Der Verlauf des Hauptkriegsverbrecherprozesses

Von Winfried Sträter · 14.11.2005
Der britische Richter Lord Geoffrey Lawrence eröffnet am 20. November 1945 das Tribunal. Er fordert die Angeklagten auf, sich der Anklage gegenüber schuldig oder nicht schuldig zu bekennen. Erst neun Monate später ziehen sich die Richter zur Urteilsfindung zurück.
Der britische Richter Lord Geoffrey Lawrence eröffnet am 20. November 1945 das Tribunal. Er fordert die Angeklagten auf, sich der Anklage gegenüber schuldig oder nicht schuldig zu bekennen. Göring wird als erster gefragt.

Göring: " … nicht schuldig."

Alle 21 Angeklagten erklären, sie seien nicht schuldig.

Wilhelm Frick: "Nicht schuldig! "

Nach den Angeklagten hat der Chefankläger das Wort: der amerikanische Bundesrichter Robert Jackson, der maßgeblich am Zustandekommen dieses Prozesses beteiligt war.

" Auf der Anklagebank sitzen etwa 20 gebrochene Männer. Die Möglichkeit, jemals wieder Unheil zu stiften, ist ihnen für immer genommen. Man mag sich beim Anblick dieser armseligen Gestalten, wie sie hier als Gefangene vor uns sind, kaum vorstellen, mit welcher Macht sie als Nazi-Führer einst einen großen Teil der Welt beherrscht und fast die ganze Welt in Schrecken gehalten haben. "

Robert Jackson hält zum Auftakt eine Grundsatzrede, die außerordentlichen Eindruck hinterlässt.

" Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Sieg und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutendsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft gemacht hat. "

Robert Jackson. Er schafft es, dem Tribunal die Weihe einer höheren Aufgabe zu verleihen. Und er entkräftet den Vorwurf, in Nürnberg gehe um eine Siegerjustiz ohne rechtsstaatliche Grundlage. Nach über fünf Stunden gipfelt seine Anklage in dem Satz:

" Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation! "

Eine amerikanische Zeitung kommentier, Jacksons Rede sei "eine der bedeutendsten Eröffnungsreden, die je vor einem Gericht gehalten wurden".

Am nächsten Tag marschiert der Stab der amerikanischen Anklagevertreter in den Gerichtssaal ein – mit riesigen Stößen von Dokumenten, die den Alliierten in die Hände gefallen sind. Auch das – ein eindrucksvoller Auftritt. Der Verteidiger Egon Kubuschok muss feststellen, dass die Gründlichkeit der deutschen Bürokratie nun den Angeklagten auf die Füße fällt:

Kubuschok: "Alles, was überhaupt da war, ist schriftlich festgelegt worden in Exemplaren, ich glaube, in 14 Stücken sind sie überall vergraben worden oder sichergestellt worden und es war natürlich ein Leichtes, da 14. Exemplar irgendwo zu finden, .. und wir standen überraschend davor. "

Dem spektakulären Auftakt folgt jedoch ein überraschend schwieriger Prozess. Die tonangebenden amerikanischen Ankläger legen dem Gericht eine Flut englischer Übersetzungen der deutschsprachigen Dokumente vor. Das Gericht soll sie als Beweisstücke entgegennehmen. Doch im Gerichtssaal wird in vier Sprachen verhandelt: englisch, französisch, russisch und deutsch. Das haben die Amerikaner souverän ignoriert.

Die Richter fällen einen für die Ankläger folgenschweren Beschluss: Sie akzeptieren nur, was vollständig vorgelesen und dabei simultan übersetzt wird. So folgt dem spektakulären Auftakt ein monatelanger ermüdender Marathon von Lesestunden. Im Gerichtssaal kommt es zu grotesken Szenen. Den Angeklagten fallen die Augen zu. Englische und amerikanische Richter vermerken in ihren Aufzeichnungen, wie zufrieden die Angeklagten in diesem Prozess schlummern. Auch die Sekretäre des Gerichts werden vom Schlaf überwältigt. Einmal müssen die Richter sogar die Verhandlung unterbrechen: Ein französischer Tribunalgehilfe hat nahe dem Richtertisch so laut geschnarcht, dass die Verhandlung gestört wurde.

Spannend sind vor allem die Verhöre der Angeklagten und der Zeitzeugen. Neun Monate lang dauern die Verhandlungen – dann ziehen sich die Richter zur Urteilsfindung zurück.