"Der Sonnenwächter"

Die Wiederentdeckung von Charles Haldemann

Ein Buch fächerartig aufgeschlagen
In Deutschland wäre das Buch Mitte der Sechzigerjahre eine Provokation gewesen. © imago/Mint Images
Von Helmut Böttiger · 19.05.2015
Erst nach 50 Jahren erscheint "Der Sonnenwächter" auf Deutsch. Der Roman handelt in verschlüsselter Form von Rainer Maria Gerhardt, einem mittlerweile mythenumrankten Dichter, der sich 1954 das Leben genommen hatte.
Dieser Roman erscheint erst nach 50 Jahren auch auf Deutsch, und das ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Nach seiner Erstveröffentlichung 1963 hatte er international, vor allem auch in den meisten europäischen Ländern, großen Erfolg – nur in Deutschland bekam er keine Lizenz.
Außerdem handelt er unter anderem in verschlüsselter Form von Rainer Maria Gerhardt, einem mittlerweile mythenumrankten jungen deutschen Dichter, der sich 1954 im Alter von 27 Jahren das Leben genommen hatte.
Das Buch besteht aus zwei großen Teilen, dem "linken" und dem "rechten Paneel", verbunden durch einige "Scharniere" in der Mitte. Es ist also ein "Diptychon", wie es im Untertitel heißt, eine Art zusammenklappbarer Schreibtafel, wobei es einen charakteristischen Palimpsest-Effekt geben kann: auf einer Schiefertafel, die mit Kreide beschriftet wird, kann man oft noch den zuvor geschriebenen Text erkennen.
Im Mittelpunkt steht der junge Dichter Stefan Brückmann. Der erste Teil besteht aus Tagebucheinträgen, in denen er Stationen seines Lebens schildert, der zweite Teil zeigt die Hintergründe: Stefan Brückmann hat im Paris der Fünfzigerjahre eine leere Schreibkladde geschenkt bekommen, die als Aufforderung gedacht war, biografische Zusammenhänge zu erschließen, die Stefan bisher verborgen geblieben waren.
Sein Leben ist voller Traumata: geboren 1929 als Sohn einer Berlinerin und eines Roma-Vaters wächst er unter Roma-Angehörigen auf, die durch Europa ziehen. Dem Tod in KZ entgeht er nur durch Zufall, und er lernt im Krankenhaus einen Amerikaner kennen, der Stefan als "displaced person" in die USA adoptiert. Nach etlichen Wirren kehrt er schließlich nach Europa zurück, wo sein poetisches Talent entdeckt wird.
Das Buch passte während der Entstehungszeit in kein Schema
Im zweiten Teil wird das aktuelle Leben Stefans in Paris und dann vor allem in Heidelberg geschildert. Dort wird die intellektuelle und künstlerische Szenerie lebendig, aber auch die Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit sind unübersehbar.
Stefan erobert sich hier sein Leben zurück - das Schlussbild konfrontiert ihn mit seiner Roma-Identität. Die Heidelberg-Passagen sind darüber hinaus geprägt von den Erfahrungen, die der Autor des Romans, Charles Haldeman, dort Mitte der Fünfzigerjahre gemacht hat: als deutschstämmiger Amerikaner hat er dort studiert und Renate Gerhardt, die Witwe des Dichters Rainer Maria Gerhardt, kennengelernt.
Dieser Dichter hatte früh die amerikanische Avantgarde entdeckt und sie kurz nach 1950 in Deutschland bekanntzumachen versucht – ein exzentrischer, literaturbesessener Kopf, der schließlich am Misserfolg und an seiner finanziellen Situation verzweifelte. Diese Erfahrungen und die Freundschaft mit Renate Gerhardt gingen unverkennbar in den Roman ein.
Das Buch passte in seiner Entstehungszeit in kein Schema, spielte es doch mit den zeitgenössischen Formen des Fragments, der offenen Fragen. In Deutschland wäre es Mitte der Sechzigerjahre nicht nur formal, sondern auch inhaltlich eine Provokation gewesen.
Jetzt ist es eine Wiederentdeckung. Den heute weitgehend vergessenen Autor Charles Haldeman zog es 1957 nach Griechenland, wo er als Amerikanischlehrer lebte, mehrere unveröffentlichte Bücher verfasste und früh, im Alter von 51 Jahren, 1983 starb.

Charles Haldeman: Der Sonnenwächter Metrolit Verlag Berlin, 335 Seiten, 25 Euro