Die geheimen Papiere der DDR-Opposition

Christian Dietrich im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 25.05.2011
Das Gedächtnis der DDR-Opposition liegt auf mehrere Privat-Archive verteilt in Ostdeutschland. Eines der bedeutendsten wurde heute vor 20 Jahren gegründet - vom ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Christian Dietrich in Leipzig.
Stephan Karkowsky: Das Gedächtnis der DDR-Opposition liegt auf mehrere Privatarchive verteilt in Ostdeutschland. Eines der bedeutendsten wurde heute vor 20 Jahren gegründet, vom ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Christian Dietrich in Leipzig. Guten Tag, Herr Dietrich!

Christian Dietrich: Guten Tag, ich grüße Sie!

Karkowsky: Es war im Jahr 1991, gerade erst hatte man sich geeinigt: Die Stasi-Akten bleiben erhalten, Opfer des DDR-Unrechts bekommen Einblick, nichts sollte vertuscht werden. Und da haben Sie das Archiv Bürgerbewegung gegründet, quasi als Gegenentwurf zum großen Stasi-Gedächtnis. Hatten Sie kein Vertrauen damals in die für den Osten neuen demokratischen Strukturen?

Dietrich: Ja, also ich würde gerne mal vorher anfangen: Es war nicht nur einer, der das begründet hat.

Karkowsky: Klar.

Dietrich: Ich erzähle das jetzt hier, Archiv Bürgerbewegung verrät ja schon, dass die Vorstellung war: Es sind ganz viele. Und das musste institutionalisiert werden, und das ist vor 20 Jahren passiert, und deswegen feiern wir heute. Aber gesammelt wurde schon länger, und misstraut wurde den Institutionen, die die Diktatur getragen haben. Und deswegen sind wir damals in die Archive gegangen, und dort, wo die Büros waren, die die Macht hatten – ob das die SED war, die Einsatzleitung oder die Staatssicherheit. Und ich bin froh über die Menschen, die sich damals engagiert haben, die diese Hinterlassenschaft ja gesichert haben. Dort, wo das nicht passiert ist, ist die Geschichte auch schwer zu erzählen.

Karkowsky: Nun waren ja die alten Machthaber '91 nicht mehr im Amt, und trotzdem hatten Sie dieses gesunde Misstrauen und gesagt, wir überlassen das nicht den Stasi-Archiven, sondern machen es selber.

Dietrich: Genau, es musste ja gemacht werden, und das heißt, die, die damit umgegangen sind, die haben die Chance der bürgerlichen Gesellschaft genutzt, einen Verein zu gründen, der gemeinnützig anerkannt ist, und die Auswertung der Archivalien, sprich die Bildungsarbeit und das Sammeln zu vernetzen. Und so haben wir eine eigene Struktur geschaffen in Partnerschaft mit anderen Archiven, mit Vereinen, die dies tun.

Karkowsky: Nun müssen wir vielleicht erst mal erklären, was Sie da überhaupt gesammelt haben. Sie sagen, gesammelt wurde schon länger. Haben Sie irgendeine Ahnung, wann das losging und was genau in diese Sammlung reinkam?

Dietrich: Also in einer Diktatur was Schriftliches zu haben, was oppositionell widerständig ist, ist ja schon gefährlich, also Hausdurchsuchung war ja nichts Ungewöhnliches, heimliche und auch mit dem Staatsanwalt. Die Materialien, die da unterm Schreibtisch waren, die konnten dann belastend sein für Haftstrafen. Von daher – immer was schriftlich festhalten schon ein mutiger Akt.

Karkowsky: Besser alles verbrennen gleich.

Dietrich: Besser alles verbrennen, und das haben auch manche gemacht, die sich sozusagen in der Weise geschützt haben. Angst ist ja das wichtigste Kapital von Diktatoren. Die zu durchbrechen war Verschriftung, behaupte ich. Deswegen sind literarische Texte, Resolutionen, auch Eingaben oder Briefe an Institutionsträger damals wichtige Quellen für das, wie die Macht der Diktatur zerbröselt ist.

Karkowsky: An wen wurden diese Papiere damals verteilt, ohne dass die Stasi Verdacht schöpfen konnte?

Dietrich: Also es gab diese geheimen Papiere, also die geheim gehalten weitergereicht wurden, aber es gab ja auch bewusste Publikationen, wo, wenn man es schaffte, dass es rechtzeitig sozusagen vervielfältigt war, dann auch an alle Welt ging, und dafür waren ja auch die Medien, ich sage jetzt mal RIAS oder so, auch ganz wichtig. Dann kam es sozusagen dann in jedem Haushalt in der DDR wieder an.

Karkowsky: Haben Sie ein Beispiel, was das zum Beispiel gewesen sein könnte?

Dietrich: Ja, ich kenne eine ganze Menge, also eine sehr wertvolle Resolution, das ist 1986 gemacht worden mit Oppositionellen auch aus anderen Ostblockstaaten, in Erinnerung an Ungarn 1956 und der brutalen Niederschlagung dieser Freiheitsbewegung damals. Ich denke, wir haben das noch gar nicht alles erschlossen, was es da so an Initiativen gab. Die können auf ganz unterschiedliche Notlagen reagiert haben, ökologischer Art genauso wie die Entmündigung, und dass Kommunikation ja eigentlich nicht, freie Kommunikation ja sowieso nicht gewollt war.

Karkowsky: Und verbunden hat alle diese Initiativen, dass sie nicht staatlich gelenkt waren. Diese Schriften, die Sie da gesammelt haben, in welchem Zustand sind die heute?

Dietrich: Ja, also die meisten frühen Schriften, das sind Schreibmaschinenschriften, und sogar wer eine Schreibmaschine kaufte, wurde sozusagen registriert, über lange Zeit war das schon eine schwierige Aktion. Dann sind es Ormig-Abzüge, also ich habe selber so eine Maschine besessen, das sieht blau aus und irgendwann kann man es gar nicht mehr erkennen. Also die Archive sind genötigt, diese Dokumente zu kopieren, sozusagen zu restaurieren, weil man die in wenigen Jahren nicht mehr lesen kann. Die wertvollste Form der Publikation zu Zeiten bis '89, das war, mit Wachsmatrizen zu vervielfältigen, also wenn es gut kam, waren das 500 Exemplare.

Karkowsky: Christian Dietrich spricht, der ehemalige DDR-Bürgerrechtler ist Gründer des Archivs Bürgerbewegung heute vor 20 Jahren gewesen. Herr Dietrich, vieles erklärt sich aus Ihrer Biografie. Heute sind Sie Pfarrer in Nohra bei Weimar, aber schon als 17-Jähriger haben Sie sich verbotenerweise engagiert in der DDR-Opposition. Wie kam es dazu?

Dietrich: Also ich habe Glück gehabt, dass ich in einer Familie aufgewachsen bin, die sozusagen der Lüge wenig Raum lassen wollte, der Zwiesprach, auf der einen Seite Westmedien wahrnehmen und Literatur lesen, die verboten ist, und dann in der Schule mitmachen – das war nicht der Weg meiner Eltern. Ich habe in der Weise Glück gehabt. Das hieß aber auch, dass ich am Bildungsweg sozusagen immer beschnitten worden bin, und das hat natürlich dazu geführt, sich selber zu engagieren. Und da war Kirche ein ganz wichtiger Partner für mich. Ich habe an einer kirchlichen Schule Abitur gemacht und dann Theologie studiert, und so bin ich nach Leipzig gekommen.

Karkowsky: In zwei Stunden etwa, um 17 Uhr, sitzen Sie auf einem Podium und blicken mit internationalen Kollegen zurück auf Ihre Sammlung, 20 Jahre von Selbstzeugnissen der Opposition. Nicht ohne Grund findet das im Polnischen Institut in Leipzig statt, denn Sie sind mittlerweile gut vernetzt, das Archiv ist gut vernetzt, und es fördert die Arbeit ähnlicher Archive in anderen ehemaligen Ostblockstaaten. Wie ist das denn anderswo? Geht man da genauso akribisch ran an die Aufarbeitung der Vergangenheit wie in Deutschland?

Dietrich: Also unser Gedächtnis ist glücklicherweise schon bewahrt worden, weil das Land geteilt war. Das ist für Polen viel dramatischer, und die Charta – nicht zu verwechseln mit der Charta 77 –, aus einer Zeitschrift entstanden, eine große Initiative in Polen, die für, ich denke mal, für die Demokratie Polens auch ganz wichtig war, die hat die Geschichte auch des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und sowjetische Okkupation recherchiert und das Gedächtnis der Opfer versucht zu bewahren und zu veröffentlichen. Da gibt es einen ganz langen Weg. Und wir haben damals nur den Schnitt gemacht quasi in die 80er-Jahre, und ich habe immer gesagt, die Geschichte ist viel weiter, also mir lag da viel mehr daran, auch die frühe Geschichte – einen Stalinismus-Arbeitskreis hatte ich gehabt – auch mit in den Blick zu nehmen. Das ist in Tschechien oder in Polen ganz selbstverständlich.

Karkowsky: Warum ist es denn für die ehemaligen polnischen Bürgerrechtler schwieriger, was die Bewahrung der eigenen Erzählung angeht?

Dietrich: Also schwieriger ist es, weil nicht woanders das noch gesammelt worden ist, vielleicht gab es Exilpolen in Amerika, aber die Geschichte zum Beispiel des Polens, das heute Ukraine ist, weil dieses ... Stalin-Hitler-Pakt sozusagen die Grenzen in Europa verschoben worden sind, das kann jetzt erst aufgearbeitet werden, da kann jetzt erst richtig geforscht werden. Und wir haben kaum noch Oral History, also kaum noch persönliche Erinnerungen. Ein Archiv lebt ja auch davon, dass wir die Zeugen noch befragen können und das daneben lesen können, ein Interview machen können, das auch noch in 20 Jahren das erklärt, was da der kleine Schnipsel sozusagen bedeutet.

Karkowsky: In Deutschland haben sich gleich mehrere Archive gebildet, die die Schriften und Taten der Bürgerbewegten sammeln. Arbeiten da eigentlich alle solidarisch zusammen, oder gibt es da auch Konkurrenz?

Dietrich: Also ich muss mal sagen, wir haben das Glück in Deutschland, dass das sofort der Bundestag selber auch zum Thema gemacht hat, und die erste Enquete-Kommission hat gesagt, dass diese Archive zu unterstützen sind. Das heißt, die Vernetzung ist auch getragen worden von der Öffentlichkeit. Und heute gibt es die Stiftung Aufarbeitung, die die Vernetzung auch weit über, also in Europa bis nach Russland und so weiter fördert, und ich bin der Meinung: So kann auch nur Europa gebaut werden. Also ohne dem wird das nicht gehen. Sicher gibt es auch Konkurrenzen, wenn man sozusagen aus dem selben Topf Geld haben will, dann gibt es auch Konkurrenzen, aber in Wahrheit arbeiten wir doch an demselben: die Stärkung eines demokratischen Selbstbewusstseins.

Karkowsky: Heute vor 20 Jahren hat er in Leipzig das Archiv Bürgerbewegung gegründet, der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Christian Dietrich. Ihnen danke für das Gespräch!

Dietrich: Ich danke Ihnen auch!