"Die Gewalt wird sich jetzt erst mal zuspitzen"

Kristin Helberg im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 21.04.2011
Trotz einiger Zugeständnisse von Präsident Assad wird die Lage in Syrien weiter eskalieren, glaubt Kristin Helberg. Im Interview spricht die Journalistin über die Proteste gegen das Regime, den Zustand der syrischen Opposition und die Rolle der Religion.
Liane von Billerbeck: In Syrien leben Sunniten, Schiiten und Christen, Araber, Kurden, Tscherkessen, Armenier. Erst mit dem Putsch der Baath-Partei unter Hafiz al-Assad Anfang der 1970er-Jahre kam eine Offiziersgruppe aus der alevitischen Minderheit an die Macht. Eine konfessionelle Politik hat das Regime aber nie offen verfolgt, sondern eine von nationalistischer Ideologie geprägte. Die Proteste versucht das Assad-Regime brutal niederzuschlagen, Demonstrationen werden zusammenkartätscht, und das Regime suggeriert auch: Wenn wir nicht an der Macht bleiben, dann brechen religiöse Konflikte aus. Kristin Helberg ist jetzt bei mir im Studio, sie hat acht Jahre als Journalistin in Syrien gelebt und pendelt jetzt zwischen Deutschland und Syrien. Herzlich willkommen!

Kristin Helberg: Hallo, Frau Billerbeck!

von Billerbeck: Wenn wir nicht die Macht behalten, dann wird es in Syrien religiöse Konflikte geben, so lautet ein Argument der syrischen Machthaber, um die Proteste niederzuschlagen. Man bedient damit Ängste vor scheinbar unberechenbaren neuen Kräften in Syrien. Welche Rolle spielt denn die Religion bei der Machterhaltung der Staatschefs?

Helberg: Syrien ist eigentlich ein säkularer Staat, es ist ja seit Jahrzehnten sozialistisch geprägt gewesen, und es gibt die Staatsideologie des arabischen Nationalismus, die über allem steht, und die natürlich religiöse und konfessionelle Unterschiede in den Hintergrund treten lässt. Aber die Macht – Sie haben es schon erwähnt –, die konzentriert sich in den Händen einer religiösen Minderheit, die der Aleviten, das ist eine späte Abspaltung im schiitischen Islam, und das bedeutet auch, dass zum Beispiel die Armee und die Geheimdienste sehr geschlossen hinter dem Präsidenten stehen, weil sich dort viele Aleviten in ihren Reihen befinden, das ist also ein zusätzliches Element der Loyalität der Streitkräfte, die hinter dem Präsidenten stehen.

Und parallel dazu muss man sagen, dass zum Beispiel das traditionelle sunnitische Bürgertum in den Städten wenig Macht hat. Die hatten sie vor dem Militärputsch, aber in den letzten Jahrzehnten haben die Sunniten in den Städten, die großen Händlerfamilien, eher wenig Einfluss gehabt, politischen Einfluss, und das wird natürlich sehr kritisch gesehen.

Das Problem in Syrien ist also: Die Macht konzentriert sich bei einer Konfessionsgruppe, diese Konfessionsgruppe zieht damit den Hass auf sich, einfach durch diese autoritäre Machtausübung, durch die Korruption, durch die Vetternwirtschaft, aber es ist kein religiöser Konflikt. Also nicht: Die Sunniten hassen die Aleviten, weil sie sie als Ungläubige empfinden, sondern die Mehrheit der Bevölkerung beobachtet dieses Regime, betrachtet es sehr kritisch, ob es nun Aleviten sind oder nicht. Aleviten werden gehasst wegen ihrer Machtausübung, nicht wegen ihrer Konfession.

von Billerbeck: Welches Verhältnis haben denn die Religionsgruppen in Syrien untereinander? Ich habe gehört, die Christen fühlen sich zum Beispiel in Syrien ganz wohl, ganz anders als beispielsweise im Irak.

Helberg: Das Verhältnis ist sehr gut zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen, sie leben friedlich nebeneinander, teilweise miteinander, würde ich sogar sagen. Die Kinder gehen auf gemeinsame Schulen, die muslimischen Frauen mit Kopftuch gehen zu ihren christlichen Juwelieren, um dort einzukaufen, Geschäftsleute arbeiten zusammen, über konfessionelle Grenzen hinweg. Es gibt ein Thema, was immer noch so das letzte Problem ist, das Thema heiraten. Da wird dann doch eher innerkonfessionell geheiratet, es gibt auch in Syrien nicht die Möglichkeit, zum Beispiel nur standesamtlich zu heiraten, man braucht immer Gott bei der Hochzeit, also, wollen ein Muslim und eine Christin – oder egal in welcher Konstellation – heiraten, können sie das nur entweder mit einem Imam oder einem Priester, da muss man sich also entscheiden, das gibt immer wieder Konflikte. Aber ansonsten, im Alltag, leben diese Gruppen sehr friedlich zusammen.

von Billerbeck: Die Regierungsgegner, die werden ja gerne als Kriminelle bezeichnet und auch als religiöse Extremisten. Ist das mehr als die Diffamierung des Protestes?

Helberg: Wenn damit diese tausenden Bürger gemeint sind, die jetzt gerade friedlich auf die Strasse gehen, dann ist es eher eine Diffamierung. Die haben nun mit ausländischen Verschwörern, Islamisten, vermeintlichen Salafisten nichts zu tun, das ist der Versuch, die Bewegung zu diskreditieren, auch die Gewalt zu rechtfertigen. Die Regierung spricht jetzt von einem bewaffneten Aufstand, den es niederzuschlagen gilt, und diese Verschwörungstheorien oder diese Angst, die da geschürt wird, die fällt auf sehr fruchtbaren Boden in Syrien, muss man sagen, die sitzt sehr tief, diese Angst, vor konfessioneller Gewalt, vor einem Chaos, ähnlich wie im Irak.

Die Syrer haben zwei sehr negative Beispiele vor der Haustür: Irak im Osten, Libanon im Westen des Landes, beides Länder, die konfessionell geprägt sind, viele irakische Flüchtlinge – Hunderttausende – sind in Syrien angekommen, unter ihnen viele verfolgte Christen. Das ist also eine Urangst der Menschen, und das hat eben auch zur Folge, dass sich manche Teile der Bevölkerung, zum Beispiel in den Städten, den Protesten auch noch nicht anschließen, weil sie sagen: Nein, besser Stabilität mit Präsident Baschar al-Assad, als das Chaos.

von Billerbeck: Gibt es eigentlich so was wie islamischen Fundamentalismus in Syrien?

Helberg: Nein, es gibt offiziell keine politische, islamistische Kraft, es gibt islamistische Gruppen, die irgendwie operieren im Land, das ist ziemlich undurchdringlich. Das wird in Verbindung gebracht mit den Aufständen im Irak, mit Unruhen im Libanon, die vielleicht zwischen diesen beiden Ländern hin und her operieren, aber jede Form von Islamismus wird brutal bekämpft seit Jahrzehnten. Das sieht man auch daran, dass zum Beispiel die meisten politischen Gefangenen Islamisten sind oder vermeintliche Islamisten, es gab die Muslim-Brüderschaft, die syrische, die Anfang der 80er das Regime herausgefordert hat, und damals niedergeschlagen wurde in Hama. Im Jahr 1982 gab es ein Massaker, kann man sagen, da sind 10.000 bis 20.000 Menschen umgekommen, weil die Luftwaffe die Stadt bombardiert hat. Das war das Ende der Muslim-Brüderschaft. Es steht bis heute die Todesstrafe auf Mitgliedschaft in der Muslim-Brüderschaft, also kein politischer Islam in Syrien sichtbar, deswegen weiß man auch nicht, wie viele Menschen in Syrien nun sympathisieren würden mit einer politischen Partei, die eine islamische Agenda hat.

Ich sehe eher die Chance, wenn ich das noch anführen darf, dass es vielleicht eine Entwicklung wie in der Türkei geben könnte. Durch den ausgeprägten Säkularismus könnte sich vielleicht eine islamische Partei begründen, die mit sozialer Gerechtigkeit wirbt, ähnlich der AKP von Ministerpräsident Erdogan in der Türkei, ähnlich einer CSU in Deutschland, aber dass dort nun eine offen islamistische Partei einen islamische Staat womöglich aufbauen wollte, das sehe ich in Syrien nicht.

von Billerbeck: Wer trägt denn nun eigentlich die Proteste in Syrien? Ist das eine breite Bevölkerungsschicht, oder gibt es da spezielle Gruppen, die da besonders stark engagiert sind?

Helberg: Es sind einfache Bürger eher, die Demonstrationen haben ja in der Provinz begonnen, es sind alle Altersgruppen dabei, junge, alte, Frauen haben sich zu Tausenden auch schon auf die Straße gewagt, auch alle Religionsgruppen sind daran beteiligt, was fehlt – habe ich erwähnt –, ist die städtische Mittelschicht, und – das sind vor allem Händler, auch Geschäftsleute, Angestellte im privaten Sektor, die profitiert haben, auch von der wirtschaftlichen Öffnung des Landes in den vergangenen Jahren, die haben einiges zu verlieren – und was auch fehlt, ist eine intellektuelle Elite. Die Protestbewegung ist bislang ohne eine Führung, ohne Menschen, die auch in ihrem Namen sprechen könnten. Und das ist natürlich eine große Schwäche der Protestbewegung bisher.

von Billerbeck: Also, es gibt keine organisierte Opposition?

Helberg: Nein, die gibt es nicht. Es gab verschiedene Versuche in den vergangenen Jahren, Oppositionsgruppen zu vereinen, der bekannteste Versuch ist die Erklärung von Damaskus, das ist eine Plattform, unter der sich verschiedene Gruppen, also Linke, Liberale, Kurden – auch die Muslim-Brüder wurden dort integriert – zusammengefunden haben. Diese Erklärung von Damaskus ist im Grunde gescheitert, auch daran, dass viele ihrer Mitglieder im Gefängnis saßen oder immer noch sitzen. Das heißt, innerhalb des Landes gibt es keine wirklich organisierte Opposition.

Im Ausland – was man immer wieder hört –, von Opposition aus dem Ausland, die wird sehr kritisch betrachtet innerhalb Syriens, und ich meine, man muss sich auch nicht wundern: 48 Jahre ein Parteienregime, 48 Jahre Ausnahmezustand. Die Baath-Partei spielt laut Verfassung die führende Rolle in Staat und Gesellschaft, das ist in der Verfassung verankert. Da ist jedes politische Leben außerhalb der Baath-Partei zum Erliegen gekommen, ist tot.

von Billerbeck: Trotzdem gab es Demonstrationen, die blutig niedergeschlagen wurden oder versucht wurden, niederzuschlagen. Was erwarten Sie für die Zukunft, für die nächsten Monate, wenn Sie auch den Blick nach Kairo richten oder nach Tunis?

Helberg: Ich denke, die Gewalt wird sich jetzt erst mal zuspitzen in den nächsten Tagen. Präsiden Assad hat ja versucht, mit Zugeständnissen Ruhe ins Land zu bringen, es ist ihm nicht gelungen. Es ist meiner Meinung nach zu viel Blut geflossen. Er hätte die Chance gehabt, wenn er am Anfang der Proteste gleich mutig Reformen eingeleitet hätte, das hat er verpasst. Vor allem die Tatsache, dass die Regierung weiterhin daran festhält, dass nicht sie schießt, nicht die Sicherheitskräfte schießen, sondern ausländische Gruppen, da fragt man sich, wo kommen diese bewaffneten Banden auf einmal alle her und wie ist es möglich, dass in einem Polizeistaat wie Syrien diese Gruppen immer noch agieren und in zivil von den Dächern auf Demonstranten schießen? Dann müsste es ja zumindest die Verantwortung der Sicherheitskräfte sein, die Bürger zu schützen vor diesem bewaffneten Gruppen. Aber mit dieser Lesart des Regimes und mit der Entschlossenheit der Demonstranten sehe ich gerade nur eine Eskalation der Lage.

von Billerbeck: Kirsten Helberg war das, bei uns zu Gast, langjährige Korrespondentin in Syrien. Danke Ihnen für das Gespräch!

Helberg: Sehr gerne!