Der Rhythmus deines Volkes

Von Camilla Hildebrandt · 12.11.2013
Der Roman "City of God" und dessen Verfilmung machten Paulo Lins weltberühmt. Erst jetzt, 15 Jahre später, ist sein zweites Buch "Seit der Samba Samba ist" erschienen. Wieder ist das Leben der Unterschicht in Brasilien sein Thema: Es geht um Rassismus, Intoleranz und Ausbeutung.
"Haben wir noch Zeit für einen Cafezinho?", fragt Paulo Lins keck und hat schon eine Zigarette dazu in der Hand. - "Natürlich."

Er ist sichtlich müde. Interviews, Lesungen... Berühmt sein ist anstrengend. Aber Kraft für ein paar verschmitzte Kommentare hat er allemal, und wenn er einmal ins Reden kommt, merkt man schnell, dass er aus Überzeugung schreibt, diskutiert und Vorträge hält.

Die Entstehung des Samba im Rio der 20er-Jahre steht im Mittelpunkt seines neuen Romans "Seit der Samba Samba ist". Aber eigentlich ist es eine Beschreibung der brasilianischen Gesellschaft, geprägt durch Rassismus und Intoleranz.

Die Weißen herrschen, die Schwarzen und Indios versuchen, ihre Kultur zu bewahren. Der Samba war eine Hilfe, um zu überleben.

"Es geht um die Stärkung eines Volkes. Wenn du ein Volk dominieren willst, dann musst du seine Kultur zerstören. Den Franzosen ist das nahezu gelungen in der Karibik, die Argentinier haben so gut wie alle Indios getötet, in Brasilien wurden tausende Indios umgebracht, und das Töten geht weiter."

Die brutale Schere zwischen Arm und Reich, Weiß und Schwarz ‒ ein Thema, das Paulo Lins seit seiner Kindheit beschäftigt. Lins ist schwarz, seine Vorfahren Afrikaner, Sklaven, die sich auf den Plantagen der Kolonialherren zu Tode geschuftet haben:

"Es ist ein Buch über die Eingliederung der Schwarzen in die Gesellschaft nach dem Ende der Sklaverei. Damals war die afro-brasilianische Religion Umbanda entstanden und der Samba. Beides zusammen bewirkte, dass die Schwarzen langsam an Macht gewannen."

"Mein Samba ist Partei und Liebe, er erzählt wie Brasilien ist, er bittet um Respekt und Wertschätzung, aber wo sind sie?"

Lins, 1958 in Rio geboren, ist in einer Favela aufgewachsen, der berüchtigten Cidade de Deus, Stadt Gottes, ehemals ein Sozialprojekt, das zur gefährlichsten Favela wurde:

"Als Kind bemerkt man den Rassismus noch nicht, erst wenn man größer wird. Und das Schlimmste ‒ das hat meine Mutter sehr traurig gemacht ‒ war, als sie merkte, dass ich im eigenen Land wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt wurde. Das ist ein großer Schmerz für die Kinder, und dann beginnt die Revolte. Dann beginnen sie zu überfallen, zu morden, zu schlagen. Niemand lebt in Brasilien ruhig, alle Klassen leiden sehr durch die Ungleichheit."

Lins beschrieb in seinem ersten Roman "City of God" seine eigene Kindheit:

"Nur wenigen gelingt es wie mir zu studieren, denn du musst schon früh anfangen zu arbeiten, um die Familie zu unterstützen. Eine arme Familie kann ihre Kinder nicht auf die Uni oder in die Schule schicken. Die normalen Schulen vermitteln keine gute Bildung. Die Klassenunterschiede werden so immer größer.

In Brasilien ist jeder in seiner sozialen Schicht gefangen, Arme mit Armen, Reiche mit Reichen, Weiße mit Weißen und Schwarze mit Schwarzen, es gibt keine Vermischung, auch wenn man den Eindruck hat. Arme und Reiche treffen nur bei der Arbeit zusammen, die Armen sind meist die Hausangestellten der Weißen."

"Samba Sambei, der Kampf ist noch nicht vorbei…"

Paulo Lins hat es geschafft, hat brasilianische und portugiesische Literatur studiert, auch wenn in jedem Artikel auftaucht, es sei Soziologie und Anthropologie gewesen. Das war nur ein Aufbaustudium, meint er grinsend.

Jahrelang hat er für sein erstes Buch recherchiert, sich keineswegs nur auf eigene Erfahrungen gestützt. Und als es 1997 rauskam, rechnete er vielleicht mit ein paar tausend Exemplaren. Der gigantische Erfolg hat ihn überfordert. Hat es deswegen so lange gedauert mit dem zweiten Buch?

"Ich hatte Angst, auf der ganzen Welt bekannt zu sein, das hat mich erschreckt , überall gibt es Leute, die mich interviewen wollen. Aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt, man ist auch irgendwie beschützter."

Aber das ist nur ein Grund. Paulo Lins, heute 55, ist Vater geworden, hat Sozialprojekte aufgebaut, sich dafür eingesetzt, dass die Protagonisten der Buchverfilmung, alle Bewohner der Favela, weiterhin beschäftigt wurden. Und er hat die Geschichte des Samba studiert. Da können schon mal 15 Jahre ins Land gehen.

"Samba war damals wie die Geschichten der Großeltern zu hören, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verbinden, den Rhythmus deines Volkes zu finden, ein Volk, das weit von seiner Heimat entfernt war. Es war das Wiederfinden einer Kultur und der Religion Umbanda."

Mit seiner Familie lebt er heute nach wie vor in Rio, in einem der schöneren Viertel. Seit "Cidade de Deus" und dem Medienrummel soll sich viel verändert haben für die Bewohner der Favelas, kann man immer wieder lesen. Paul Lins sieht das anders:

"Die Grundversorgung, um eine Gesellschaft zu verändern, wurde nicht geschaffen. Der größte Fehler der Menschwerdung ist es, sehr reiche Leute hervorzubringen."