Die Partei als Kirche

Von Rolf Schneider · 11.02.2013
Der Anblick von Stalin weckt bis heute schreckliche Erinnerungen. Trotzdem wird der Diktator von vielen Menschen in Russland abgöttisch verehrt. Aber auch in anderen Ländern hat der Kommunismus ein regelrecht religiöses Erbe hinterlassen, meint der Schriftsteller Rolf Schneider.
Der Thüringer Journalist Sergej Lochthofen hat 2012 ein Buch über seinen Vater veröffentlicht. Der, deutscher Kommunist, ging frühzeitig nach Sowjetrussland, machte dort zunächst Karriere und wurde dann Opfer der stalinistischen Säuberungen. Fast zwei Jahrzehnte verbrachte er im sibirischen Gulag. Nach Stalins Tod kam er frei und kehrte zurück nach Deutschland, freilich nicht in seine rheinländische Heimat, sondern in die DDR, wo er sich aus Überzeugung der SED anschloss.

Lochthofens Buch ist bereits das zweite, das innerhalb kurzer Zeit eine derartige Lebensgeschichte erzählt. Im Jahr davor beschrieb Eugen Ruge das fast identische Schicksal seines Vaters. In beiden Fällen handelte es sich nicht um Sonderfälle, sondern um Massenschicksale, und es waren nicht nur emigrierte Deutsche, die zu Opfern des stalinistischen Terrors wurden und hernach jener politischen Kraft, die ihnen schweres Unrecht zugefügt hatte, unverdrossen die Treue hielten.

Nehmen wir den Philosophen Georg Lukács. Als Emigrant in Moskau saß er im berüchtigten Geheimdienstgefängnis Lubjanka. Seinen Stiefsohn, der bei ihm gelebt hatte, verschlug es in ein sibirisches Lager. Lukács blieb engagierter Kommunist bis zu seinem Tode.

Eine der schlimmsten stalinistischen Verfolgungswellen erfolgte in der damaligen Tschechoslowakei. Viele Opfer wurden hingerichtet, andere kamen mit langjährigen Freiheitsstrafen davon. Ein nicht unbeträchtlicher Teil von ihnen trat nach der Freilassung der Kommunistischen Partei wieder bei, um ihr weiterhin zu dienen.

Ihr aller Verhalten erscheint bizarr. Es findet Parallelen in den Moskauer Schauprozessen der 30er-Jahre, als ehemalige kommunistische Führer sich öffentlich zu Verbrechen bekannten, die sie niemals begangen hatten und für die sie anschließend hingerichtet wurden. Man hat nach Erklärungen gesucht. Mit Sicherheit war Gehirnwäsche im Spiel, vielleicht auch Täuschung, vielleicht auch Folter; Arthur Koestler schreibt darüber in seinem Roman "Sonnenfinsternis".

Kommunisten fordern widerspruchslosen Gehorsam
Von Georg Lukács stammt der Ausspruch, selbst der schlechteste Sozialismus sei immer noch besser als der beste Kapitalismus. Der Maßstab, mit dem hier gemessen wird, ist grotesk. Möchte man ernsthaft, um in unserer Gegenwart zu bleiben, das hungernde Nordkorea über einen Staat wie Schweden oder Österreich stellen? Wie kann ein kluger Mann mit einschlägiger Leidensgeschichte zu einem derartigen Urteil gelangen?

Die Leninisten nannte ihre organisierte Anhängerschaft eine "Partei neuen Typus". Sie wollten damit die fundamentalen Unterschiede zu anderen politischen Gruppierungen hervorheben, und die gab es in der Tat. Liberale, Konservative, Sozialdemokraten vertreten Haltungen und Programme, zu denen sie sich auch kontrovers äußern können. Kommunisten fordern widerspruchslosen Gehorsam. Der Inhalt ihrer Überzeugungen wie das Verhalten der Anhänger finden Parallelen nicht so sehr im Raum der Politik als in jenem der Religion.

Kommunistische Parteien ähneln Kirchen. Ihre Führung beanspruchte päpstliche Unfehlbarkeit. Ihre programmatischen Ziele sind Verheißungen jenseits der Realität. Wer von ihnen abfällt, wird als Ketzer verfolgt und bestraft. Es gibt Heiligtümer und parareligiöse Rituale, es gibt Märtyrer, verursacht auch durch Irrtümer der eigenen Seite. Die Sache selbst erfährt dadurch keine Einbuße: Jede Kirche hat ihren Giordano Bruno. Zum religiösen Martyrium gehört, dass der Märtyrer mit sich selbst und der Idee, für die er leidet, zutiefst einverstanden bleibt.

Die kommunistischen Staaten Europas sind verschwunden. Insofern scheint das Phänomen, von dem hier die Rede ist, zeitlich weit entfernt, doch dies ist eine Täuschung. Betrachten wir die Volksrepublik China. Deren Führungspersonal ging zu großen Teilen durch die Hölle der Kulturrevolution, die ähnliche Prämissen und ähnliche Praktiken aufwies wie Stalins Terror. Die Handlungen dieser Personen berühren auch unsere Gegenwart, und es wäre kurzsichtig, ihren Werdegang zu ignorieren.

Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Seine politischen und künstlerischen Lebenserinnerungen fasst er in dem Buch "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland" (2013) zusammen.


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