Der verachtete Sozialstaat

Von Thomas Meyer · 08.02.2010
In deutschen Feuilletons wird plötzlich wieder gefragt, ob unser Sozialstaat denn überhaupt zum Status freier Bürger passt und ob er wohl noch zu rechtfertigen sei. Man will ihm an die Wurzeln. Debattiert wird, als hätte er keine Geschichte.
Aus New York, in einem Land, das mühsam um eine erste Krankenversicherung für seine Bürger ringt, erreicht uns derweil ein ganz anderer Ton. Tony Judt, renommierter Historiker, zieht aus der Geschichte Europas warnend eine Lehre. Sie kommt auch für uns im richtigen Augenblick.

Er resümiert sie in dem überraschenden Begriff "a social democracy of fear", eine soziale Demokratie aus Furcht. Damit wendet er den Zentralgedanken aus der Zukunftsethik des Philosophen Hans Jonas ins Sozialpolitische. Wenn wir schon nicht, so lautete ja Jonas' Imperativ, aus Verantwortung und Gerechtigkeitssinn schonend mit den Natur-Ressourcen umgehen wollen, dann sollen wir wenigstens die Überlebensklugheit aufbringen, uns vorzustellen, was passiert, wenn wir das Notwendige unterlassen. So, empfiehlt Tony Judt, sollten wir es auch mit dem Sozialstaat halten. Der Schock, den das auslöst, mag uns dann zur Besinnung bringen, solange wir noch können. Ein Rat, der an der Zeit ist -fürwahr.

In Europa, wir beginnen es zu vergessen, entsprang der Sozialstaat ja allem anderen als einer Spenderlaune der Begüterten und Guten. Er war, im Gegenteil, ein knochenharter Interessenkompromiss zwischen den wirtschaftlich Starken und den Schwachen. Hierzulande war es Bismarck, der die erstarkende Arbeiterbewegung mit dem Staat versöhnen wollte - und musste. Sie sollte nicht länger glauben, nur jenseits dieses Staates sei ihr eigenes Heil zu finden. So oder so ähnlich war es früher oder später überall in Europa. Auf diesem historischen Kompromiss beruhen allerorten die realen Landesverfassungen: rechtstaatliche Demokratie plus kapitalistische Marktwirtschaft plus grundrechtsgestützter Sozialstaat. Wer an der sozialen Säule rüttelt, erschüttert das ganze Gebäude.

Welches Interesse, so die Zuspitzung des Staatsrechtlers Hermann Hellers angesichts der krisengebeutelten Republik von Weimar, sollten die sozial Schwachen eigentlich daran haben, gute Bürger eines Staates zu sein, wenn der sich um ihre Lebensinteressen nicht kümmert? Nur der soziale Rechtsstaat kann die Zustimmung aller einfordern –und auch erwarten. Diese Lehre, das war das Dilemma der deutschen Geschichte, hat dann erst das Grundgesetz der Bundesrepublik gezogen. Ins Mark schneidet der Republik, wer am sozialen Fundament der Demokratie, womöglich für ein bisschen Feuilleton-Klamauk, nun leichtsinnig rüttelt.

Der innere Friede in Europa basiert auf diesem historischen Kompromiss. Der Sozialstaat ist eine der großen europäischen Kulturleistungen.

Aber nicht nur das. Er ist heute ein Rechtsanspruch aller Bürger, nicht bloße Gelegenheit zu Almosen für die Begüterten unter ihnen je nach Lust und Laune. Er ist, das hat sich erwiesen, die Bedingung für die Freiheit aller. Auf ihm beruht die Legitimation der modernen Demokratie.

Denn ohne die Gewährleistungen ihrer positiven Voraussetzungen- Bildung, Freiheit von Not, sozialer Schutz, Arbeit und Einkommen- bliebe Freiheit für allzu viele ihrer Bürger ein leeres Versprechen, ein bloßes Privileg der Starken. Darum haben die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen von 1966 auch den sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten universelle Geltung verliehen, so wie der Freiheit selbst. Das haben die postmodernen Zündler an den Fundamenten des Sozialstaats vergessen. Unsere Gesellschaften aber dürfen es nicht vergessen, solange wir halbwegs bei Trost sind.

Thomas Meyer, Politikwissenschaftler, Universitäts-Professor (em.) für Politikwissenschaft Uni Dortmund, Mitherausgeber und Chefredakteur der "Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte". Zahlreiche Bücher über Medien, soziale Demokratie und politische Kultur.
Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer
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