"Die paradoxe Republik"

Rezensiert von Rolf Schneider · 06.01.2006
2005 bescherte Österreich mehrere Jubiläen: 60 Jahre Kriegsende und Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre Zugehörigkeit zur EU. Der Wiener Hochschullehrer Oliver Rathkolb legte eine Bestandsaufnahme zur Geschichte des Nachbarlandes vor.
In der Rangliste der reichsten europäischen Staaten ist die Bundesrepublik Deutschland auf den zehnten Platz abgestiegen, ihr südlicher Nachbar, die Republik Österreich, hält Platz drei. Österreichische Investoren kaufen sich in insolvente bundesdeutsche Großunternehmen ein. Österreichs Arbeitslosigkeit liegt nur knapp oberhalb der Vollbeschäftigungsmarge. Auch beim PISA-Vergleich schnitt man besser ab als die Deutschen. Die kleine Alpenrepublik scheint derzeit von Erfolgen verwöhnt.

Das Jahr 2005 bescherte dem Land gleich mehrere runde Jubiläen: 60 Jahre Kriegsende und Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre Zugehörigkeit zur EU. Bereits im Januar wurde das alles durch die politische Klasse aufwändig eingeläutet. Im Mai versammelte das Obere Belvedere in Wien, einst Schloss des Prinzen Eugen, hohe Vertreter jener vier ausländischen Mächte, die 1955 den Vertrag zum Ende der militärischen Besatzung Österreichs unterzeichneten.

Zu den zahlreichen Veranstaltungen, Expositionen, Events und Publikationen, die das Jubeljahr flankierten, gehört das Buch "Die paradoxe Republik". Verfasser Oliver Rathkolb ist Wiener Hochschullehrer und wurde im Jahr des Staatsvertrags geboren. Sein Text versucht eine Art Bestandsaufnahme von 60 Jahren Zweiter Republik, nicht in Gestalt einer fortlaufenden Geschichtsschreibung, sondern in mehreren thematischen Längsschnitten. Dies rückt etliche zentrale Phänomene des Landes ins Blickfeld und bietet vielerlei Information.

"Nicht die bereits obligatorische negative Staatsdichtung wird zum Brennpunkt, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit den Gründungs- und Wiederaufbaumythen der Zweiten Republik, die auch zum Widerspruch und zum Nachdenken anregen soll. Keine Vaterlandskunde, wohl aber eine aufgeschlossene und offene Bewertung der Leistungen wie der Irrwege der zweiten Republik [...] Dabei steht immer auch der internationale Bezug im Zentrum der Interpretation: Österreich, das sich als Nation viel zu lange als Insel gefühlt hat, ist schon lange keine Insel mehr, eher in manchen Bereichen ein Atlantis, auf dessen Spuren und Artefakte der Autor aufmerksam machen wird."

Internationaler Bezug, aus deutscher Sicht heißt das erst einmal: Österreich hatte es besser. Dort zogen die Sowjets ihre Truppen bereits 1955 ab, aus Deutschland erst 1990. Die durch den Staatsvertrag aufgetragene Neutralität machte das Land zu einer Drehscheibe der Ost-West-Kommunikation, der wirtschaftlichen wie der politischen, der geheimdienstlichen natürlich auch. Vom Warenaustausch profitierte es jedenfalls enorm und mit der Folge, dass heute, nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs, ausgezeichnete Handelsbeziehungen in die vormals sozialistischen Länder bestehen.

Nun unterstanden die bis 1918 großenteils einer österreichischen Administration, was die heutigen Verbindungen zusätzlich stärkt. Der Verlust jener Gebiete nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete einen mehr als schmerzlichen Einschnitt; verglichen damit nahmen sich die Einbußen Deutschlands durch die Auflagen des Versailler Vertrag fast marginal aus. Die alte österreichisch-ungarische Doppelmonarchie war hinsichtlich Landausdehnung die zweite europäische Großmacht nach dem zaristischen Russland. Sie regierte von Oberitalien über den halben Balkan bis nach Böhmen und Galizien. Der Verzicht auf all dies hinterließ einen wirtschaftlich schwachen und politisch unstabilen Kleinstaat, voll der verzehrenden Sehnsucht nach dem Kaiser Franz Josef, der die verlorene Großmächtigkeit symbolisierte, obschon eben er es war, der sie verspielt hatte.

Erlösung aus dem politisch-ökonomischen Elend verhieß der Anschluss an Deutschland. Alle politischen Parteien von rechts bis links schrieben ihn in ihre Programme. Der Buchstabe des Friedensvertrags von St. Germain untersagte ihn freilich, und so schleppte man sich von einer innenpolitischen Krise zur nächsten, bis man sich in einer Diktatur wieder fand. Sie war klerikal-faschistisch, als Vorbild diente das Italien Benito Mussolinis.

Die Führer, Dollfuß und Schuschnigg, wollten ihre Herrschaft gegen den radikaleren und mächtigeren Faschismus des nördlichen Nachbarn verteidigen und unterlagen. Mit Hitlers Einmarsch wurde der kollektive Anschlusswunsch zugleich erfüllt und verdorben. Als es in die gemeinsame Niederlage ging, als Bomben auf Wiener Neustadt fielen und Russen das schöne Wien zerschossen, war es mit der deutsch-österreichischen Gemeinsamkeit für alle Zukunft dahin. Die Neugründung der Republik bedeutete den Beginn einer inzwischen irreversiblen österreichischen Nation.

Rathkolb: "Schon vor der Volksabstimmung über einen EU-Beitritt Österreichs dokumentierten Meinungsumfragen für Österreicher und Österreicherinnen einen extrem ausgebildeten Nationalstolz, der im internationalen Vergleich nur durch den der US-Bevölkerung übertroffen wird."

Die Westdeutschen hatten ihr Wirtschaftswunder, das sehr viel früher einsetzte als das österreichische, unter anderem durch ein gründliches Verdrängen ihrer braunen Vergangenheit erreicht. Ähnliche Verdrängungsmechanismen kannten ihre südlichen Nachbarn. Mit der sachlich nicht unrichtigen, doch moralisch verlogenen Begründung, man sei das überhaupt erste Opfer der Hitlerschen Aggressionen, schlich man sich aus der großdeutschen Verantwortung. Das Geburtsland von Adolf Eichmann, Ernst Kaltenbrunner und, nota bene, Adolf Hitler, das Land des Konzentrationslagers Mauthausen und eines besonders wütenden Antisemitismus verfuhr mit seinen braunen Tätern noch erheblich nachsichtiger als die Bundesrepublik, mochten Heimkehrer wie Friedrich Torberg oder Kabarettisten wie Helmut Qualtinger noch so sehr granteln. Was sich für Westdeutschland in der Studentenrevolte entlud, geschah in Österreich etwas später und viel weniger radikal, dabei in manchmal bizarrer Gestalt. Etwa, wenn Kurt Waldheim, vordem gut gelittener Außenminister und erfolgreicher UN-Generalsekretär, plötzlich alle Last der österreichischen Nazi-Verstrickungen schultern musste. Dabei war er nichts als ein verdruckster Mitläufer gewesen.

Noch verstörender ist, dass über dem braunen Faschismus, dessen Miserabilität inzwischen fest steht, der schwarze Faschismus nicht bedacht wird. Die Regierungspartei ÖVP des gegenwärtigen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel ist direkte Nachfolgerin der Christlichsozialen Partei vor 1938, die in den Februarunruhen von 1934 die Arbeiterschaft niederkartätschen ließ, Sozialisten ins Gefängnis sperrte und den klerikal-faschistischen Ständestaat ausrief. Ein Angehöriger dieser Partei war der vormalige Wiener Bürgermeister Ernst Lueger, hochbegabter Demagoge und radikaler Antisemit. Adolf Hitler hatte ihn zu seinem ausdrücklichen Vorbild erkoren. Nach ihm heißen heute in Wien Gebäude und Plätze. Die Kanzler Dollfuß und Schuschnigg hängen weiterhin in der Ahnengalerie des österreichischen Parlaments. Fragt man österreichische Intellektuelle nach diesem Abschnitt ihrer Nationalgeschichte, zucken sie hilflos mit den Schultern. Auch Rathkolb widmet sich diesem eher trüben Kapitel nur nebenher.

Ebenso wird die Wirtschaftsentwicklung Österreichs von Rathkolb nicht betrachtet; sie führte von den Miserabilitäten der Zwischenkriegsära und den schweren Anfängen im Zeichen des Zweiten Nachkriegs über allerlei Krisen und Skandale der verstaatlichten Industrie bis hin zu erfolgreicher Privatisierung, grenzenübergreifender Expansion und heutiger Hochkonjunktur. Dafür wendet sich der Autor ausführlich dem teils katholisch-patriarchalisch, teils austromarxistisch gestimmten Sozialstaat zu und besieht dessen Grundsätze, Maßnahmen und Veränderungen. Auch die sich ständig wandelnden Sozialstrukturen erhalten ausführlichen Raum.

Die Kulturentwicklung nach 1945 erfährt eine erhellende Darstellung. Leider bricht sie zeitlich früh ab, bereits in den 50er Jahren. Wichtige Kanzlergestalten werden porträtiert und bewertet, voran Bruno Kreisky, dann aber auch dessen sozialistische Nachfolger. Eine ähnliche Analyse der ÖVP-Regierungschefs zwischen Julius Raab und Josef Klaus gibt es nicht. Österreich hat eine ziemlich provinzielle Presselandschaft, was eingehend beschrieben wird. Die Aufregungen um den rechtslastigen Jörg Haider sind nachzulesen; zeitweilig eine politische Gefahr, wurde er inzwischen durch die Konkurrenz und durch sich selber völlig demontiert.

Die österreichische Volksseele neigt zu Larmoyanz und Misstrauen, was ein demokratischer Vorzug ist, da die Politik davon immer mit betroffen wird, doch ebenso gibt es einen verbreiteten Hang zu Opportunismus und Schmiergeschäften, beschwichtigt mit Lächeln und Heurigenwein. Der österreichische Kult um Volkstum und Volkskultur ist rundweg reaktionär, was auch für bestimmende Teile des geistigen Lebens zutrifft, voran für den Universitätsbetrieb, der lange im Zeichen eines versteinerten Konservatismus stand. Hier hat sich inzwischen einiges geändert. Der aufgeklärt linksliberale Standpunkt des Hochschullehrers Oliver Rathkolb ist dafür ein Beispiel.


Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik
Österreich 1945 bis 2005
Zsolnay Verlag, Wien, 2005
464 Seiten
25,90 Euro