"Die Natur der Frau ist es, schön zu sein"

Moderation: Matthias Hanselmann · 27.09.2013
In Mauretanien gebe es gar keine Diskussion, ob eine Frau dick oder dünn sei, "sie ist schön", erklärt die TV-Moderatorin Tine Wittler. Ihr ist aber auch der aussterbende Brauch der "Gavage", also der Mästung von jungen Mädchen, noch begegnet.
Matthias Hanselmann: Tine Wittler ist jetzt für uns in einem Studio des WDR. Hallo!

Tine Wittler: Hallo aus Köln!

Hanselmann: Zunächst mal klären wir mal sozusagen das Vokabular: Welche Vokabel würden Sie denn nehmen, um Ihren Körper zu beschreiben?

Wittler: Also ich sage eigentlich immer, ich bin schlichtweg ein bisschen mehr als andere.

Hanselmann: Vollschlank?

Wittler: Nein, ich bin einfach mehr.

Hanselmann: Mehr als andere, oder würden Sie auch "rund" akzeptieren?

Wittler: Ich akzeptiere letztendlich jede Beschreibung, so lange sie nicht als Beleidigung gemeint ist, aber da sind die Nuancen oft sehr, sehr fein in unserer Gesellschaft.

Hanselmann: Der Ton macht die Musik, genau. Was hat Sie denn überhaupt dazu veranlasst, diese Reise nach Mauretanien zu unternehmen, nach Westafrika?

"Thema Schönheitsideale beschäftigt Frauen"
Wittler: Ich wollte eigentlich an meinem nächsten Roman arbeiten, und diesen Roman wollte ich schreiben zum Thema Schönheitsideale, weil ich einfach über die Jahre, die ich in der Öffentlichkeit stehe, gemerkt habe, wie sehr dieses Thema doch unsere Gesellschaft beschäftigt, gerade uns Frauen beschäftigt, und ich wollte meine Protagonistin in dem Roman auf eine Reise schicken. Die Idee hinter dem Projekt ist die Spiegelung. Also ich reise, ich verlasse meinen eigenen kleinen Kosmos und lerne eine neue Welt kennen, in der alles anders ist als ich es gewohnt bin.

Auf diese Reise wollte ich eigentlich die Romanprotagonistin schicken, und dann bin ich auf Mauretanien gestoßen, und eigentlich war dann relativ schnell klar, weil es über dieses Land so wenig bei uns gibt, um darüber zu erfahren, dass ich diese Reise letztendlich selbst antreten muss, stellvertretend für meine Protagonistin, mit all den Fragen, die ich zu dem Thema habe.

Hanselmann: Und mit Kameramann und Tonfrau. Und dann haben Sie die traditionelle Kleidung der mauretanischen Frauen angezogen, die Mlahafa, ein fünf Meter langes Stück bunten Stoff, der um den Körper gebunden wird. Wie sonst haben Sie denn Zugang gefunden zu den Frauen in Mauretanien?

Wittler: Also was uns – und damit meine ich jetzt auch wirklich das ganze Team – von Anfang an sehr, sehr wichtig war, war, den Menschen dort auf Augenhöhe zu begegnen. Also gerade wenn wir über Afrika sprechen, finde ich, haben wir hier oft einen sehr begrenzten Blick auf diesen Kontinent. Dazu gehört zum Beispiel, dass aufgrund der vielen Probleme, die dieser Kontinent hat, dass oftmals die Menschen, ja, lediglich als Opfer sozusagen wahrgenommen werden.

So etwas wollten wir nicht, sondern wir wollten auf Augenhöhe mit den Menschen und insbesondere mit den Frauen dort sprechen, und wir wollten auch zeigen, wie stark die Frauen dort sind, in einem Land, in einer islamischen Republik, in der die Scharia Gesetz ist, in der Frauen juristisch sehr, sehr benachteiligt sind, aber trotzdem bewegen sie Großes und sie sind sehr, sehr stark, und das wollten wir auch zum Ausdruck bringen.

Hanselmann: Sie zeigen in Ihrem Film, dass das Dicksein bei den Frauen in Mauretanien oft mit brutalen Mitteln erreicht wird, nämlich dadurch, dass schon Mädchen ab sechs oder sieben Jahren regelrecht gemästet werden, damit sie früh verheiratet werden können. Gavage wird das in diesem französischsprachigen Land genannt. Wie spielt sich diese Gavage ab?

"Junge Mädchen werden tatsächlich regelrecht gemästet"
Wittler: Also das Leblouh, das ist der arabische Ausdruck für diese Praxis, ist etwas sehr Altes, das gibt es schon sehr, sehr lange, das gibt es heute zum Glück nur noch selten. Junge Mädchen werden tatsächlich regelrecht gemästet, unter Anwendung von Gewalt, das heißt, wenn sie nicht mehr können oder wollen, werden, zum Beispiel mithilfe von Werkzeugen, ihre Gliedmaßen gequetscht, um den Druck auf sie zu erhöhen und um auch den Brechreiz zu unterdrücken, das heißt, diese Mädchen können dann mehr bei sich behalten, als es im Normalfall wäre.

Diese Praxis ist ein Missbrauch von Mädchenkörpern, von Frauenkörpern, der aber auf dem Rückmarsch ist. Das kann sich auch kaum jemand leisten. Essen ist in Mauretanien sehr, sehr teuer. Wer sich dort sattessen kann, ist reich und gesegnet. Es gibt aber eine moderne Variante dieser traditionellen Gavage, und die moderne Variante ist, dass viele junge Frauen freiwillig Medikamente einnehmen, aus der Tiermast, also Hormone, Hormonbomben, um möglichst schnell möglichst viel zuzunehmen. Und diese Praxis ist mindestens ebenso gefährlich, wenn nicht sogar gefährlicher, als die althergebrachte Variante der Zwangsfütterung mit Lebensmitteln.

Hanselmann: Worin besteht die Gefahr oder bestehen die Gefahren?

Wittler: Man nimmt dadurch sehr, sehr, sehr schnell zu, also wir haben uns berichten lassen von Frauen, die sozusagen aufquellen wie ein Ballon, das fängt am Oberkörper an, Aminetou Mint El Moktar, die Menschenrechtlerin, mit der wir vor Ort sehr, sehr eng zusammengearbeitet haben, die hat uns erzählt: Diese Frauen explodieren regelrecht, weil diese Gewichtszunahme so wahnsinnig schnell erfolgt, und das ist sehr, sehr gefährlich.

"Dicksein von Frauen immer noch gängiges Schönheitsideal"
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", ich spreche mit Tine Wittler, sie ist Autorin des Dokumentarfilms "Wer schön sein will, muss reisen", ihr Erfahrungsbericht aus Mauretanien in Westafrika, wo das Dicksein von Frauen immer noch gängiges Schönheitsideal ist. Dünne Frauen sind eklig, sagt ein Mauretanier in Ihrem Film, und dicke Männer sind hässlich, sagt eine Mauretanierin. Sie haben gesagt, dieses Schönheitsideal ist auf dem Rückzug – wir sollten aber vielleicht eher von einem Schönheitsdiktat reden, oder?

Wittler: Mauretanien ist ganz, ganz, ganz spannend, was das betrifft. Es ist so, dass die junge Generation der mauretanischen Frauen sich zunehmend an jenen Idealen und an jenen Bildern orientiert, die aus dem Ausland zu ihnen kommen. Mauretanien hat zum Beispiel keine eigenen Medien. Das heißt, alle Frauenbilder, die die Mauretanierinnen konsumieren können, kommen woanders her, und diese Bilder sind sehr anders. Sie beginnen dadurch natürlich, ihr althergebrachtes Ideal zu hinterfragen und sie beginnen, sich am Rest der Welt zu orientieren.

Gleichzeitig – das finde ich aber so beeindruckend an diesen Frauen – sind sie sich sehr dessen bewusst, was dort gerade passiert und dass dieser Wandel stattfindet, und sie legen trotzdem sehr viel Wert darauf, das auch zu erkennen und untereinander darüber zu diskutieren: Was passiert mit uns, wenn wir mit Medienbildern bombardiert werden? Und das ist eine Diskussion, die ich interessanterweise hier bei uns oftmals vermisse.

Hanselmann: Und es passiert täglich und massenhaft, dass wir mit Medienbildern bombardiert werden, im Sinne des Schlankheitswahns. Wie ist es mit Frauen in Mauretanien, die sich diesem – ich bleibe bei dem Wort – Schönheitsdiktat entziehen? Können sie das überhaupt und wenn ja, wer unterstützt sie dabei?

Wittler: Ja, die Frauen können das und sie tun es, und sie tun es, wie ich eben schon sagte, gerade in der jüngeren Generation. Mauretanien ist ein Land, das keine nationale Identität hat in dem Sinne. Es gibt dort sehr viele verschiedene Stämme, es gibt sehr viele verschiedene Bevölkerungsgruppen. Und all diese Bevölkerungsgruppen haben auf ihre Art und Weise alle ihr eigenes Schönheitsideal. Die Frauen reden darüber und eine lernt von der anderen, und dahingehend herrscht dort zum Beispiel eine sehr, sehr, sehr hohe Toleranz.

"Du bist eine Frau, also bist du schön"
Man sagt in Mauretanien: Du bist eine Frau, also bist du schön. Die Natur der Frau ist es, schön zu sein. Da gibt es gar keine Diskussion, ob sie dick oder dünn ist, sie ist schön – nicht wie bei uns, da heißt es zum Beispiel: Du bist nur schön, wenn du 90/60/90 hast oder wenn du lange blonde Haare hast oder keine Ahnung, einen besonders knackigen Hintern. Das schlägt sich zum Beispiel auch im Sprachgebrauch nieder, und auch das, glaube ich, macht diese Frauen so selbstbewusst, sodass sie in der Lage sind, trotzdem ganz, ganz, ganz immens und ganz engagiert für ihre Ziele zu kämpfen, auch wenn die politische Struktur in ihrem Land das eigentlich für sie gar nicht vorsieht.

Hanselmann: Frau Wittler, an einer Stelle in ihrem Film bin ich etwas stutzig geworden, da haben Sie sich nämlich einem Selbstversuch unterzogen und massenhaft Kamelmilch getrunken. Warum?

Wittler: Aus zwei Gründen: Zum einen, weil ich wissen wollte, wie fühlt sich das an? Wie fühlt es sich an, wenn ich gezwungen werde, immer weiter zu essen und zu trinken, obwohl ich eigentlich längst nicht mehr kann? Zum zweiten: Die Berichterstattung, die wir kennen in Bezug auf Afrika neigt tatsächlich dazu, die dortigen Menschen, ja, zum Opfer zu degradieren. Das wollte ich nicht. Ich wollte jetzt zum Beispiel nicht sagen: Ich bin bei der Gavage eines kleinen Mädchens dabei. Das wäre Voyeurismus gewesen und das wäre ein, ja, eine Art von sensationheischerischer Filmemacherei gewesen, die ich nicht unterstützen möchte.

Also haben wir gesagt: Wir verändern auch in diesem Fall den Blickwinkel, das heißt, ich nehme den Blickwinkel eines mauretanischen Mädchens ein oder versuche es zumindest, und wir konzentrieren uns in der Darstellung der mauretanischen Frauen nicht auf die Opferrolle, sondern auf das, was sie wirklich tun und engagiert bewegen, indem sie genau gegen diese Art der Zwangsmästung zum Beispiel seit vielen, vielen Jahren vorgehen, organisiert, aber dafür auch ihr Leben riskieren.

Hanselmann: Sie haben am Anfang gesagt, Sie waren auf der Suche nach der Frage oder nach der Antwort auf die Frage: Was macht schön? Haben Sie sie gefunden, können Sie sie in einem Satz sagen?

"Was einen Menschen schön macht"
Wittler: In zweien, oder sind es drei? Also für mich – und das habe ich auch in dem Titel versucht, auszudrücken –, für mich macht es einen Menschen schön, wenn er offen ist, wenn er tolerant ist, wenn er geistig beweglich ist, wenn er über seinen eigenen Tellerrand gucken mag, wenn er bereit ist zu lernen und wenn er in der Lage ist, die Perspektive zu wechseln. Und damit meine ich im weitesten Sinne auch das Reisen, also das Reisen entweder tatsächlich, indem ich meine Koffer packe und losfliege, oder das Reisen im Kopf, indem ich in der Lage bin, mich auf fremde Welten einzulassen. Und ich finde, das ist das, was einen Menschen schön macht.

Hanselmann: Vielen Dank, Tine Wittler, Fernsehmoderatorin, Romanautorin und Autorin des Dokumentationsfilms "Wer schön sein will, muss reisen". Alles Gute und viel Erfolg damit, Frau Wittler!

Wittler: Das können wir brauchen, ein Dokumentarfilm in Deutschland im Jahr 2011 hatte sage und schreibe 2900 Zuschauer im Kino, und wir würden uns sehr wünschen, das zu schaffen.

Hanselmann: Wünschen wir Ihnen auch. Danke! Tschüss!

Wittler: Danke!

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