Die eigene Unvollkommenheit akzeptieren

20.02.2013
Wir fürchten den Zigarettenrauch des Nebenmanns und den Fettgehalt in der Wurst, schreibt der Philosoph und Politologe Johano Strasser. Er kritisiert die Regulierungswut der Bürokratie und die Tatsache, dass wir Sicherheit in technischen Lösungen suchen statt in sozialer Solidarität.
"So wie der gläubige Puritaner im 17.Jahrhundert sich dem unbegreiflichen Richtspruch seines Gottes ausgesetzt sah, so sieht sich der arbeitende Mensch heute der schicksalhaften Gewalt des Marktes ausgeliefert und dem irrationalen Geschehen an der Börse", schreibt der Philosoph und Politologe Johano Strasser. Ausgeliefertsein macht Angst und "Angst verkauft Zeitungen, Angst bringt Wählerstimmen, Angst nützt den Versicherungen". Auf 224 Seiten tadelt Strasser nicht etwa die Ängstlichen, sondern den Neoliberalismus :

"Ähnlich wie der gläubige Puritaner angehalten war, sein Tun und Lassen an strengen religiösen Gesetzen zu messen, wird vom modernen Arbeitnehmer verlangt, dass er sich ständig selbst optimiert und Eigenverantwortung übernimmt. Ohne ihm freilich Einfluss auf die Bedingungen seiner Arbeit einzuräumen. Perfide daran ist, dass die Propheten des Marktes diesen Zwang zu rastloser Anpassung als Entfaltung der Persönlichkeit feiern. Kein Wunder, dass sich die Menschen ihrer Angst und Schwäche schämen, statt zu protestieren."

Furchtbar neu ist derlei Kritik nicht. Phasenweise scheint das Buch nur ein Florilegium kluger Zitate zu sein, von A wie Adorno bis Z wie Jean Ziegler. Originell aber finde ich, wie Johano Strasser die Denkfigur vom Neoliberalismus als säkularisierter Religion der Angstmache auch dann durchhält, wenn es gegen uns Normalverbraucher geht:

Neben Ressourcenkriegen, Atomunfällen, Klimaerwärmung, Weltfinanzkrise und Terrorismus "fürchten wir den Alkohol im Weinglas, den Zigarettenrauch des Nebenmanns und den Fettgehalt in der Wurst" – und wieder ist die Rolle des rigorosen Richtergottes neu besetzt: etwa, wenn der Body Mass Index Korpulente und Kranke als Ketzer exkommuniziert.

Johano Strasser spreizt viele fremde Federn, kritisiert aber zu recht die Regulierungswut der Bürokratie und die Tatsache, dass wir öffentliche Sicherheit in technischen Lösungen suchen statt in sozialer Solidarität. Ummauerte Wohnviertel, videoüberwachte Plätze, Autos wie Panzer, PIN-Codes und Passwörter für alles und jedes, private Bodyguards. Wenn jeder Biedermann ein Bombenleger, ein pädophiler Priester, ein Amok laufender Anders Breivik sein könnte, dann erscheint es als leichtsinnig, mit dem Zugriff zu warten, bis man Beweise hat.

"Präventive Sicherheit" – damit begründete George Bush den Irakkrieg und mancher deutsche Innenminister die Vorratsdatenspeicherung. Eine "Kultur des Misstrauens" entsteht, der man Rechte und Freiheiten, Spielräume und Lebensfreude opfert. Die Lösung des Sicherheitsproblems wird zum Sicherheitsproblem. Ein Krieg aus Versehen wird so wahrscheinlich wie ein Drohnenangriff auf Unschuldige.

Was empfiehlt der Präsident des P.E.N-Zentrums Deutschland dagegen? Eine am Ende überraschende, aber logische Kombination aus der gelassenen Genussfähigkeit des Philosophen Epikur und der weisen Selbstbescheidung des Theologen Paulus:

"Die christliche Religion bringt etwas ein, was wir dringender brauchen als technischen Aufwand zur Abwehr von Gefahren: die Bereitschaft nämlich, die Grenzen der Vernunft sowie unsere eigene Endlichkeit zu akzeptieren. Zugleich kann sie helfen, dass wir uns mit der uns eigenen Unvollkommenheit angenommen fühlen."


Besprochen von Andreas Malessa

Johano Strasser : Gesellschaft in Angst. Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Gütersloher Verlagshaus 2013
224 Seiten, 19,99 Euro
Johano Strasser, deutscher Politologe, Publizist und Schriftsteller
Johano Strasser, deutscher Politologe, Publizist und Schriftsteller© picture alliance / dpa / Erwin Elsner