Der Maler, der Maria tötete

22.04.2010
Ernesto Sábato, Jahrgang 1911, ist eine eigenwillige Figur der argentinischen Kulturszene. Er war Atomphysiker und beendete seine Karriere zu Gunsten der Kunst. Mitte der Siebziger speiste er - ein ehemaliger Kommunist - mit dem Chef der Militärdiktatur; Jahre später leitete er jene Kommission, die nach den Opfern der Diktatur forschte.
Gleichermaßen eigenwillig ist Sábatos Rolle in der Literatur. Er schrieb nur drei Romane, den letzten 1974. Zehn Jahre später bekam er den "Premio Cervantes", und bis heute wird der längst verstummte Erzähler als einer der ganz Großen verehrt.

Um sein Frühwerk "Der Tunnel" von 1948 ranken sich Mythen. Alle Verlage in Buenos Aires sollen das Manuskript abgelehnt haben; Sábato publizierte es in einer Zeitschrift. Albert Camus bewunderte "Nüchternheit und Intensität dieses Romans" und empfahl eine rasche Übersetzung. Der Ruhm im Ausland öffnete dem Autor auch daheim die Türen.

"Der Tunnel" ist ein kleines Buch, nicht einmal 160 Seiten stark, formal und ästhetisch makellos. Der fiktive Lebensbericht eines Egozentrikers, verfasst in einer geschlossenen Anstalt. Gleich mit dem ersten Satz schockiert die Ich-Figur: "Es genügt, wenn ich sage, dass ich Juan Pablo Castel bin, der Maler, der Maria Iribarne getötet hat." Mit Lust am quälenden Detail schildert Castel den Mord und die Vorgeschichte. Wie er diese Maria eines Tages in einer Ausstellung seiner Bilder entdeckte. Wie er dort den Eindruck gewann, sie sei das einzige Wesen, das ihn, den introvertierten Künstler, verstand. Wie er die Seelenverwandte im Stadtmoloch endlich wiederfand, und wie ihr Verhältnis begann, obwohl sie verheiratet war. Die Beziehung stand unter keinem guten Stern: Rasend vor Eifersucht wollte er um jeden Preis ihre "Untreue" beweisen. Sprach sie nicht allzu freundlich mit anderen Männern? Im Haus eines Verwandten drang er in ihr Zimmer. "'Ich muss dich töten, Maria. Du hast mich allein gelassen.' Weinend stieß ich ihr das Messer in die Brust."

Das Buch erlaubt verschiedene Interpretationen. Man kann es als Krimi lesen, als Fallbeispiel einer Psychose, als Verbeugung vor Kafkas Parabel "Im Tunnel". Oder als Hommage an zwei Geistesströmungen, die in den Vierzigern hoch im Kurs standen: Psychoanalyse und Existenzialismus. Freuds Lehre wird mehrfach genannt; Maria erwähnt einen Roman von Jean-Paul Sartre, und Juan Pablo Castel trägt - in hispanisierter Variante - sogar denselben Vornamen wie der Philosoph.

Der Leser fühlt sich gepackt, in den Text gezogen - nicht wegen der Darstellung des Verbrechens, sondern weil der Erzähler ihn vereinnahmt, dieser arrogante, einsame und depressive Maler. Nur aus seinem Blickwinkel sehen wir die Welt. Der Mann ist unfähig zur Kommunikation, er macht eine unheilvolle Reise (und der Leser muss mit): Immer stärker werden Wahn und Realitätsverlust, immer ausgeprägter der Tunnelblick. Am Ende ist alles schwarz.

Das Buch wurde bereits zweimal ins Deutsche übersetzt, 1958 und 1976, ein Klassiker der lateinamerikanischen Literatur; in neuer Übertragung liegt er nun endlich wieder vor.


Besprochen von Uwe Stolzmann

Ernesto Sabato: Der Tunnel. Roman.
Aus dem argentinischen Spanisch von Helga Castellanos. Wagenbach Verlag, Berlin 2010. 153 Seiten. 9,90 Euro.