Die Ästhetik des Tennisspiels

Der schönste Sport der Welt

Serena Williams spielt eine Vorhand.
Eleganz und Bewegungsästhetik, wie hier bei US-Tennisstar Serena Williams - für viele ist Tennis der schönste Sport der Welt. © Imago / GEPA pictures
Von Jutta Heeß · 15.01.2017
"Tennis ist nicht nur ein Sport, sondern auch eine Kunst", hat Erich Kästner einmal gesagt. Auch andere Künstler begeistern sich für die Ästhetik des Tennisspiels: Anne-Sophie Mutter etwa, Lars Eidinger und Ilija Trojanow.
Ich kann mich erinnern, als Kind habe ich oft geträumt von Matches, und da hatte ich immer im Traum meinem Schläger als einen Fortsatz der Hand, fast so als wüchse der Schläger aus der Hand heraus. (Ilija Trojanow, Schriftsteller)
"Das hatte so etwas Heiliges. Es war auch der heilige Rasen in Wimbledon, und man musste auch ruhig sein beim Tennis, das hat mir auch gefallen, das hatte was Theatrales, dass man sagt 'Quiet please'." (Lars Eidinger, Schauspieler)
Der Schrei der Anne-Sophie Mutter – beim Matchball für Roger Federer beim Wimbledon-Finale 2009: "Es ist ganz lustig, nur meine Familie, meine Bekannte, kichern da, bei diesem Aufschrei, weil meine Stimme ja Gott sei Dank nicht bekannt ist, ja aber, wenn man die Stimme kennt, haha."
Für die Geigerin sowie den Schriftsteller und den Schauspieler – selbst große Künstler ihres Fachs – ist Tennis mehr als nur ein Sport.
"Tennis ist nicht nur ein Sport, sondern auch eine Kunst." (Erich Kästner)
Max Liebermann: Tennisspieler am Meer, erste Fassung, 1901
Max Liebermann: Tennisspieler am Meer, erste Fassung, 1901© Museum Kunst der Westküste, Alkersum, Föhr © Repro Lukas Spörl
"Jahrelang träumte ich von Ballwechseln. Mit geschlossenen Augen konnte ich meinem Schläger blind vertrauen. Alles gelang: die Rückhand longline, die Vorhand cross, der hohe, lange Entlastungslob, mit starkem Topspin gespielt. Ich bewegte mich nicht über den Platz, ich schwebte zum Ball. Es gab keine Zufälle, keine Einbrüche, kein Nervenflattern. Wenn mein Kopf auf dem Kissen lag, wurde perfektes Tennis gespielt. Ich träumte mit einer robusten Kondition, vergleichbar allein mit der Ausdauer früher erotischer Fantasien."
Träume von Tennis – die Leidenschaft von Ilija Trojanow begann an einer Garagenwand, gegen die er als Kind Bälle schlug. Er wuchs in Kenia auf, wurde mit zehn Jahren kenianischer Jugendmeister und spielte in der Tennismannschaft seines Internats. Seine Faszination für den Sport hat er in dem eben zitierten Essay niedergeschrieben, erschienen im Buch "Meine Olympiade". Darin schildert er, wie er innerhalb von vier Jahren alle 80 olympischen Disziplinen trainiert hat. Die Schönheit des Tennis beschäftigt ihn nach wie vor:
"Tennis besteht ja im Gegensatz zum Badminton überwiegend aus horizontalen Achsen, bei längeren Ballwechseln ist es ja immer eine halbe Pirouette, also man dreht sich, wenn man den Schlag perfekt macht, immer etwas zur Seite und schwingt durch den Ball und vollzieht die zweite Hälfte dieser Pirouette. Auch die vielen kleinen Schritte haben etwas von Tanzen. Und das hat für mich etwas Betörendes."

Exklusivität und Eleganz von Anfang an

Tennis als Tanz, als schöne Kunst – so ist es nicht erstaunlich, dass eine mögliche Erklärung des Begriffs "Tennis" eine Ableitung vom deutschen Wort "Tanz" ist. Eine zweite Theorie geht davon aus, dass "Tennis" auf den französischen Ausruf "Tenez!" zurückgeht, was "Nehmt oder haltet den Ball!" bedeutet.
Beim Jeu de Paume, dem Vorläufer des Tennis-Spiels im 13. Jahrhundert, wurde ein Ball mit den Handinnenflächen in einem rechteckigen Feld über ein Netz gespielt, überwiegend in Klöstern und fürstlichen Höfen. Exklusivität und Eleganz prägten Tennis, den späteren "weißen Sport", also bereits in seiner Geburtsstunde. Das heutige Spiel entstand schließlich im Zuge der ersten Meisterschaften in Wimbledon im Juli 1877. Und 108 Jahre später hörte sich das so an:
(Ausschnitt Reportage Boris Becker 1985)
Boris Becker hechtet nach einem Ball in Wimbledon 1985: Er gewann das Turnier und das sollte ihn zu einem Superstar machen
Der 17-jährige Boris Becker beim Turnier von Wimbledon 1985. Nach seinem Sieg wurde zum internationalen Superstar.© dpa / picture alliance / Rüdiger Schrader
Ilija Trojanow: "Ich kann mich erinnern, man hat sich verabredet, um zusammen Wimbledon zu gucken in der Boris-Becker-Zeit, viele Leute, die selber nicht Tennis gespielt haben."
In den 80er- und 90er-Jahren, als Boris Becker und Steffi Graf das Welttennis dominierten, war fast jeder Deutsche – im Osten und im Westen - ein Tennisfan. Und heute? Die Mitgliederzahlen des Deutschen Tennis-Bundes sinken von Jahr zu Jahr. Doch 2016 war der Schwund etwas geringer, nur knapp ein Prozent. Es gibt eine klitzekleine Renaissance des Tennis, dank der Erfolge von Angelique Kerber, die 2016 die Australian und die US Open gewann und Nummer Eins der Weltrangliste wurde.
Erfolge von Athleten sind natürlich förderlich für Ruhm und Popularität einer Sportart. Doch um das Außerordentliche am Tennissport zu erkennen, braucht man nicht unbedingt große Leistungen von Superstars. Es reicht, genau hinzuschauen. Denn Tennis ist der schönste Sport der Welt, sagen seine Fans. Ein Sport, der im Bewegungsablauf unglaublich anspruchsvoll ist. Der zugleich Gefühl für den Ball sowie Kraft und Schnelligkeit erfordert. Laufen, schlagen, den Gegner jagen – Tennis ist in Taktik und Dramatik einzigartig und erfordert strategisches Denken wie beim Schach sowie mentale Stärke. Tennis fesselt durch sein rhythmisches Hin-und Her Zuschauer vor dem Fernseher und in den Tennisarenen.
Anne-Sophie Mutter: "Schon als Teenager für Tennis interessiert, war großer Fan von Borg und McEnroe, von dieser Generation, die ich leidenschaftlich bewundert habe. Natürlich war ich auch absolut im Boris-Becker-Fieber, als er als junger Mann Wimbledon gewann, aber dann kam die Tennispause - und dann tauchte Roger Federer auf. Und wenn man einmal Roger Federer gesehen hat, dann muss man dieser Ästhetik, dieser Eleganz, dieser ganz wunderbaren poetischen Spielweise verfallen. Ich kann gar nicht verstehen, wie man Fan von einem anderen lebenden Tennisspieler sein kann, wenn man Roger Federer gesehen hat."

Die eigenen Konzerttermine am Turnierplan Federers ausgerichtet

Anne-Sophie Mutter bezeichnet sich selbst als "Groupie" von Roger Federer. Sie hat bereits eigene Konzerttermine so gelegt, dass eine Chance bestand, Federer in einem Grand Slam-Turnier sehen zu können – wie beim Wimbledon-Finale 2009, als sie seinen Matchball mit einem kleinen Schrei begleitete. In einem Essay für das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" hat sie einmal das Spiel Federers mit der Virtuosität des Geigenspiels verglichen, den Bogenstrich auf der Saite mit der einhändigen Rückhand, "dem schönsten Schlag im Tennis", wie auch John McEnroe einmal sagte. Sie hat damit am konkreten Beispiel Federer das Kunstvolle am Tennis im Allgemeinen sehr präzise beschrieben – als eine Analogie zwischen Geigen- und Tennisspiel:
"Es ist das, was man sich als Musiker auch wünscht. Nun ist die athletische Komponente beim Geigenspielen nicht so im Vordergrund, aber auch da kommt es auf den Sweet Spot an, genauso wie man den Sweet Spot auch finden muss auf dem Tennisschläger. Es ist also nicht die schiere Kraft, sondern es ist die Fülle der Möglichkeiten eine bestimmte Phrase zu spielen auf der Geige, das ist ähnlich. Und da geht es nicht nur um das, was trainierbar ist, sondern auch um das Gefühl, wo auf dem Schläger ist jetzt in dieser Sekunde der perfekte Treffpunkt und genauso wie ich auch den perfekten Treffpunkt des Bogens auf der Saite zwischen Steg und Griffbrett finden muss."
Der amerikanische Schrifsteller David Foster Wallace 2006
Ebenfalls ein großer Tennis-Fan: der amerikanische Schrifsteller David Foster Wallace, zwei Jahre vor seinem Selbstmord 2008.© picture alliance/dpa/Foto: Maxppp
(Lars Eidinger liest David Foster Wallace:) "Vierter Satz, Finale der US Open 2005, Roger Federer schlägt auf gegen Andre Agassi. Zuerst ist es das typische Hin und Her des modernen Power-Grundlinienspiels, Federer und Agassi hetzen einander von einer Seite zur anderen, bis schließlich Agassi einen Ball gegen die Laufrichtung Federers schmettern kann, eigentlich ein tödlicher Ball. Federer ist noch im linken Feld, fast schon an der Mittellinie, doch er schaltet irgendwie auf Umkehrschub, macht drei, vier unglaublich schnelle Schritte zurück und schlägt, das ganze Gewicht nach hinten verlagernd, aus der linken Ecke eine Vorhand, der Ball passiert Agassi, Federer tänzelt noch, während der Ball aufspringt. Entsetztes Schweigen bei den New Yorker Zuschauern, bevor die Menge explodiert. John McEnroe, der das Spiel im Fernsehen kommentiert, sagt (mehr oder weniger zu sich, so klingt es jedenfalls): 'Wie kann man aus dieser Position einen solchen Ball schlagen?'"

Tennis - das ist "Poesie in Bewegung"

Der US-Schriftsteller David Foster Wallace, hier gelesen vom Schauspieler Lars Eidinger, hat auch von Roger Federer geschwärmt, über ihn und über Tennis geschrieben. Wallace, der sich 2008 im Alter von 46 Jahren das Leben nahm, war selbst ein erfolgreicher Tennisspieler in seiner Jugend – auch in seinem literarischen Werk hat er sich immer wieder mit dem Sport auseinandergesetzt. Fünf Essays über Tennis, zusammengefasst in einem Band mit dem schönen Titel "String Theorie", hat er verfasst, unter anderem den gerade zitierten Beitrag über die Spielkunst Roger Federers. "Poesie in Bewegung" heißt der Titel in der deutschen Übersetzung.
"Federer in Weiß auf dem Wimbledon-Rasen ist wie ein Wesen aus Fleisch und Licht". David Foster Wallace gelingt es, in diesem und in anderen Texten Athletik und Psychologie des Tennisspiels zu transzendieren und zugleich lebendig zu machen.
Porträt des des Schriftstellers Ilija Trojanow
Der Schriftsteller Ilija Trojanow träumte als Kind vom perfekten Tennis und wurde immerhin einmal kenianischer Jugendmeister.© picture alliance / dpa/ Christian Charisius
(Ilija Trojanow:) "Die Texte von David Foster Wallace sind schon sehr, sehr gut, das ist ein einmaliger Fall, dass jemand so ein extrem guter Tennisspieler war, das ist hervorragend auf den Punkt gebracht."
David Foster Wallace’ Schreiben über Tennis entspricht im übertragenen Sinn dem Spiel eines überlegenen Tennisspielers, der seinen Gegner völlig in der Hand hat: So wie ein Spieler die Bälle platziert und den Gegner laufen lässt, setzt Foster Wallace seine Gedanken und lässt die Worte fließen. Strategisch, fast mathematisch, mental überlegen – das athletische Schachspiel auf dem Centre Court findet in den Texten David Foster Wallace’ seine literarische Entsprechung. Auch in seinem bekanntesten Roman, "Unendlicher Spaß", finden sich zahlreiche virtuose Schilderungen von Tennisturnieren.
"Auf [Platz] 1 steht John Wayne am Netz, und Port Washingtons Topjunior spielt einen Lob. Ein wunderschöner Ball: Er steigt langsam empor, streift fast die Stahlträger und Lampen an der Decke der Innencourts und sinkt staubflusenleicht wieder hernieder: eine herrliche Kurve zweiter Ordnung aus fluoreszierendem Grün mit wirbelnden Rändern. John Wayne läuft rückwärts, fliegt ihm nach. (...) Er nähert sich dem zweiten Aufstieg des aufgeprallten Balls von der Seite, wie man sich jemandem nähert, dem man wehtun will, muss hochspringen und eine halbe Pirouette machen, um die richtige Seite des Balls zu erwischen, drischt ihn beim Anstieg mit dem dicken rechtem Arm zurück und schmettert ihn die Linie entlang am Port Washington-Junior vorbei."

Hamlet mit dem Tennisschläger - beinahe jedenfalls

Einer, der auch die Atmosphäre von solchen Matches kennt, ist der Schauspieler Lars Eidinger. Der 40-Jährige hat in seiner Jugend intensiv Tennis gespielt, hat jeden Nachmittag trainiert und ist zu Turnieren gereist. Eidinger hatte 2009 seine erste große Filmrolle in Maren Ades "Alle anderen" und ist Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Über 230 Mal spielte er in der Regie von Thomas Ostermeier Shakespeares "Hamlet" – in der Fechtszene gegen Laertes schwang Eidinger als Hamlet das Florett, als sei es ein Tennisschläger.
"Dann gab es einen Punkt, wo ich mich gefragt hat, wie fechtet denn Hamlet, inwieweit kann man seinen geistigen Zustand thematisieren, wie er die anderen über einen gespielten Wahnsinn provozieren will. Dann fing ich so an auszuprobieren, den anderen zu provozieren mit unkonventionellen Sachen. Ich habe es dem Fechttrainer vorgeschlagen, was hältst du davon, wenn ich Tennisschläge mache? Er fand es total doof, er wollte das nicht, aber ich habe mich dann durchgesetzt."
Der Berliner Schauspieler Lars Eidinger focht als "Hamlet" mit Tennisbewegungen
Der Berliner Schauspieler Lars Eidinger© dpa / picture alliance / Uwe Zucchi
Tennis auf der Bühne, Tennis als Zeichen des Wahns – für Eidinger ist das jedoch mehr als bloß ein abgefahrenes Stilmittel. Tennis hatte bereits früher etwas Theatrales für ihn:
"Allein die ganze Ästhetik, dass das was von Colosseum hat, so urban, so ein Kessel, und dann heißt es auch noch Centre Court, das ist wie eine Bühne. Ich dachte immer, das sind Gladiatoren, wenn sie so auf die Bank gehen, sich konzentrieren, das Spielfeld betreten, das hatte schon einen wahnsinnigen Show-Charakter. Man kann das ja wirklich durchdeklinieren, hat immer etwas hochgradig Theatrales gehabt, wenn man sich erinnert, wie Monica Seles verletzt wurde, ist ja in jeder Hinsicht ein Shakespeare-Drama, dass ja jemand mit einem Dolch jemanden ansticht oder verletzt. Und dass die danach nicht mehr spielen kann, weil sie Angst hat, Fan von Steffi Graf, irrsinnig."

Matches, die in die Geschichte eingingen

Das Drama auf dem Centre Court – in diesem speziellen Fall trifft der Vergleich natürlich auf tragische Weise zu. Aber so manches Fünf-Satz-Match ist tatsächlich ein Drama in fünf Akten. Das sind zum Beispiel legendäre Begegnungen wie das Wimbledon-Finale 1980, als Björn Borg John McEnroe mit 8:6 im fünften Satz besiegte. Oder der Kampf zwischen Boris Becker und McEnroe beim Davis-Cup 1987 in Hartford, der sechs Stunden und 21 Minuten dauerte und in dem am Ende Becker die Oberhand behielt. Das letzte Fünf-Satz-Match im Frauentennis bestritten Steffi Graf und Martina Hingis 1996 bei den WTA Finals in New York, Steffi Graf gewann den fünften Satz mit 6:0. Auch das bereits erwähnte Wimbledon-Finale 2009 zwischen Roger Federer und Andy Roddick, das Federer im fünften Satz mit 16:14 für sich entschied, ging in die Geschichte ein:
(Anne-Sophie Mutter:) "Das war ja episch. Er hat ja über 50 Asse geschlagen. Das Spiel werde ich nie vergessen. Es war einfach unfassbar. Und da war Federer absolut im Flow, da gelang ihm einfach alles und das zu sehen, ist einfach ein großartiges Erlebnis."
Angelique Kerber präsentiert die Trophäe der US Open
Angelique Kerber präsentiert die Trophäe© picture alliance / dpa Justin Lane
Bei solchen Spielen entscheidet am Ende nicht unbedingt das Können über Sieg oder Niederlage – sondern der Kopf. Die Psyche ist im Tennissport extrem wichtig. Allein auf dem Platz, ohne Beistand von Mannschaftskollegen und Trainern, wird so manche Partie zum Nervenkrieg. Ein einziger verlorener Punkt - und ein Match kann kippen.
(Ilija Trojanow:) "Die wirklich großen Spieler, sei es jetzt Borg, Sampras oder Federer, zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie so eine Zen-Ruhe haben, dass sie sich nicht von Äußerlichkeiten in der Kernkompetenz ihres Tennisspiels beeinflussen lassen."
(Lars Eidinger:) "Alle hatten auch so Rituale, wie sie zur Konzentration finden, Becker hat immer so seine Fingerkuppen gepustet und immer dieses Wippen, was fast so was Hospitalistisches hatte, Edberg hat immer so sein T-Shirt nach hinten geworfen, weil es schon ein bisschen feucht war, damit er die Bewegungsfreiheit für den Aufschlag hat und lauter so Sachen. Das habe ich bis heute übernommen, ich habe auch so Sachen beim Theaterspielen, wie ich in die Konzentration gehe und halte mich da an so Sachen fest, die ich beim Tennis gelernt habe. Ich würde auch behaupten, dass es eine meiner Stärken ist, als Schauspieler eine Konzentration aufzubauen, in der ich auf den Punkt funktioniere. Und das ist das große Geheimnis von Tennis."
Das Geheimnis und die Faszination von Tennis liegen womöglich im unmittelbaren Aufeinandertreffen zweier Menschen. Wie in einem Duell. Wie beim Boxen. Einzelkämpfer stehen einander gegenüber.

Ein "ideales Motiv für die Literatur"

Tennis ist ebenso eine Kombination aus Eleganz und Aggression. Ein ideales Motiv für die Literatur. Eigentlich gilt Boxen als DER Sport der Autoren: Norman Mailer, Georges Simenon, Ernest Hemingway, Robert Musil, Joyce Carol Oates und viele andere haben über den Kampf im Ring geschrieben. Doch ein Ästhet wie Federer oder ein Hitzkopf wie McEnroe stehen als literarische Vorlage einem Muhammad Ali oder einem George Foreman in nichts nach. Auch Tennis hat Schriftsteller inspiriert: unter anderen Thomas Mann, Alfred Andersch, Martin Walser, Lars Gustafsson und wie schon erwähnt David Foster Wallace. Der US-Autor John McPhee hat in seinem Buch "Schlagabtausch" das komplette Match zwischen Arthur Ashe und Clark Graebner 1968 beim Turnier in Forest Hills beschrieben:
"Ashe drängt auf den Ausgleich. Ihm ist unwohl dabei, Graebner, der wieder einen fast unspielbar harten, aber gerade noch erreichbaren Aufschlag loslässt, in Führung zu wissen. Ashe taucht nach dem Ball und stoppt ihn mit seinem Schläger, sein Return flattert über das Netz und plumpst an der Seitenlinie nieder. Graebner kann es kaum fassen, dass der Ball zurückkam. Er reagiert nicht. 'Unglaublich", sagt er zu sich.'"
Auch Ilija Trojanow gibt zu, dass er einmal über einen Tennis-Roman nachgedacht habe:
"Ich habe mal gedacht, die 80er-Jahre und die Boris-Becker-Zeit, da könnte man mal anknüpfen. Aber dann habe ich 'Karlmann' von Michael Kleeberg gelesen und der hat es ja sehr gut gemacht."
(Aus "Karlmann":) "Aufschlag von links. Die rosige Zunge zwischen den Lippen. Jetzt geht es schnell. Die Explosion. Currens Reflexbewegung. Die hintere rechte Ecke des Platzes. Irgendwo hoch oben, eine Sternschnuppe, der wegspringende weiße Ball. Aufrauschender Jubel, darin verkapselt, klein, trocken, die Stimme: Game, set and Match Becker. Der reißt die Arme hoch, sein Kopf hängt. So geht er zum Netz. Das strahlende Jungenlachen. Erlösung."

Weniger extrovertierte und charismatische Typen

Tennisspiele werden Literatur. Und Literatur wird großes Tennis. Der Hauptdarsteller dieser Szene prägte zudem einen Schauspieler: Lars Eidingers Antwort, auf die Frage, mit welchem Tennisspieler er sich auf der Bühne vergleichen würde, ist:
"Boris Becker, da war es auch so, dass man immer gebannt war, weil man Angst um ihn hatte und dachte, er hat sich nicht im Griff. Dann hat er den Zuschauer immer so mitgenommen, mit extremen Sachen wie ne Becker-Rolle, wie eine Welle an Sympathie, fast so, als hätte man diese Rolle mitgemacht, dann ist da ein Ball, unerreichbar, und dann springt er und kriegt ihn, diese aufgeschürften Knie, dass er über seine Grenzen geht, dass es wehtut und dass es etwas Märtyrerhaftes hat, er sich opfert. Das ist schon auch ne Art, wie ich Theater spielen will. Ich glaube, es ist Boris Becker, ja."
Wenn Lars Eidinger Boris Becker auf der Bühne ist, ist dann Anne-Sophie Mutter Roger Federer an der Geige?
"Ich wünschte. Das Äquivalent zu Federer wäre wahrscheinlich Jascha Heifetz auf der Geige."
Bei aller Begeisterung und Faszination: Warum hat der Sport heute nicht mehr die Attraktivität von einst? Weshalb verlieren die Vereine permanent Mitglieder? Wieso werden abgesehen von Roger Federer überwiegend Spieler einer vergangenen Epoche - McEnroe, Borg, Sampras, Becker – als Beispiele für großes Tennis herangezogen? War früher alles besser? Zugegeben, der Tennissport hat sich verändert, die Spieler sind alle extrem athletisch, technisch ähnlich perfekt, psychologisch geschult, es gibt weniger extravertierte Typen und charismatische Spieler als früher. Eine Entwicklung, die man in vielen Sportarten beobachten kann – ebenso in der Musik, wie Anne-Sophie Mutter schildert:
"Und bei uns Musikern ist es die Glätte des Spiels und der Fokus auf das rein Technische, das dann auch leider die Musik etwas erstarren lässt. Man ist entzückt über die Technik, aber es fehlt die künstlerische Komponente. Heute spielt man schneller denn je und perfekter denn je. Ist das der Musik zuträglich? Ich glaube nicht, weil die Musik vielleicht ähnlich wie so ein eleganter poetischer Sport wie Tennis auch davon lebt, dass eben mehr als Technik, dass man mit der Technik zu besonders schönen Spielzügen findet, zu einem besonders schönen Dialog der Bälle. Es endet dann immer in diesem Monolog, ich hau drauf, der andere staunt und kann nicht retournieren. Und manchmal passiert das ja auch im Konzert, dass in der Fülle der schnell gespielten Noten der Sinn der Musik völlig untergeht."
Alexander Zverev returniert beim Tennisturnier in St. Petersburg einen Ball seines Gegners.
Nachwuchshoffnung Alexander Zverev returniert einen Ball seines Gegners.© dpa / picture alliance / Peter Kovalev
Tennis wird hoffentlich nicht untergehen. Vielleicht können Angelique Kerber sowie der 19-jährige Hamburger Alexander Zverev Tennis hierzulande wieder etwas populärer machen? Zverev schlug bereits Roger Federer und steht aktuell auf Platz 24 der Weltrangliste. Womöglich hat der Sport seine Hochzeit als Spielfeld für künstlerische Projektionen bereits hinter sich. Doch mit neuen, jungen Spielern und packenden Begegnungen wird auch in Zukunft seine Schönheit aufblitzen - und vielleicht den einen oder anderen Künstler inspirieren.
Mehr zum Thema