Die religiöse Wende des alten Philosophen

23.09.2009
Max Horkheimer ist zusammen mit Theodor W. Adorno berühmt geworden als Vater und Vordenker der "Kritischen Theorie" der Frankfurter Schule. 1970 gab Horkheimer in einem Spiegel eine gewisse Hinwendung zum Religiösen zu und löste damit eine breite Debatte aus. Pascal Eitler erhellt ein unbekanntes Stück Zeitgeschichte.
Religion und Politik -- seit dem Terror des 11. September 2001 hat diese Kombination neue Aktualität gewonnen, aber immer unter negativem Vorzeichen: die Angst geht vor religiösem Fundamentalismus, hauptsächlich vor muslimischem, aber auch vor christlichem. Dabei ist diese Debatte nicht neu, sie muss nicht mit Terror verknüpft sein, und sie kann neue Möglichkeiten bieten für das Verständnis von Religion wie von Politik.

Dies alles will Pascal Eitler zeigen in seiner Untersuchung eines Vorgangs, der auf den ersten Blick nur eine intellektuelle Debatte auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung Anfang der 70er Jahre in der Bundesrepublik war.

Max Horkheimer war zusammen mit Theodor W. Adorno die Leitfigur der sogenannten Frankfurter Schule. Gemeinsam entwickelten sie die Kritische Theorie. Sie sollte ein skeptisches Gegenstück sein zu einem rein optimistischen Vertrauen auf die Vernunft. Auch eine vernunftbestimmte Welt, so die Kritische Theorie, wird keine Welt, in der das Individuum wirklich in Freiheit leben kann.

Horkheimers Denken war deutlich vom Marxismus beeinflusst, auch wenn er sich unter dem Eindruck von Stalinismus und Maoismus seit den 50ern allmählich davon löste. Trotzdem wurde die Philosophie der Frankfurter Schule zu einem Leitbild der Studentenbewegung.

Umso größer der Schock, als Horkheimer 1970, im Vorfeld seines 75. Geburtstags, dem "Spiegel" ein Interview gab unter der Überschrift "Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen". Gott sei für ihn zwar kein Grund der Hoffnung, sagt Horkheimer, aber, immerhin, einer der Sehnsucht.

Man kann sich heute kaum vorstellen, welch erhitzte Debatte auf das Interview folgte. Von einer "Bekehrung" Horkheimers sprachen die einen, andere nannten es Verrat an der kritischen Philosophie der Frankfurter Schule.

Pascal Eitler wertet sowohl Horkheimers Schriften als auch die Debatte um dessen sogenannte religiöse Wende aus. Dabei entsteht ein überaus interessantes zeitgeschichtliches Dokument -- zeigt es doch nicht nur einen Philosophen, der sich zwar nicht persönlich bekehrt, dafür in seinem Denken langsam, aber konsequent von einem ausgesprochen politischen Sprachgebrauch in einen religiösen überwechselt. Statt von Hoffnung, Revolution, Veränderung, Praxis, Gerechtigkeit und Gesellschaft redet Horkheimer von Sehnsucht, Reform, Erinnerung, Theorie, Freiheit und Individuum -- und alles dies sei eben Grundlage von Religion, speziell: des Christentums.

Eitler zeigt auch, wie schwierig schon Ende der 60er, Anfang der 70er-Jahre das Verhältnis von Politik und Religion war. Dabei greift es eben viel zu kurz, einfach nur den Kopf über die religiösen Verirrungen eines alten Philosophen zu schütteln, wie es weite Teile der Studentenbewegung taten, und andererseits knapp einen Bedeutungsverlust der Kirche festzustellen, wie das noch heute viele zeitgeschichtliche Untersuchungen tun.

Genau in der Auseinandersetzung und Durchmischung von politischer Theologie, Studentenbewegung und kritischer Philosophie entwickelten sich neue Formen des Religiösen -- fern der Kirchen, schwieriger zu fassen, ohne feste Lehre, aber trotzdem eben religiös.

Eitler schreibt so nicht nur ein bislang weitgehend unbekanntes Stück Zeitgeschichte. Er widerlegt auch am lebendig erzählten Beispiel die sogenannte Säkularisierungsthese, die von einem wachsenden Bedeutungsverlust der Religion spätestens seit der Nachkriegszeit spricht, eigentlich aber nur die offiziellen christlichen Kirchen meint. Davon können auch Kirchengeschichtler viel lernen, die viel zu oft den Blick nur auf die religiösen Institutionen richten und verpassen, wie viel Religion auch in öffentlichen Debatten wie der um Horkheimer und seine angebliche Konversion geschieht.

Kein einfaches Buch, aber auf jeden Fall ein frischer Blick auf die 68er und ihre Konsequenzen.

Besprochen von Kirsten Dietrich

Pascal Eitler: "Gott ist tot - Gott ist rot" - Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968
Historische Politikforschung Bd. 17
Campus Verlag, Frankfurt / New York 2009
400 Seiten. 39,90 Euro