Dicker Stammbaum

11.02.2006
Wer ein guter Futterverwerter ist und schon beim Anblick von Kuchen zunimmt, ist ein besonderer Phänotyp. Über einhundert verschieden Gene werden derzeit mit Fettleibigkeit in Verbindung gebracht und wenn sich das genetische Karussell mal wieder dreht, haben manche Nachkommen Glück, manche Pech - je nachdem, wohin die lieben Gene gefallen sind. Ist damit jede Verantwortung für maßvolles Essen und Trinken von uns genommen, weil wir die Sklaven unserer Gene sind?
All die vielen Regulatoren von Nahrungsaufnahme und Körpergewicht haben ihre Grundlage natürlich letztendlich im Erbgut. Je mehr Komponenten eine Rolle spielen, desto mehr Defekte an den entsprechenden Genen oder deren Produkten sind möglich, desto mehr Möglichkeiten gibt es für Störungen. Bisher werden bereits mehr als hundert verschiedene Gene mit dem Phänomen Fettleibigkeit in Verbindung gebracht. Nur in wenigen Fällen ist ein einzelnes defektes Gen die Ursache. Wesentlich häufiger wirken mehrere Gene zusammen, wie man das für die meisten "Phänotypen" kennt.

Zu den seltenen Beispielen für Defekte, die auf einem einzigen Gen beruhen, gehören Kinder mit einer Mutation im Gen für den Neurotrophin-Rezeptor TrkB. Sie entwickeln beim Essen einen ungewöhnlichen Appetit. Ein gesunder Fünfjähriger hört bei ungefähr 240 Kilokalorien auf zu essen. Ein gleichaltriges – aber inzwischen doppelt so schweres – Kind mit Gendefekt verschlingt 2400 Kilokalorien bei einer Mahlzeit. Also das Zehnfache. Das entspricht dem Tagesbedarf eines Erwachsenen. Ähnlich reagieren Kinder mit einer Mutation im Leptin-Gen oder im Melanocortin-4-Rezeptor-Gen.

Soll und kann man solche Kinder zur Mäßigung anhalten? Natürlich hat man das versucht. Aber die kleinen Patienten reagieren oft sehr aggressiv, wenn Ärzte oder Eltern sie auf Diät zu setzen versuchen. Hier werden alle Aufklärungs- und Motivationskampagnen auch wenig bringen. Sie haben einfach Hunger – eines unserer archaischsten, tiefsitzendsten Gefühle, das kaum zu bändigen ist. Diese Kinder leiden Hunger, auch wenn sie eigentlich mehr als genug zu essen bekommen. Sie reagieren genauso wie ein Gesunder, der auf eine ziemlich restriktive Diät gesetzt wird. Sie werden unleidlich, aggressiv, manchmal sogar panisch. In diesem Gefühlszustand befinden sich solche Kinder permanent!

In der Regierungserklärung von 2004 musste ein Kind mit einem genetischen Defekt als "Beweis" für ungehemmte Fresssucht und ihre furchtbaren Folgen herhalten. Sehr wahrscheinlich leiden auch viele andere extrem fette Kinder, die gern im Fernsehen oder in Illustrierten zum Zwecke der Volkserziehung vorgezeigt werden, an solchen Krankheiten. Nach Einschätzung der Kinder-Adipositasexpertin Annette Grüters von der Berliner Charité sind mindestens fünf Prozent der stark übergewichtigen Kinder von einem schwerwiegenden Gendefekt betroffen. Mindestens. Niemand weiß, wie viele es wirklich sind.

Solche Kinder als Beweis dafür vorzuführen, dass sich junge Menschen mit Hamburgern zu Tode futtern, zeigt, dass diese Branche keine, aber auch gar keine Skrupel kennt, um sich wichtig zu machen oder um sich persönliche Vorteile zu verschaffen. Für Quote oder Bilanz werden kranke Minderjährige öffentlich gedemütigt. Und diejenigen, die diese emotional bewegenden Bilder sehen und dafür noch bezahlen, werden für dumm verkauft. Nach dem gleichen Strickmuster könnte man auch ein geistig behindertes Kind öffentlich als Versager brandmarken und seine Eltern als verantwortungslose Zeitgenossen charakterisieren, weil sie mit ihm nicht ordentlich lesen und schreiben üben. Statt eine angemessene Therapie zu erhalten, muss sich das Opfer verhöhnen und mit nachweislich nutzlosen Verhaltensempfehlungen abspeisen lassen. Wo bleiben da eigentlich die Wächter der Menschenwürde?

Extremfälle aufgrund einer Erbkrankheit machen aber nur einen Teil der übergewichtigen Kinder aus. Was ist mit dem Rest? Hier gibt es doch bestimmt ein weites Feld zur Korrektur von falschem Eß- und Bewegungsverhalten?

Leider nein. Denn man muss nicht an einer Erbkrankheit leiden, die genetische Veranlagung spielt auch bei allen anderen, gesunden Menschen – egal ob schlank oder dick – eine bedeutende Rolle. Der größte Risikofaktor für ein Kind ist – das Gewicht der Eltern. Es ist äußerst selten, dass in einer Geschwisterreihe sowohl richtig dünne als auch richtig dicke Kinder auftauchen. Falls doch, könnte das an einer Krankheit liegen – oder eben doch an den Genen. Für diesen Fall raten Experten wie Johannes Hebebrand von der Uniklinik in Essen "zu überprüfen, ob es sich um den gleichen leiblichen Vater handelt".

Schon viele Mediziner und Genetiker haben sich darüber Gedanken gemacht, wie hoch der Anteil des Erbguts beim Körpergewicht ist. Die Bandbreite der Schätzungen liegt zwischen 40 und 90 Prozent. Nach Berechnungen des Stanford-Genetikers Gregory Barsh und seiner Kollegen sind es 50–90 Prozent, Stephen O'Rahilly und seine Mitarbeiter aus Cambridge kommen auf 40–70 Prozent, Johannes Hebebrand aus Essen und seine Koautoren geben 50–80 Prozent an. Außer den beiden deutschen Vorzeige-Ernährungsministerinnen Künast und Lautenschläger ist jedenfalls niemand der Meinung, man sollte die Gene ganz vergessen.

Wie lässt sich eigentlich feststellen, ob der Einfluss des Erbguts nun bei 40, 70 oder mehr Prozent liegt? Zum Beispiel, indem man Adoptivkinder beobachtet. Was passiert, wenn Kinder schlanker leiblicher Eltern zu dicken Adoptiveltern kommen, oder umgekehrt? Während es statistisch eine "starke Beziehung" zwischen dem Gewicht der leiblichen Eltern und dem ihrer Kinder gibt, findet sich zum BMI der Adoptiveltern "keine Beziehung". Der Einfluss der Pflegefamilie auf das Gewicht ist so gering, dass er nicht einmal messbar ist!

Damit hat sich so ganz nebenbei auch die populäre Vorstellung erledigt, die Eßgewohnheiten einer Familie entschieden über die Gewichtsentwicklung. Mit ihrer Einschätzung, "wenn also mit dem Essverhalten des Nachwuchses etwas nicht stimmt, läuft wohl generell am Esstisch der Familie einiges schief", liegt Ministerin Lautenschläger voll daneben. Die vorliegenden Befunde zum Thema Gewicht erlauben jedenfalls nur eine Schlussfolgerung: Erziehung und das Ernährungsumfeld in der Familie spielen, wenn überhaupt, nur eine geringe Rolle für die Gewichtsentwicklung des Nachwuchses.

Solche Überlegungen und Einsichten interessieren manche politischen Entscheidungsträger offenbar herzlich wenig. Sie sind sicher, dass Übergewicht garantiert nichts Erbliches ist. So verkündet die hessische Sozialministerin in ihrem Buch Dicke Kinder im Brustton der Überzeugung: "Wenn ein Kind gerne und viel zu viel nascht, ist der Vater gewiss kein Asket". Also ein klarer Fall elterlichen Versagens.

Denkt man diese Logik einen Schritt weiter, so stellt sich die Frage: Muss man Eltern, deren Kinder sich nicht normgerecht entwickeln, wegen Verletzung der Fürsorgepflicht bestrafen und ihnen ihre Söhne und Töchter wegnehmen, um diese in vergitterten Abspeckkliniken zur Raison zu bringen? Eine etwas polemische Frage? In einigen Fällen ist sie schon gestellt und mit der harten Hand der Justiz mit Ja beantwortet worden. Die Mutter der im Alter von 13 Jahren verstorbenen Christina Corrigan wurde 1997 von einem kalifornischen Gericht wegen Kindesmissbrauchs verurteilt, weil Christina 309 Kilo gewogen hatte. Und das obwohl sie bis dahin bei den verschiedensten Stellen um Hilfe gebeten, unter anderem etwa 90mal einen Kinderarzt aufgesucht hatte, der ihr aber sagte, dass "dem Kind nichts fehle, was Diät und Bewegung nicht beheben könnten". Christina litt wahrscheinlich am Prader-Willi-Syndrom, einer Erbkrankheit, die zu Heißhunger und einem extrem verlangsamten Stoffwechsel führt. Sie litt nicht an Überernährung oder Missbrauch. Womöglich war das Schlimmste nicht das Gewicht, sondern die Brutalität einer Gesellschaft, die glaubt, Menschen nach Lust und Laune erniedrigen zu können, die zufällig an einer Krankheit leiden, die geächtet ist.

Entnommen aus: "Esst endlich normal! Wie die Schlankheitsdiktatur die Dünnen dick und die Dicken krank macht" von Udo Pollmer, erschienen bei Piper (München) ISBN: 3-492-04791-2
Mit einem ausführlichen Quellenverzeichnis.