Die Lebenden auf den Friedhof holen

Von Matthias Bertsch · 30.06.2012
Um die Friedhöfe - gerade in den Großstädten - als Orte der Kultur- und Stadtgeschichte zu erhalten, haben sich inzwischen zahlreiche Vereine gegründet. Und auch die Kirche hat die Initiative ergriffen. Gemeinsam versucht man, mit kulturellen Angeboten auf Friedhöfen deutlich zu machen, dass diese nicht nur Orte von Tod und Trauer sein müssen.
"Sie gestatten: Grimm mein Name, Wilhelm Grimm, Professor Wilhelm Grimm von der Berliner Universität. Ich freue mich sehr, dass Sie so zahlreich heute zu meinem Geburtstag gekommen sind. Ich möchte Ihnen heute, zur Feier meines Geburtstages und zur Feier dieses Jubiläums, das wir dieses Jahr noch oft feiern werden, möchte ich Ihnen Märchen erzählen, alte Märchen, so wie wir sie damals gesammelt haben, aber auch Märchen aus anderen Ländern…"

Gerhard Moses Hess steht am Eingang des St. Matthäus Kirchhofs in Berlin-Schöneberg, um ihn herum ein Dutzend Menschen. Der Theaterpädagoge bietet regelmäßig poetische Führungen über den Friedhof an, für die er in verschiedene Rollen schlüpft - eine davon ist Wilhelm Grimm, der hier begraben liegt. Hess erzählt den Besuchern aber nicht nur Märchen und Geschichten über einzelne Gräber, sondern auch die Geschichte des Ortes - von seiner Gründung 1856 bis zur Eröffnung des Cafés im ehemaligen Verwaltungsgebäude vor wenigen Jahren.

"Zu meiner Zeit war das unvorstellbar, ein Café auf dem Friedhof, wo die Leute Kakao schlürfen, nein, das ist pietätlos. Aber ich muss Ihnen sagen, ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, im Gegenteil, ich finde es mittlerweile schön, wenn ich die Leute dort in der Sonne sitzen sehe, und sie waren erst noch traurig und haben ihre Angehörigen besucht, und dann sitzen sie da und trinken ihren Kakao oder Kaffee und essen ihren Kuchen und es geht ihnen besser, und sie kommen miteinander ins Gespräch und das ist mein ganzer Stolz, dass mein Friedhof jetzt ein solches Café hat, das erste in Deutschland, hab ich mir sagen lassen."

Dank des Vereins Efeu e.V. ist der alte St. Matthäus-Kirchhof inzwischen ein Vorreiter in Sachen Kultur auf dem Friedhof: Neben Führungen und Lesungen finden regelmäßig Konzerte und Kunstinstallationen statt.

Auch der Stahnsdorfer Südwestkirchhof im Südwesten Berlins bietet ein umfangreiches Kulturprogramm. Der Friedhof ist der zweitgrößte Deutschlands und gilt wegen der vielen denkmalgeschützten Grabanlagen und seiner wilden Romantik als Prunkstück unter den Friedhöfen. Da sich der Friedhof auf Brandenburgischem Boden befindet - aber zu Berlin gehört - wurde er zu DDR-Zeiten kaum genutzt. Während sich die Natur den Friedhof in diesen Jahrzehnten wieder angeeignet hat, haben ihn die Menschen weitgehend aus dem Blick verloren, erklärt Friedhofsverwalter Olaf Ihlefeld:

"Wir versuchen wirklich, ihn insoweit wieder ins Gedächtnis zu rücken, dass wir den Friedhof als Friedhof wieder präsentieren, in der Form, dass wir auch neue Arten in Bestattung einführen, wie naturnahe Bestattungen unter Bäumen, aber auf der anderen Seite bespielen wir den Friedhof auch als Kulturort; das heißt wir veranstalten Wandelkonzerte auf dem Friedhof, wir machen kultur- und kunsthistorische Führungen, wir laden Kinder ein zu Führungen auf dem Friedhof, das heißt wir pflegen einen lebendigen Friedhof, und laden dazu Menschen ein, auf dem Friedhof zu leben, mit den Toten Zeit zu verbringen, ihn gleichzeitig aber auch als Friedhof anzunehmen."

Ein Ansatz, den auch Martin Ernerth verfolgt. Ernerth ist Mitglied im Fachbeirat der Stiftung Historische Kirchhöfe und Friedhöfe in Berlin-Brandenburg. Der Landschaftsarchitekt hat mit anderen das Projekt "Kulturkapellen" ins Leben gerufen: Friedhofskapellen, die sonst meist leer stehen, werden in den Sommermonaten für Konzerte genutzt. Doch es geht nicht nur um Musik, betont Ernerth:

"Es geht schon darum, die Lebenden auch wieder auf die Friedhöfe zu holen bzw. die Friedhöfe als Teil unserer Stadt wieder ein bisschen normaler zu etablieren, wieder normaler in die Gesellschaft hereinzubringen und der Ansatz ist schon der über kulturelle Veranstaltungen die Menschen zu erreichen, dass sie erstmal auf den Ort kommen. Und wir machen aber nicht nur Konzerte oder nur Filmvorführungen oder nicht nur mal ne Lesung in der Kapelle sondern es geht schon auch darum, das Ganze, ich nenn es mal: Ein Abend auf dem Friedhof zu etablieren.

Wir haben auch immer ne kleine Bar dabei, Sie können nachmittags nen Kaffee trinken, Sie können abends ein Weinchen trinken oder vielleicht sogar mal ne Suppe essen in der Konzertpause, und es geht darum, auch Informationen über den Friedhof rüberzubringen, das heißt ne Führung zu machen oder halt auch Fragen dazu zu beantworten."

Fragen danach, wie unsere Gesellschaft eigentlich mit dem Tod und den Toten umgeht. Die Richtung scheint klar. Viele Menschen wollen ihre Angehörigen nicht mehr mit der aufwändigen Pflege von Grabstätten belasten. Der Trend geht zum kleineren und billigeren Urnengrab, ein Trend, der keineswegs auf Deutschland beschränkt ist, betont Maria Luisa de Yzaguirre Blanes. Die Spanierin, bis vor kurzem Präsidentin der Vereinigung bedeutender Friedhöfe in Europa, sieht Friedhöfe vor einer enormen Herausforderung.

"Wenn die Feuerbestattungen zu- und die Erdbestattungen abnehmen, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem die Friedhöfe ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Aber auf der anderen Seite sind sie als Teil unseres geschichtlichen Erbes kulturell sehr wichtig: Wir müssen die Grabmäler und Beerdigungsbräuche bewahren. Deswegen versuchen wir, aus den Friedhöfen Freiluftmuseen zu machen."

Ob das Bewahren der Friedhöfe und ihrer Schätze über historische Führungen geschieht oder durch Konzerte ist dabei letztlich zweitrangig.

"Wir waren letztes Jahr in Bukarest bei ner Veranstaltung mit 1500 Leuten auf dem Friedhof am Abend mit Konzert, mit Essen, mit Trinken, mit Fröhlich sein zum Teil auch auf dem Friedhof, was sicherlich auch so Grenzen berührt, so Grenzen der Pietät, wo es immer Menschen gibt, die sagen: 'Das geht uns jetzt aber zu weit'. Und es gibt aber immer auch welche, die sagen: 'Es muss noch viel weiter gehen'. Und daran sich so langsam ein bisschen zu schärfen immer mehr - das ist ein bisschen unser Ansinnen auch"

Wo die Grenzen der kulturellen Nutzung von Friedhöfen liegen, lässt sich kaum allgemein sagen. Es muss ausgehandelt werden - und hat viel mit Gewöhnung zu tun. Auch im Brandenburgischen Rathenow musste sich so mancher Friedhofsbesucher erst daran gewöhnen, dass auf dem Friedhof der evangelischen Kirchengemeinde St. Marien-Andreas nicht nur getrauert wird, sondern auch diskutiert und manchmal gelacht. Als im Torhaus - der ursprünglichen Leichenhalle des Friedhofs - die erste Ausstellung eröffnet wurde, waren keineswegs alle begeistert.

"Das war ein ganz merkwürdiger Abend, also hier drinnen war alles puppenlustig und draußen waren natürlich Leute auf dem Friedhof, und es gingen auch Leute von uns raus mit nem Sektglas und lachten. Das fand nun nicht viel Verständnis, jedenfalls bei einigen Leuten, aber im Moment ist es so, das gehört einfach dazu. Die Leute wissen, dass hier ne Kulturstätte ist, da hat nie wieder jemand was zu gesagt."

Eva Lehmann ist Vorsitzender von Memento, dem Verein, der das kulturelle Programm auf dem Friedhof gestaltet. Konzerte und Dichterlesungen, aber auch Diskussionen zu politischen Themen haben das Torhaus längst zu einer Institution in Rathenow gemacht - mit einem besonderen Etwas.

"Es ist ne ganz besondere Atmosphäre, die da herrscht, und das bestätigen ganz viele Leute auch bei Vernissagen, dass sie sagen: ja, das ist nicht ne normale Vernissage, man kommt raus und schaut auf die Grabsteine und ist sich seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst, das ist ja auch ganz wichtig. Also der Friedhof gehört wieder zum Leben in der Stadt. Und das merken wir, ganz viele Leute, die sagen: jetzt kommen wir gern auf den Friedhof. Früher war unangenehm, jetzt gehen sie gern. Und das ist schön, da freuen wir uns drüber, weil ich denke, das ist auch ein bisschen das Resultat dieser anderen Arbeit auf dem Friedhof."

Doch so erfolgreich diese Arbeit auch ist, eines wird sie wohl nicht schaffen: den Trend zum Urnengrab zu stoppen. Denn zwischen dem Interesse am Friedhof als Freiluftmuseum oder ungewöhnlichen Kulturort und der Bereitschaft, für das eigene Grab mehr als nötig auszugeben, klafft eine große Kluft.

Links:
Link zum Projekt Kulturkapellen
Kulturdenkmal im Dornröschenschlaf
Der Friedhof als Buch
"Ein Friedhof ist für uns Menschen auch ein Stück unserer Heimat"
Friedhof für Stillgeborene