"Die Gesellschaft befindet sich aus meiner Sicht an einem Scheideweg"

Rezensiert von Reinhard Mohr · 15.08.2010
Die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig wurde einerseits als "Richterin Gnadenlos" tituliert. Andererseits verschaffte sie sich mit ihrem Umgang zum Thema jugendliche Gewalt Respekt. Ihre buchgewordene Analyse ist auch Vermächtnis: Kirsten Heisig wurde im Juli tot aufgefunden.
Es geht ein Gespenst um in Deutschland. Am ehesten lässt es sich mit jenem alten deutschen Wort fassen, für das gerne der politisch korrekte Begriff "Zivilcourage" benutzt wird: Mut. Mutig sei es, so die neueste Legende, die Dinge beim Namen zu nennen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber es stimmt ja: Inzwischen ist es tatsächlich ein Zeichen von persönlichem Mut geworden, seinen eigenen Augen zu trauen, seinen Verstand zu gebrauchen und die derart gewonnenen Einsichten öffentlich zu formulieren. Kirsten Heisig war eine mutige Frau.

Eher spröde und sachlich kommt ihr Buch daher, gespickt mit Zahlen und Fakten, Statistiken und Details, voll gepackt mit Behördennamen und Institutionen, freilich auch mit sehr anschaulichen Schilderungen, wie Kinder und Jugendliche in den Strudel von Verwahrlosung, Alkoholismus, Drogensucht, Kriminalität und Gewalt geraten, aus dem es schließlich kaum noch ein Entrinnen gibt.

Die zierliche Frau, die in den letzten Jahren in allerlei Talkshows saß und dabei gerne als "Richterin Gnadenlos", "Miss Tough" und "Schrecken von Neukölln" apostrophiert wurde, formuliert ganz nüchtern und unspektakulär. Keine Spur von Haudrauf-Mentalität. Im Gegenteil: Ihr außergewöhnliches Engagement entsprang gerade einer Empathie für jene Jugendlichen, die aus zerrütteten Familienverhältnissen kamen und dann vor ihrem Richtertisch landeten. Nur realitätsblinde Ideologen können Heisig das Billig-Etikett von "Law and order" ankleben.

In Wirklichkeit ist es ganz anders. Dem Leser erscheint die streitbare Richterin als sensible Idealistin, die mit soziologischem Blick praktische Lösungen für eine brennende soziale Frage anstrebt: Wie lässt sich das Abgleiten ganzer Gruppen und Clans von jungen Menschen in eine kriminelle Karriere rechtzeitig verhindern, die auch das Ende ihrer Chancen auf ein normales Leben bedeutet? Im gleichen Atemzug: Wie kann sich die Gesellschaft vor zunehmend brutalen Tätern schützen, die keine Skrupel und keine Hemmschwelle mehr kennen? 31.861 Tatverdächtige unter 21 Jahren wurden im Jahr 2008 allein in Berlin polizeilich ermittelt.

"Kaum nachvollziehbare Gewalttaten haben nach meiner Wahrnehmung in erschreckendem Ausmaß zugenommen ... Der Anlass der Taten steht häufig in keinerlei Verhältnis zu den angewendeten brutalen Methoden."

Offiziellen Statistiken, die insgesamt ein leichtes Abnehmen der Jugendgewalt vermelden, misstraut Kirsten Heisig. Nicht nur in "ihrem" Bezirk Berlin-Neukölln machte sie ganz andere Erfahrungen, vor allem was sogenannte Intensivtäter betrifft, die mehr als zehn, oft dreißig bis vierzig Straftaten pro Jahr begehen. Rund 550 sind in Berlin registriert, allein 214 davon leben in Neukölln.

"Von den polizeilich erfassten jugendlichen und heranwachsenden Intensivtätern haben inzwischen 71 Prozent einen Migrationshintergrund. In Neukölln sind es sogar mehr als 90 Prozent. Insgesamt kommt die polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2009 zu dem Ergebnis, dass, je schwerer die Delikte sind, desto höher der Anteil der Einwanderer beziehungsweise ihrer Kinder ausfällt."

Spätestens hier wäre noch vor einigen Jahren ein kollektiver Aufschrei erfolgt: Wie kann man so etwas sagen! Das ist Rassismus pur! Es ist Kirsten Heisigs größtes Verdienst, dass sie genau an diesem wunden Punkt bundesdeutscher Selbstvernebelung glasklar argumentiert und die Dinge vom Kopf auf die Füße stellt. Zugespitzt formuliert: Rassistisch verhalten sich letztlich diejenigen, welche Migranten in multikultureller Verklärung zu "edlen Wilden" stigmatisieren, die stets nur Opfer der bösen, ausländerfeindlichen deutschen Gesellschaft sind. Nein, die Autorin nimmt alle, ob gebürtige Deutsche oder Einwanderer jedweder Herkunft, als aktive Mitglieder dieser einen Gesellschaft ernst, in der aber auch jeder Einzelne seine individuelle Verantwortung wahrzunehmen hat. Gerade deshalb bleibt sie unbeirrt bei den Tatsachen und befolgt so eine alte linke Devise: Sagen, was ist.

Ihr Befund ist informierten Zeitgenossen nicht ganz neu, aber selten wurde er so kompakt und faktenreich formuliert: In sozialen Problembezirken deutscher Großstädte bilden mangelnde Qualifikation und Arbeitslosigkeit/Hartz IV-Bezug der Eltern, kombiniert mit patriarchalisch-autoritären, zugleich desolaten Familienverhältnissen, einer frauenfeindlichen Machokultur, fehlenden Deutschkenntnissen und einer kulturellen Gleichgültigkeit gegenüber jedweder Schulbildung ein Gemisch, das ein frühes Abgleiten der Kinder begünstigt. 74 Prozent der Hauptschüler in Neukölln kommen aus Einwandererfamilien, aber selbst diese Zahl beschönigt noch die Lage. Denn Schuleschwänzen ist an der Tagesordnung, und die notwendigen Konsequenzen verlieren sich rasch im Bermudadreieck aus überforderter Schulleitung, hilflosem Jugendamt und einer unterbesetzten Polizei, die die Rolle verantwortungsbewusster Eltern nicht ersetzen kann.

Auch wenn sich die Probleme bei islamischen Einwandererfamilien durch reaktionäre Einstellungen, die bis zur Verachtung der westlich-demokratischen Grundordnung gehen können, noch verstärken, so besteht die zentrale Gefahr auch beim deutschstämmigen Prekariat: Das endgültige Wegdriften aus der der Zivilgesellschaft. Sozialer Aufstieg ist hier ein Fremdwort, Teilhabe und Integration nur ein frommer Wunsch. So wird das soziale Dilemma zum Kriminaldauerdienst, nicht zuletzt: Zur – nicht nur – kriminellen Bedrohung einer dramatisch alternden Gesellschaft, die auf jeden einzelnen angewiesen ist.

Unermüdlich hat Kirsten Heisig die Fäden zwischen Justiz, Polizei, Schule, Jugendamt und Familien gesponnen. Ihr "Neuköllner Modell" ist nichts anderes als die Beschleunigung der Abläufe mit einem Ziel: Dass die Jugendkriminalität durch rechtzeitiges Handeln auf Dauer zurückgeht. Am Ende ihres Buches schreibt sie:

"Die Gesellschaft befindet sich aus meiner Sicht an einem Scheideweg. Sie könnte sich spalten: in 'reich' und 'arm', in 'links' und 'rechts', in 'muslimisch' und nichtmuslimisch'. Es ist deshalb ... insgesamt notwendig, eine ehrliche Debatte jenseits von Ideologien zu führen. Sie wird kontrovers, wahrscheinlich auch schmerzhaft sein. Deutschland wird sie aushalten – und mich auch."

Kirsten Heisig: "Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter". Herder Verlag, Freiburg/2010