die, dass die russischen Touristen letztes Jahr über 300 Millionen Euro in Lappeenranta ausgegeben haben - so viel wie noch nie.

In der 72.000-Einwohnerstadt mit ihren endlosen Uferpromenaden und der alten Festung wollen möglichst viele etwas abbekommen vom "russischen Kuchen". Vor dem "Apple-Computer"-Laden direkt neben der Touristeninformation stauen sich schon mal dunkelfarbige Geländewagen mit russischen Kennzeichen im Halteverbot. Weiter oben, im "Opri-Einkaufszentrum", einem hässlichen grauen Kasten, preisen eine Apotheke, diverse Bekleidungsgeschäfte und der Döner-Laden gleichermaßen im Schaufenster ihre Produkte auf Russisch an.

Kein Vergleich zu früher, als vor den staatlichen Alkoholläden auf Hinweisschildern die russische Kundschaft angehalten wurde, nur einzeln einzutreten. Zu Sowjetzeiten kamen die Russen hauptsächlich wegen des Wodkas - speziell ab Mitte der 80er, nachdem Staatschef Michail Gorbatschow per Dekret Alkohol verboten hatte. Heute lohnt sich das nicht mehr: Finnischer Wodka ist teuer geworden und trinken kann man jetzt auch wieder in Moskau oder Sankt Petersburg.

Auf russische Klientel setzt auch das traditionsreiche "Spa-Hotel" direkt am See. 1824 wurde es gegründet - zu einer Zeit, als Finnland Teil des russischen Zaren-Reiches war. Zar Alexander der Dritte erholte sich hier von den Strapazen des Regierens. Kostenlos, versteht sich. Heute müssen die Russen zahlen. Gut 160 Euro kostet das Doppelzimmer mit Balkon. Aleksandra Volschakowa hat gleich zwei gebucht. Die Ärztin vom Universitätskrankenhaus in Sankt Petersburg ist mit ihrer anderthalb Jahre alten Tochter Natalia und den Eltern unterwegs. Die machen gerade Mittagsschlaf, während sich die 44-Jährige mit Natalia im Whirlpool entspannt:

"Wir sind gestern angekommen. Wir waren schon häufiger hier. Von Sankt Petersburg sind es ja nur etwas mehr als zweihundert Kilometer. Wir wollten einfach mal für ein paar Tage raus aus der Stadt: Entspannen; ein bisschen Wellness; ein bisschen Shopping. Das Hotel ist genau das richtige: Es ist ruhig und nicht so überlaufen - anders als vergleichbare Hotels in Sankt Petersburg. Und ich fühle mich sicher. Zu Hause würde ich mir ständig Gedanken um meine Kleine machen; wegen des mörderischen Verkehrs und der herumlaufenden Hunde. Hier kann ich Natalia einfach laufen lassen. Zumal das Personal wirklich ausgesprochen freundlich und hilfsbereit ist."

Noch etwas weiß Aleksandra Volschakowa zu schätzen: Alle Bereiche des Hotels sind behindertengerecht. Igor, ihr 83-jähriger Vater, ist nicht mehr so gut auf den Beinen. Wie die meisten russischen Männer seiner Generation verteidigte er die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Wo genau er kämpfte - an der Heimatfront, in Deutschland oder vielleicht sogar in Finnland - seine Tochter verzieht das Gesicht. Man solle die Vergangenheit in Ruhe lassen - und den alten Herrn gleichermaßen. Kontert die Frau mit dem schwarzen Haar, das unter ihrer himmelblauen Badekappe hervorlugt, bevor sie auf die andere Seite des Whirlpools krault.

Auch die meisten Finnen reden nur ungern über die Zeit, als sich Finnen und Sowjets bekämpften: Von 1939-1940 im "Winterkrieg", 1944 im sogenannten "Fortsetzungskrieg". Schätzungsweise 130.000 Menschen verloren auf sowjetischer Seite ihr Leben, auf finnischer 70.000. Als Kriegsverlierer musste Finnland nicht nur Milliarden schwere Reparationen zahlen, sondern auch ein Zehntel seines Territoriums an die Sowjetunion abgeben - darunter einen Großteil Kareliens. Das alles ist fast 70 Jahre her, doch die Wunden sind immer noch nicht ganz verheilt. Letzteres musste auch Saila Alander feststellen, die zurückhaltende Geschäftsführerin des "Spa Hotels":

"Als vor gut zehn Jahren die ersten russischen Gäste auftauchten, hatten wir anfangs ein paar Probleme: In unserem Hotel verbringen ja auch alte finnische Kriegsveteranen einmal im Jahr ihre Kur. Die waren nicht gerade begeistert von den Russen; den alten Kriegsfeinden. Viele Veteranen kommen schon seit Jahrzehnten zu uns, immer zur gleichen Zeit, um sich bei uns zu erholen - und mit anderen Veteranen über den Krieg zu reden: Über die toten Freunde und Brüder, das ganze Elend. Da steckten wir anfangs in einem Dilemma. Aber wir haben das Problem gelöst: Wir quartieren die Veteranen jetzt im Herbst und Winter bei uns ein. Im Sommer, wenn die russischen Gäste da sind, ruht unser staatlich geförderter Kurbetrieb."

Es sich mit den russischen Gästen verscherzen will kaum jemand in Lappeenranta. Schon gar nicht Marcus Lankinen, der Geschäftsführer der städtischen Entwicklungsfirma "WIRMA". Dass die Uhren hier anders ticken als im Rest Finnlands, muss man dem Sohn eines finnischen Vaters und einer deutschen Mutter nicht zwei Mal sagen:

"Als ich selber 2001 mit meiner Familie nach Lappeenranta zog, war ich es nicht gewohnt, dass man zum Beispiel in örtlichen OBI oder Bauhaus-Baumärkten vergoldete Wasserhähne im Sortiment findet. Oder was speziell für russische Kunden anspruchsvoll ist: So dunkle barockartige Möbel."

Rund 30 Angestellte arbeiten für die kommunale Entwicklungsfirma, die in einem verglasten Hochhaus vis-a-vis des monumentalen Kriegerdenkmals untergekommen ist. Letztes Jahr, erzählt Lankinen, ein ruhiger Mann in Poloshirt, hätten sie über 600 potenziellen Firmen-Gründern auf die Sprünge geholfen - darunter 90 russischen. In Sankt Petersburg unterhält WIRMA eine Filiale mit vier Mitarbeitern. Aus gutem Grund: Russland hat Deutschland als wichtigsten finnischen Handelspartner abgelöst. 14,1 Prozent des Außenhandels wurden 2011 mit dem östlichen Nachbarn abgewickelt. Metall- und Elektro-Produkte, Holz, Konsumgüter wie Milch oder Schokolade - finnische Produkte sind gefragter denn je in Moskau und Sankt Petersburg:

"Heutzutage sind Konsumentenmärkte aufgeschlossen. Und wir haben in Lappeenranta Investitionen zum Beispiel in der Pharma-Industrie von Russen gesehen, Metallbau, Elektrotechnische Industrie. Solche Industrien haben sich vorher bei uns nicht angesiedelt. Heutzutage haben wir aktive, Arbeitsplätze schaffende Investoren aus Russland hier in unserem Gebiet, die nicht unbedingt einen europäischen Markt anstreben, sondern das wieder auf russischer Seite re-importieren möchten. Mit dem Quality-Label: 'Made in Finland'."

Dass "Made in Finland" in Russland einen exzellenten Ruf genießt, hat auch mit der russisch-finnischen Nachkriegs-Geschichte zu tun - genauer gesagt der sowjetisch-finnischen. Im Kalten Krieg bezog die Sowjetunion finnische Industriemaschinen und Fahrzeuge, die Finnen im Gegenzug Rohstoffe und Energie. Noch in den 80ern machte der "Osthandel" ein Viertel der finnischen Exporte aus. Umso tiefer der Sturz, als die Sowjetunion Anfang der 90er kollabierte: Innerhalb von vier Jahren schoss die Arbeitslosigkeit in Finnland von gut 3,5 Prozent 1990 auf mehr als 18 Prozent 1994.

Marcus Lankinen kann sich noch gut an die Zeit damals erinnern; an die "bleiernen Jahre". Und wie Staat und Wirtschaft nach einer wahren Rosskur zurück auf die Erfolgsspur fanden - nicht zuletzt dank massiver Investitionen in Bildung und Hochtechnologie.

Russland war abgeschrieben. Das änderte sich erst in den 2000ern mit dem russischen Rohstoffboom. Jetzt war wieder Geld da - nicht nur beim russischen Staat und den Oligarchen, sondern auch bei einer wachsenden Mittelschicht. Die konsumieren und reisen wollte. In Russland spielt die Musik: So sieht das Marcus Lankinen heute - nicht nur beruflich, sondern auch privat:

"Alle meine Kinder gehen auf eine russischsprachige Schule. Die praktisch Russisch aktiv lernen ab dem Vorschulalter. Bis hin dann zum Abitur. Man braucht in der Region Lappeenranta sicherlich in Zukunft gute Russisch-Kenntnisse. Wie auch in unserer Entwicklungsfirma "WIRMA": Wenn wir zum Beispiel Personal für unseren Tourismus-Service oder unsere Wirtschafts-Beratungsfunktionen einstellen: Wir legen sehr großen Wert auf Russisch-Kenntnisse."

Russisch sprechen sie auch bei "Lindblad und Co", der renommierten Anwalts-Kanzlei direkt am Marktplatz, wo früh morgens die russischen Busse halten, um die sogenannten "Kilo-Mädchen" abzusetzen. Die, erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand, würden von professionellen Händlern engagiert, um maximal fünfzig Kilo Ware pro Kopf zollfrei nach Russland einzuführen. Hat aber nachgelassen, meint Alla Sipanova leicht abschätzig. Von ihrem Büro kann die russisch-stämmige Rechts-Expertin das Geschehen unten verfolgen. Doch dafür hat die Frau mit den platinblonden, sorgsam ondulierten Locken und dem schwarzen Minirock meist keinen Blick:

"Ich habe wirklich viel zu tun. Der letzte russische Klient hat gerade vor einer Stunde angerufen: Ein Bau-Unternehmer aus Sankt Petersburg. Er will am Saimaa-See eine luxuriöse Ferienhaus-Siedlung bauen. Für russische Geschäftsleute wie ihn haben wir eine Art All Inclusive Paket zusammengestellt: Wir helfen ihnen bei allen Behörden-Angelegenheiten: Den Zulassungen; der Kontaktaufnahme mit den zuständigen staatlichen Stellen; wenn sie eine Firma in Finnland gründen wollen, bieten wir ihnen an, dass ein finnisches Mitglied unserer Kanzlei Mitglied der Geschäftsführung wird. Das Unternehmen kann so erfahrungsgemäß viel schneller an den Start gehen."

Sipanova zupft an ihrem weißen Blazer, der perfekt auf ihre weiße Strumpfhose abgestimmt ist. Muss schließlich alles seine Ordnung haben - im Lindblad-Kosmos. Ihre russischen Kunden würden perfekten Service erwarten, meint die Frau aus Moskau, die seit gut 15 Jahren in der finnischen Universitätsstadt lebt:

"Der Bau-Unternehmer, mit dem ich vorhin telefoniert habe, überlegt sogar, nach Lappeenranta zu ziehen. Er hat Kinder und macht sich Sorgen um ihre Sicherheit. Ich kann das nachvollziehen. Ich habe selbst eine Tochter. Wir fahren natürlich ab und zu nach Sankt Petersburg. Die Stadt ist toll: Die Museen, die Theater. Andererseits ist Sankt Petersburg auch ein einziger Moloch. Das ist in Lappeenranta anders: Hier kann man sich hundertprozentig sicher fühlen."

40 Prozent der 4.8 Millionen Bewohner Sankt Petersburgs besitzen einen internationalen Pass, der es ihnen ermöglicht, ins Ausland zu reisen. So das Ergebnis einer aktuellen Studie, die am Ufer des Saimaa-Sees die Runde macht - und für gute Laune sorgt. Laut Studie passieren besagte 40 Prozent nämlich nicht mehr nur einmal im Jahr die Grenze nach Finnland wie früher, sondern mindestens drei bis vier Mal. Der Rubel - er rollt, in Lappeenranta, der russischsten Stadt Finnlands.
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