Die dunkle Seite der Kunst

Pierre Soulages, Brou de noix sur papier (1946)
Pierre Soulages, Brou de noix sur papier (1946) © DR, Archive Soulages / VG Bild-Kunst Bonn, 2010
Von Barbara Wiegand · 01.10.2010
Er gilt als einer der bedeutendsten abstrakten Maler weltweit, seine Gemälde befinden sich in allen großen Sammlungen und Museen: Pierre Soulages. Seit 63 Jahren malt der fast 91-jährige Franzose - und zwar schwarz.
Denn in fast allen seinen Werken beschränkt er sich auf diese Farbe, die ja streng genommen gar keine Farbe ist. Und so wird es jetzt auch im Berliner Martin Gropius Bau dunkel. Denn das Ausstellungshaus widmet dem eigenwilligen Künstler jetzt eine große Retrospektive:

" Die Farbe hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. Schon als Kind, wenn man mir da Farbstifte zum Malen angeboten hat, habe ich immer schwarz gewählt. Ich kann auch nicht sagen, warum. Aber es war so."

Erinnert sich Pierre Soulages, der natürlich ganz in schwarz zum Interview erschienen ist. Fast ganz in schwarz. Ein wenig Blau blitzt ab und an von der Rückseite seines Schals hervor. Ein Accessoire, das sich der Franzose allerdings nicht selbst gekauft hat, sondern geschenkt bekam, wie er lachend anmerkt. Um dann schnell das bisschen Farbe wieder zu verbergen und weiter zu erzählen. Davon, dass er als kleiner Junge mit den schwarzen Stiften dicke schwarze Striche aufs Papier gezeichnet hat. Einmal habe man ihn gefragt: Was malst du da? Schnee, lautete seine Antwort. Und schon damals war das kein Scherz, sondern ernst gemeint:

" Ich glaube, ich mag die Farbe Schwarz vor allem auch, weil sie so kraftvoll ist. So mächtig. Wenn man schwarz mit einer dunklen Farbe kombiniert, dann wirkt diese heller - schwarz ist die stärkste, die variantenreichste Farbe. Sie bringt die anderen Farben zum Leuchten."

Mit Schwarz sieht man also besser. Zum Beispiel das Weiß des Schnees in den erwähnten Kinderzeichnungen. Oder auch das Gelb, das Rot, das Blau, das er selten einmal verwendet. Es scheint hinter dunklen Strichformationen durch, als ginge gerade die Sonne auf, als seien die schwarzen Balken glühende Briketts. Als blicke man in den tiefblauen Himmel, der blendend hell hinter einem Vorhang aus schwarzer Farbe auftaucht. Als Pierre Soulages in den 40er-Jahren mit Teer dicke Linien auf gesprungene Glasscheiben pinselt, hebt er damit nicht nur die Zerbrechlichkeit des Untergrundmaterials hervor, sondern auch dessen Transparenz. Es ist eine der frühen Arbeiten, die am Anfang der chronologisch gehängten Schau zu sehen sind.

Schon hier verzichtet Pierre Soulages auf jede Figürlichkeit. Und lässt sich doch nicht so einfach in die Kategorie "abstrakter Maler" einordnen. Seine Kunst hat von vielem etwas - und vor allem viel Eigenes. Man entdeckt etwa Spuren des Informel, der amerikanischen Farbfeldmalerei. Spuren, die sicher von der Freundschaft mit Hans Hartung herrühren, von der Begegnung mit Marc Rothko. So erinnern die dunklen Striche auf seinen in den 40er- bis 60er-Jahren entstandenen Bildern an informelle Gesten, an kalligrafieartige Symbole. Dann breitet sich das Schwarz immer weiter aus. Bis in den 90er-Jahren aus einzelnen Linien monochrome Flächen werden, tiefschwarz und immer auch unergründlich:

"Ich nenne meine Art von Schwarzmalerei auch Outre Noir. Also "jenseits des Schwarz" oder das jenseitige Schwarz. So wie man in Frankreich von "jenseits des Atlantiks" spricht und Amerika meint. Wie man "jenseits des Rheins" sagt und dabei von Deutschland redet. Ich meine das aber im übertragenen Sinn. Also es geht nicht um etwas, was wir sehen. Sondern es geht um das Gefühl, das dieses Schwarz auslöst. Um das Gefühl, die Ahnung von dem, was dahinter, auf der anderen Seite verborgen sein mag."

… erzählt Pierre Soulages, der trotz der düsteren Thematik gar keinen depressiven Eindruck macht. Und ob nun von dieser oder der anderen Seite aus betrachtet, eines wird beim Betrachten seiner Bilder klar: Schwarz ist nicht gleich schwarz, es gibt viele Facetten. Mal ist das Schwarz matt, mal hochglänzend, mal arbeitet der 1919 in Südfrankreich geborene Künstler mit Kohle, mal mit Tinte, Holzbeize, Acryl oder Öl. Er trägt die Farbe mit einem Pinsel oder einer Bürste auf, oft mit einem Spachtel. Oder wenn gerade nichts anderes zur Hand ist, auch mal mit einem Scheit Holz. Er streicht die Farbe glatt, ritzt Rillen hinein, zieht Furchen, lässt Diagonalen auf Vertikalen treffen, feine haarige Strukturen auf Farbwulste. Es ist eine Vielseitigkeit, die in ihrer Dunkelheit aber vor allem eines braucht, um zu wirken - das Licht:

"Schwarz kann man ja nur sehen, wenn man Licht hat, nicht in der totalen Finsternis. Also kann man auch sagen, dass ich nicht mit schwarz male, sondern mit Licht. Mit den Reflektionen der schwarzen Oberflächen meiner Bilder."

Und wenn der bald 91-Jährige schwärmt, wie wunderbar es ist, wenn er zu Hause in Südfrankreich im Atelier sieht, wie sich seine Bilder mit dem Lauf des Tages verändern, wie sie vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung den Lauf der Zeit reflektieren, dann ahnt man, was man im Martin-Gropius-Bau verpasst - mit seinen zugehängten Fenstern. Dennoch wirkt die Schau sehr lebendig. Auch im Scheinwerferlicht kommen die abstrakten Bilder nie als Teil eines farblos trockenen Konzeptes daher. Die dunklen Seiten der Kunst, so wie Pierre Soulages sie malt, sie sind eigenwillig - und faszinierend unergründlich. Und schwarz zu sehen, ist hier ein eindrucksvolles Vergnügen

Die Retrospektive der Werke von Pierre Soulages ist bis zum 17.Januar 2011 im Berliner Martin Gropius Bau zu sehen