Der Kommunismus starb, bevor die Mauer fiel

Von Rolf Hosfeld · 10.10.2012
Die DDR war auf Sand gebaut - das erkannten selbst viele Anhänger dieses Staates. Stets gab es in der SED Kritik und Widerspruch gegen die Parteiführung. Eine Geschichte des innerkommunistischen Zweifels würde überraschende Einsichten zu Tage fördern, meint der Publizist Rolf Hosfeld.
Am Abend des 9. November 1989 kam die Mauer plötzlich abhanden, und man möchte fast mit Erich Kästner hinzufügen: "wie anderen Leuten Stock oder Hut". Jeder erinnert sich des stotternden Fernsehauftritts von Günter Schabowski. Unversehens war die Welt anders geworden. Es war ein Aufgeben.

Es gab nur wenige Kriege in der Geschichte, bemerkte der tschechisch-britische Philosoph Ernest Gellner einmal, deren Ausgang so eindeutig war wie der des Kalten Krieges. Er fügte hinzu: "Gute Schachspieler beleidigen ihre Gegner nicht dadurch, dass sie in aussichtsloser Lage weiterspielen."
Endzeitstimmung herrscht an diesem Abend im Zentralkomitee der SED, das von den Ereignissen vor seiner Haustür so gut wie nichts mitbekam. Man redete sich die Köpfe heiß über verfälschte Planzahlen, während draußen die Geschichte mit fast leisen Sohlen ihren Gang ging. Der 9. November 1989 war wirklich eine erstaunliche Angelegenheit.

Oder auch nicht. Ohne den wachsenden Zweifel der 2,3 Millionen organisierten Kommunisten in der DDR jedenfalls wäre die friedliche Revolution des Herbstes 1989 anders verlaufen. Kurz vor dem Ende musste Stasi-Chef Erich Mielke in einer Expertise feststellen, zahlreiche Parteimitglieder unterschieden sich in ihren Auffassungen kaum noch von Parteilosen. Der Kommunismus starb auch in den Köpfen der Kommunisten, längst bevor die Mauer fiel.

In Wirklichkeit aber war die ganze Geschichte der SED immer von Kritik und Widerspruch gegen die Parteiführung begleitet. Wie weit die zum Teil erheblichen Zweifel an der eigenen Sendung tragen konnten, davon zeugt vielleicht am eindringlichsten ein Gedicht des ZK-Mitglieds Johannes R. Becher aus dem Gründungsjahr 1949.

Es spricht vom Turm von Babel, dem Bruderkampf zwischen Kain und Abel und endet mit den Zeilen: "Es wird der Turm zu Babel/ Im Sturz zu nichts zerfallen". Becher war alles andere als ein Einzelfall, und eine Geschichte des innerkommunistischen Zweifels würde vermutlich überraschende Einsichten zu Tage fördern.

Zum Beispiel Peter Hacks. Er war einer der formvollendetsten Lyriker, die Deutschland je hervorgebracht hat. Politisch gesehen war er ein ausgesprochener Exzentriker. Als überzeugter Kommunist verließ er 1955 München und siedelte in die DDR über.

1983 schrieb er ein Gedicht über Erich Honecker: "Kein Begriff erhelle deine Welten/ Keine Gutschrift soll, kein Eid soll gelten/ Und berichtet sein in ungelesnen/ Zeitungen von Dingen, nie gewesnen ( ... )/ Rost wird ganze Industrieanlagen,/ Weil ein Zahnrad mangelt, niedernagen." Hacks war ein unbelehrbarer Verehrer Walter Ulbrichts, aber er wusste genau, dass der Staat seines Nachfolgers auf Sand gebaut war.

Doch selbst Ulbricht hatte seine Zweifel, obwohl er sie nie zugab. Nach dem Mauerbau begann er gegen den großen Bruder in Moskau zu rebellieren. Das einzige aber, was ihm als Kommunisten angesichts des immer offensichtlicher werdenden Rückstands gegenüber dem Westen einfiel, waren Konzessionen an die kapitalistische Marktwirtschaft und am Ende der Traum einer Konföderation mit der Bundesrepublik. Es war eine Seifenblase, die im Ernstfall zu einem frühen Ende der DDR geführt hätte.

Glaubte die Führungsschicht an die Zukunft ihres Staates? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Angesichts des Zwangs zur Einmauerung, des sich krakenhaft ausweitenden Überwachungsstaats und des wachsenden Misstrauens gegenüber der eigenen Bevölkerung, angesichts einer fortwährenden Verschuldung und des bewusst in Kauf genommenen Zerfalls der Städte können Zweifel berechtigt sein. Die Niederlage, das wurde zuletzt unübersehbar, war in der Sache des Sozialismus selbst begründet, und deshalb kam auch die Mauer so plötzlich abhanden. Wie anderen Leuten Stock oder Hut.

Rolf Hosfeld, Publizist, Autor, Lektor und Filmemacher, geboren 1948 in Berleburg (NRW), studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Hosfeld lebt als freier Autor und Filmemacher auf dem Land bei Potsdam. Jüngste Buchveröffentlichungen: ‚Was war die DDR? Geschichte eines anderen Deutschlands’ und ‚Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografie’.

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